27.
Kapitel
Harry gähnte, dann nickte er Ron zu. Er
wollte den Gemeinschaftsraum der Gryffindors verlassen und endlich
schlafen gehen. Sein Freund winkte ihm zu, er würde ihm gleich
folgen. Die Schule hatte im neuen Jahr wieder begonnen, sie hatten
mehr Hausaufgaben auf als jemals zuvor, sogar Hermine hatte
gemutmaßt, die erste Hälfte des Unterrichtsstoffes wäre
wohl auf die Schuljahre eins bis sechs und die zweite Hälfte auf
das siebte verteilt worden. Aber wahrscheinlich war sie nur entnervt,
weil sie nun keinen Zeitumkehrer mehr besaß und wie jeder
gewöhnliche Zauberer ihr Tagespensum in 24 Stunden erledigen
musste. Er blickte zu dem Mädchen. Sie klappte gerade ihre
Bücher zu und rollte ein beschriftetes Pergament ordentlich
zusammen. Sie konnte kaum noch ihre Augen offen halten. Hermine würde
sich in Kürze ebenfalls zur Nachtruhe begeben. Er gähnte
wieder und vergaß, sich die Hand vor den Mund zu halten, dann
ließ er seinen Blick weiter wandern und blieb an Ginny hängen.
Sie unterhielt sich angeregt mit Neville Longbottom. Er spürte
einen Stich in seiner Brust. Er rührte sich nicht, schließlich
hatte er ihr gesagt, dass er keine Beziehung zu ihr mehr wünschte.
Sie hatte das Recht, sich nach einem neuen Freund umzuschauen.
Dennoch bemühte er sich, dem Gespräch zu folgen.
"Die Party war einfach große Klasse, es war eine geniale Idee von Fred und George, McGonagall zu sagen, alle Gruppen wären annähernd gleich gut und hätten eigentlich alle den Preis verdient."
"Klar, Neville, die Zwillinge waren schon immer geschäftstüchtig, sie schlagen den größten Gewinn raus. McGonagall ist ihnen wohl auf den Leim gegangen."
"Na ja, es war immerhin die erste Mal, dass ich mit einigen Slytherins gesprochen habe, ich meine wirklich geredet, nicht bedroht oder verspottet. Wenn wir nicht in der großen Halle gefeiert hätten und nicht jedes Haus die anderen zu seinen Lieblingsgerichten hätte einladen müssen, wäre nicht wirklich viel passiert, oder? Ich wage es mal die Behauptung aufzustellen, dass unsere Minerva die Idee nur zu gerne unterstützt hat, denn das ist es doch, was sie will, oder? Sie belehrt uns doch dauernd, dass wir alle zusammenhalten müssen."
Harry konnte nicht sagen, ob Neville mehr von seiner Rede oder von Ginnys Anblick begeistert war, doch dessen Augen glänzten, als er das Mädchen anschaute. Ginny schien ihn anzulächeln. Vielleicht bewunderte sie Nevilles Geistesblitze. Harry wandte sich wieder ab. Wann war Ron endlich soweit? Er wollte nun gehen. Das Feuer im Kamin mit seinen warmen goldroten Flammen ergänzte das silberne Geschimmer, das durch die Fenster drang, zu einem bunten Lichtermeer. Da öffnete sich die Tür zum Turm trotz der späten Nachtstunde noch einmal. Tonks kam herein, was in letzter Zeit keine Seltenheit war, grüßte kurz und blickte sich suchend um. Ihre und Harrys Augen trafen sich, dann schritt sie auf ihn zu. Sie setzte sich zu ihm und sagte leise:
"Harry, ich bitte dich, komme mit Hermine und Ron möglichst bald zu meinem Büro. Es ist wichtig. Ihr habt die Erlaubnis der Schulleiterin, heute Nacht eure Räume zu verlassen." Sie lächelte ihm zu, dann wurde ihr Miene wieder ernst. „Bitte macht es unauffällig. Bis gleich."
Die Lehrerin beantwortete noch einige Fragen ihrer Schüler, dann verabschiedete sie sich und verließ das Turmzimmer. Hermine und Ron sahen Harry fragend an. Er bejahte stumm und verdrehte seine Augen. Seine Freunde wussten nun, dass dieser Tag für sie noch nicht zu Ende war. Hermine seufzte, Ron schien sich eher über die Abwechslung zu freuen. Dann wünschte Harry allen anderen eine gute Nacht und begab sich in den Schlafsaal. Ron folgte ihm wie nun auch fast alle anderen Gryffindors. Sobald Stille eingekehrt war, schlichen sich die Jungen in den Gemeinschaftsraum zurück, wo sie schon von Hermine erwartet wurden. Die drei Freunde gingen unverzüglich zu Tonks Büro. Sie wurden sofort eingelassen.
