29. Kapitel

Der Junge versuchte, sich umzudrehen. Es fiel ihm schwer, denn er hatte das Gefühl, dass seine Beine fest zusammen gebunden waren. Er strampelte sich frei und zog sich seine Bettdecke anschließend wieder über den Kopf. Durch die zugezogenen Vorhänge flackerte heller silberner Lichtschein. Ihm war heiß, und er schob die Decke ganz weg. Aber die kalte Nachtluft brachte ihm keine Erleichterung. Er selbst schien diese Hitze auszuströmen. Er warf sich auf die andere Seite. Nun spürte er das Brennen unter seiner Schlafanzugtasche. Schlagartig war er wach und setzte sich im Bett auf. Er fühlte sich erschöpft. Bisher schon hatte Harry kaum geschlafen und wie fast jede Nacht seit einer knappen Woche in seinen Träumen nur mit Schlangen gesprochen. Auch in dieser Nacht würde er sich nicht besser erholen können. Er zog die Sammelkarte aus seiner Hosentasche. Sie glühte. Es war so weit. Harry blickte aus dem Fenster, es musste früher Morgen sein. Nahezu lautlos zog er sich an, ergriff seinen Zauberstab und schlich zu Rons Bett. Vorsichtig schob er die Vorhänge zur Seite und fand seinen tief schlafenden Freund vor. Er schüttelte ihn und legte ihm sofort die Hand auf den Mund. Ron erwachte, sah Harry, und tastete ebenfalls nach seiner Karte. Seine Hand zuckte zurück. Hermine hatte gut gearbeitet, auch sein Bild von Dumbledore brannte fast. Er nickte Harry zu, zog sich eilig an und gemeinsam gingen sie auf Zehenspitzen in den Gemeinschaftsraum hinunter. Hermine war ebenfalls bereits vollständig ausgerüstet und erwartete sie. Sie blickten sich gegenseitig an, das Mädchen streckte seine rechte Hand aus, Ron ergriff sie und Harry umschloss ihre beiden Hände mit seiner eigenen. Sie waren bereit.

Leise liefen sie durch die langen Gänge des Schlosses, bis sie zum Büro der Schulleiterin gelangten. Die Tür öffnete sich ihnen. Das Zimmer war dunkel, abgesehen von einem goldenen Schimmern, das vom Schreibtisch auszugehen schien. Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten mühelos einen rotgoldenen großen Vogel erkennen, der sie interessiert betrachtete. Dann beugte der Phönix seinen Kopf, und die drei Freunde umfassten gleichzeitig mit ihren Händen seine langen Schwanzfedern. Eine helle Stichflamme erstrahlte und das Büro war wieder so dunkel, wie es zur Nachtzeit sein sollte.

Eisige Kälte lag über dem Wasser, das trotz der tiefen Temperaturen nicht zugefroren war. Auf der glatten Oberfläche des Sees spiegelten sich die Sterne. Harry, Ron und Hermine suchten sich einen Unterschlupf zwischen den hohen Steinen am Ufer. Fawkes hatte sie zu ihrem Ziel gebracht und war nun nicht mehr zu sehen. Sie hatten ihre lange Reise kaum bemerkt und auch die Flammen des Phönixes weder gesehen noch gespürt. Aufmerksam beobachteten sie die Wasserfläche. Sie mussten nicht lange warten, bereits nach wenigen Minuten bildeten sich kleine Kreise in der Mitte des Sees, die zunehmend größer wurden. Bald erkannten sie den Kopf einer riesigen Seeschlange, kurze Zeit später ragte deren gewaltiger Körper in großen Bögen aus dem kalten Nass. Auf dem größten Schlangenhügel thronte eine schwarze Gestalt mit glühenden roten Augen, die, kaum war sie dem Wasser entstiegen, in einem Wirbel verschwand. Harry blickte seine Freunde an. Das also war der berühmte Kelpie, der von Muggeln so gefürchtet wurde und als Ungeheuer vom Loch Ness schaurigen Ruhm erlangt hatte. Nun verstand der Junge auch, warum dieses Monster die Form der Seeschlange annehmen musste. Es stand in den Diensten Lord Voldemorts. Hermine hatte bereits ihren Zauberstab gezückt. Wie in ihrem Schulbuch „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" beschrieben, zähmte sie das Tier, die drei apparierten auf dessen Rücken, sprachen den Kopfblasenzauber und verschwanden zusammen mit ihm in der Tiefe des Sees.