"Ich freue mich, euch hier zu sehen. Setzt euch."
Tonks wirkte ungewöhnlich formal, fand Harry, und auch ein wenig aufgeregt. Sie nahmen auf ein paar grünen Stühlen Platz, die gegenüber von Tonks Schreibtisch standen. Was würde nun geschehen? Dann allerdings stand die junge Lehrerin auf, umrundete den Tisch und setzte sich mit Schwung auf die Schreibtischplatte.
"Ich habe die Ehre, euch die Frage zu stellen, auf die ihr vermutlich während der letzten beiden Jahre gewartet habt. Also, ich bin von Minerva McGonagall offiziell beauftragt worden, euch anzubieten, Mitglieder im Orden des Phönix zu werden. Ihr seid beobachtet, für würdig befunden und vorgeschlagen worden", sie lächelte verlegen, „übrigens von mir. Aber der Vorschlag wurde nahezu einstimmig angenommen. Wenn ihr es wollt, dann begleitet mich zur Versammlung aller Ordensmitglieder, die zur Stunde an einem geheimen Ort hier in Hogwarts stattfindet, wo ihr feierlich aufgenommen werdet."
Ron schnappte nach Luft, Hermine schien zu überlegen und Harry dachte, dass Tonks völlig Recht hatte, wenn sie sagte, dass die Entscheidung seit zwei Jahren überfällig war. Schließlich hatte kaum ein Ordensmitglied so viel zur Bekämpfung Lord Voldemorts beigetragen wie sie.
"Ich bin dabei."
Ron und Hermine blickten sich kurz an, dann nickten sie.
"Ich auch."
„Klar, ich auch."
"Dann folgt mir bitte."
Die Lehrerin führte sie auf dem schnellsten Weg in einen großen Raum, den Harry bereits kannte. Hier hatte für kurze Zeit der Spiegel Nerhegeb gestanden, bis Dumbledore ihn damals wohl wegen Harry wieder entfernt hatte. Der ehemalige Direktor hatte befürchtet, dass der Junge sich in Erinnerungen an seine Eltern und in unerfüllbaren Sehnsüchten verlor. Jetzt saßen viele Zauberer hier, teils auf kleinen Kissen, teils auf niedrigen Hockern in mehreren Reihen im Kreis. Nun blickten sie alle auf die Neuankömmlinge, die in die Mitte der Versammlung geleitet wurden. Harry erkannte Hagrid, Mr. und Mrs. Weasley, Bill und Charlie Weasley, Remus Lupin, Dädalus Diggel, Sturgis Podmore, Hestia Jones, Mad-Eye Moody, Arabella Figg und viele andere mehr und, er traute seinen Augen kaum, George und Fred mit Angelina Johnson. Tonks setzte sich auf ihren Platz neben Lupin. Die Schulleiterin ergriff das Wort.
"Willkommen, meine jungen Freunde. Ich begrüße euch im Orden des Phönix. Ich freue mich, dass ihr eure Kraft für den Kampf gegen Lord Voldemort und seine Todesser einsetzen wollt."
Harrys Miene verdunkelte sich. Was sollte das heißen, wenn ihr gegen Lord Voldemort kämpfen wollt? Was denn bitte schön taten er, Hermine und Ron denn, seit sie an dieser Schule waren? Professor McGonagall fixierte Harry und schüttelte unmerklich ihren Kopf. Der Junge hielt seinen Mund und beschloss, ihr weiter zuzuhören, was ihn allerdings selbst verwunderte. Noch vor einem Jahr wäre er nicht so ohne weiteres in der Lage gewesen, seine Wut zu unterdrücken. Vielleicht hatte Dumbledore Recht gehabt, als er sagte, Harry beginne allmählich, seine Fähigkeiten zu beherrschen wie ein erwachsener Zauberer. Er starrte die Direktorin an, die ihre Rede fortsetzte."Ich bitte euch, einzeln zu mir zu kommen und mir stellvertretend für den ganzen Orden des Phönix die Treue zu versprechen. Zum Zeichen unserer Verbundenheit bitte ich euch weiterhin, mir dazu eure rechte Hand zu reichen. Mr. Harry Potter!"
Harry ging mit langsamen Schritten auf die Direktorin zu. Die feierliche Atmosphäre strahlte ihren Ernst nun auch auf den jungen Mann aus, der ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend verspürte. Seine Knie wurden weich. Er blieb vor Minerva McGonagall stehen und streckte ihr seine rechte Hand entgegen. Sie ergriff sie mit ihrer eigenen und blickte ihm in die Augen.