Auf dem Grund angekommen zog sich der Kelpie wieder in seine Höhle zurück. Auf dem Boden lagen viele Arten von Knochen verstreut, es mussten die Überreste der Mahlzeiten des Ungeheuers sein, verschiedenartigste Geschöpfe, die ihrer Neugier zum Opfer gefallen und in den Tod gezogen worden waren. Hermines Gesicht drückte Ekel aus, Ron bemerkte es, ergriff ihre Hand und gemeinsam folgten sie Harry, der zielstrebig den Eingang der tiefer liegenden Höhle des Schlangenlords ansteuerte. Die Behausung war mit einem großen Stein verschlossen. Harry konzentrierte sich auf seine Erinnerungen von Lord Voldemort wie er es schon einmal getan hatte, dann befahl er der Tür in Gedanken und in Parsel, sich zu öffnen. Der Felsen brach einen Spalt breit auf, und die drei schlüpften hindurch. Hinter ihnen versiegelte sich die Tür selbständig. Das Gewölbe, das sie nun betraten, war mit Luft gefüllt, und das eingedrungene Wasser lief durch kleine Kanäle ab. Sie befreiten ihre Köpfe aus den Blasen, nun konnten sie wieder atmen. Alle betrachteten sie den Unterschlupf des dunklen Herrschers. Nichts erinnerte hier an eine menschliche Behausung. Es gab keine Schlafstätte, kein Mobiliar, keine Bilder, keinen Schmuck. Düsteres grünes Licht strahlte ohne erkennbare Quelle aus den grauen Felswänden. Die einzige Ausstattung der Wohnung schien aus glitzernden Gegenständen zu bestehen, die in kleine Nischen im Gestein eingelassen waren und in intensiverem Grün erstrahlten als der restliche Raum. Fasziniert betrachteten sie diese Schätze, doch in ihren Gesichtern zeichnete sich Grauen ab. Sie erkannten zwei verschieden große Ringe, einen kleinen, reich verzierten Dolch, ein goldenes Medaillon mit einem eingravierten M in der Mitte und einen siebenarmigen Kerzenleuchter. Dies mussten weitere magische Gegenstände sein, die irgendwie Bedeutung für den Lord gewonnen hatten. Auf einer Seite der Höhle befand sich eine Vertiefung im Boden. Vermutlich schlief der Lord hier, wenn er überhaupt noch Schlaf benötigte. Gegenüber der Mulde stand eine große beschlagene Holzkiste. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Nun durften sie keine Zeit mehr verlieren. Harry war sehr froh darüber, dass Hermine, Ron und er sich inzwischen ohne Worte verstanden. Dumbledore hatte sie eindringlich ermahnt, dass in Lord Voldemorts Behausung wenn überhaupt nur Parsel gesprochen werden durfte. Er nickte seinen Freunden zu, und sie begaben sich zu der Holzkiste.

Harry rief wieder die Gedanken Lord Voldemorts in sich auf, und als er ganz von ihrem Muster erfüllt war, berührte mit seinem Zauberstab das Schloss des Kastens und dachte auf Parsel „Alohomora". Der Deckel sprang auf und eine große Schlange streckte ihren Kopf heraus.

"Mein Lord, was wünschen Sie?", zischelte sie.

"Ich habe einen neuen Befehl für dich", antwortete Harry ebenfalls in Parsel, „ höre mir zu, bis ich fertig geredet habe, danach darfst du dich wieder bewegen."

Nagini senkte ihren Kopf und blickte Harry an. Sie fixierte ihn, als ob sie zweifelte, wirklich ihren Herrn vor sich zu haben, doch sie gehorchte dem Jungen. Harry starrte ebenfalls auf das Tier, denn er merkte, dass er seine Gedanken lesen konnte.

"Nagini, du stehst in den Diensten Lord Voldemorts. Doch er hat dich betrogen. Ja, du hast richtig erkannt, ich bin nicht dein Meister. Ich bin sein Opfer, wie du es bist. Ich kann es dir erklären. Denn ich konnte mich befreien. Nun bin ich hier, um dir zu helfen. Er wollte mich töten, doch er konnte sein Werk nicht zu Ende führen, er scheiterte am Widerstand meiner Mutter, die ihr Leben für mich gab."

Harry merkte, dass die Schlange ihre Angriffslust nur mühsam unterdrückte. Ein schnelles Zucken ihres Kopfes, ein kurzer Biss und Harrys Schicksal wäre besiegelt. Nur die Anwesenheit von Hermine und Ron schien das Tier an diesem Schritt zu hindern. Sie war sich bewusst, dass sie mehrere Zauberer vor sich hatte und erkannte die Bedrohung. Aber er hatte die Aufmerksamkeit Naginis gewonnen. Sie sah ihm unbewegt in die Augen.

"Ja, ich sehe es in deinen Gedanken. Er hat es getan. Er hat dir versprochen, die berühmteste Schlange deines Geschlechts zu werden, die auch lange nach ihrem Tod noch von ihren Nachfahren verehrt werden würde. Du hast ihm treu gedient und alles getan, was er von dir verlangt hat. Er hat dich belogen. Alle deine Verwandten sind tot, von deinem Meister selbst ermordet. Du bist die letzte der Schlangen Slytherins, und er benutzt dich für seine eigenen Ziele. Ich kann ich zu deinem Geburtshaus bringen und dir alles zeigen. Du darfst dich nun bewegen."

Der schmale Schädel zuckte, das Tier musste offensichtlich entscheiden, ob es angreifen oder antworten sollte. Harry bohrte seinen Blick in Naginis Augen und schob seine Angst weit in sein Inneres zurück, die Schlange durfte nichts davon erkennen. Schließlich ertönte ein Zischeln.

"Du behauptest, dass mein Herr mich belügt. Das ist eine ungeheure Tat und dafür solltest du sofort sterben. Allerdings hat mein Herr mir auch gesagt, es gäbe außer ihm, dem letzten Erben Slytherins, keinen Parselmund mehr. Aber du spricht Parsel, denn ich kann dich verstehen, und du bist nicht mein Herr. Wenn das wahr ist, was du sagst, habe ich nichts zu verlieren und mein Weg ist vorgezeichnet. Zeige mir meine Geburtsstätte, das Haus meiner Zauberer, die Hütte der Gaunts. Wenn du jedoch lügst, werde ich dich und deine Diener", sie wies mit ihrem Kopf in Richtung Hermines und Rons, „unverzüglich töten."

"Folge mir!"

Nagini kroch aus ihrem Kasten und schlängelte sich zu Füßen der drei Freunde zum Ausgang hin. Harry rief den Kelpie, der als Seeschlange ebenfalls Parsel verstand, und sie verließen die Behausung des Lords so wie sie gekommen waren. An der Oberflächeangelangt, ergriffen Ron und Hermine Nagini, und alle disapparierten.

Die Holzhütte, die Harry sogleich aus den Erinnerungen, die Dumbledore ihm gezeigt hatte, erkannte, war von alten Bäumen und Schlingpflanzen überwuchert. Nagini glitt sofort auf das verfallene Haus zu und verschwand in einem kaum erkennbaren Loch vor der Eingangstür. Nur Minuten später kehrte sie zurück. Ihr Zischeln war sehr leise geworden.