"Harry Potter, wollen Sie dem Orden des Phönix beitreten und Ihre Fähigkeiten, Ihre Kraft und wenn es sein muss Ihr Leben für unsere Freiheit und den Kampf gegen Lord Voldemort einsetzen?"
"Ja, das will ich."
"Wollen Sie die Anweisungen des gewählten Anführers, wenn sie einmal beschlossen und gegeben sind, zum Schutz für uns alle befolgen und ausführen? Ich darf hier hinzufügen, dass wichtige Entscheidungen grundsätzlich gemeinsam erörtert und getroffen werden. Dennoch ist es nötig, dass eine Einzelperson, und im Moment bin ich das, im Zweifelsfall Befehlsgewalt hat, sonst verlieren wir unsere Schlagkraft."
"Ja, auch das will ich tun."
Die Schulleiterin schüttelte herzlich seine Hand.
"Ich brauche nicht mehr zu sagen. Sie wissen schon lange, was wir tun und wie wir arbeiten. Ich freue mich, dass Sie nun bei uns sind, Harry, und ich erwarte gute Zusammenarbeit. Ich weiß, dass wir uns aufeinander verlassen können."
Sie wies dem jungen Mann einen Sitz in der Runde zu, den er unter allgemeinem Applaus einnahm. Kurze Zeit später saßen auch Ron und Hermine neben ihm. Sie blickten sich schweigend an während die Anführerin des Ordens wieder auf ihren Platz zurückkehrte. Irgendwie fühlte Harry sich nun wirklich erwachsen. Jetzt würde er erfahren, wie der Widerstand gegen Lord Voldemort geplant und ausgeführt wurde, und er würde seinen Teil dazu beitragen können. Er war nicht mehr auf versteckte Hinweise und die Langziehohren der Zwillinge angewiesen. Aufmerksam hörte er Minerva McGonagall zu. Seine Müdigkeit war verflogen.
"Nachdem wir nun unsere neuen Mitglieder begrüßt haben, lasst uns mit unserer eigentlichen Arbeit beginnen. Ich gebe einen kurzen Lagebericht. Erfreulicherweise erweist sich unser Schutznetz nach wie vor als stabil. Wir sind noch sicher in Hogwarts. Auch die aufkeimende Unzufriedenheit hier im Schloss hat sich dank der Ferienakademie und des nun wieder stattfindenden Unterrichts wieder gelegt. Aber wir sollten diese Gefahr nicht unterschätzen. Die Ruhe ist nur oberflächlich. Auf Dauer können wir hier nicht so leben, wenn wir uns nicht unser eigenes Askaban erschaffen wollen. Und das werden wir auch nicht. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Lord Voldemort die Geduld verliert und erneut versucht, in Hogwarts einzubrechen. Ich plädiere dafür, dass wir uns darauf vorbereiten, und statt ihn weiterhin auszusperren, ihn und seine Todesser gebührend empfangen. Wenn wir die Bedingungen des Kampfes bestimmen wollen, müssen wir hier angreifen."
Verhaltener Applaus ertönte ebenso wie Gemurmel und Getuschel in den Reihen. Die Stimme der Direktorin wurde lauter.
"Ich schlage vor, dass wir uns eine halbe Stunde Zeit nehmen und verschiedene Möglichkeiten untereinander besprechen. Dann können wir anschließend die beste Variante gemeinsam auswählen. Die Versammlung wird um 2.00 Uhr fortgesetzt."
Die Zauberer erhoben sich und begannen, in kleinen Gruppen miteinander zu reden. Professor McGonagall winkte Harry, Ron und Hermine, die nun wieder komplett wach waren, zu sich heran. Sie sprach so leise, dass die Köpfe der drei sich fast berührten, damit sie ihre Worte verstehen konnten.
"Ich habe einen Spezialauftrag für euch. Geht bitte ohne Umwege in mein Büro", sie lächelte kaum erkennbar, „ihr werdet dort schon erwartet."
Harry konnte sich gut vorstellen, wer sie im Büro der Schulleiterin erwartete. Zusammen mit Ron und Hermine, die sich unauffällig an den Händen hielten, ging er den gut bekannten Weg durch die dunklen Gänge des Schlosses hin zum Wasserspeier, der ihnen die Treppe zum Büro freigab. Er war sich sicher, dass ihn diese neue Aufgabe endgültig an das Ende Lord Voldemorts heranführen würde.