"Es ist alles so, wie du gesagt hast. Keiner meiner Verwandten ist gekommen, mich zu begrüßen und mir seine Hochachtung zu erweisen. Ich habe ihre sterblichen Überreste gefunden und erkannt. Ich bin die letzte Schlange der Slytherinzauberer. Ich kann keine Nachkommen mehr haben, die meine Geschichte erzählen. Ich bin betrogen worden. Mein Leben kann keinen Sinn mehr haben. Das Gesetz der Ehre gebietet mir, meiner Familie zu folgen."

Sie kroch zum nächsten großen Stein, erhob ihren schlanken Körper und schleuderte ihren Kopf auf den Felsbrocken. Die Knochen splitterten und ein hoher kalter Schrei ertönte. Grüne Dämpfe verließen den Schlangenleib, der nun zur Erde fiel und sich nicht mehr bewegte.

Harry umfasste Naginis Leichnam, und sie apparierten zum Loch Ness. Ohne Verzögerung brachten sie die Schlange zurück in ihre Kiste, verschlossen sie und ließen sich vom Kelpie wieder an die Oberfläche tragen. Sie versteckten sich unverzüglich am Seeufer. Von ihrem ersten Eintreffen hier bis jetzt waren kaum 30 Minuten vergangen. Ron atmete erleichtert auf und öffnete seinen Mund. Sofort legte Harry seinen Finger auf seine Lippen und schüttelte heftig seinen Kopf. Sein Freund durfte jetzt keinen Laut von sich geben. Hermine legte ihre Hand leicht auf Rons Arm. Ron nickte und schloss seinen Mund wieder. Er hatte offensichtlich verstanden. Dann zuckte er zusammen und deutete zum See. Das Ungeheuer tauchte wieder auf, obwohl keiner von ihnen es gerufen hatte. Die drei Freunde wagten nicht die kleinste Bewegung. Sie hielten die Luft an. Und wirklich erschien aus einem schwarzen Wirbel eine Gestalt auf dem Rücken der Seeschlange und verschwand mit ihr in der Tiefe.

Die Nacht beruhigte sich und strahlte ununterbrochene Stille aus. Sterne glitzerten im klaren Seewasser. Suchend blickte Harry sich um. Wo blieb Fawkes? Nur der Phönix konnte sie nach Hogwarts zurückbringen, doch er konnte keine Spur von dem Vogel entdecken. Sollte er ihren Unterschlupf verlassen und nach dem Vogel Ausschau halten? Während er noch überlegte, bildeten sich auf der Wasseroberfläche wieder kleine Ringe. Hermine zog Harry in Panik herunter. Sekunden später konnten sie die schwarze Gestalt auf dem Schlangenhügel wieder erkennen. Kälte zog ihre Beine hoch und umhüllte ihren ganzen Körper. Sie begannen zu zittern. Nun konnten sie die dunklen Dunstkreise erkennen, die vom Schlangenlord ausgingen. Sein Hass und seine Wut strahlten von ihm ab und tauchten seine Umgebung in schwarze eisige Kälte. Er musste den Verlust Naginis sofort bemerkt haben. Die Freunde konnten diese Finsternis kaum ertragen, sie drängten sich dicht aneinander und schützten sich so gegenseitig davor, innerlich zu erfrieren. Doch sie konnten sich nicht mehr bewegen, nicht mehr denken und empfanden keine Gefühle mehr.

Erst die Flammen eines rotgoldenen Vogels erweckten sie wieder zum Leben. Mühsam ergriffen sie seine Schwanzfedern und erkannten kurz darauf das Büro der Schulleiterin. Jetzt endlich wagten sie, wieder zu reden.

"Das wäre geschafft, der fünfte Teil Lord Voldemorts ist vernichtet, oh Mann Harry, das war schlimmer als ein Albtraum."

"Ron, du hast eine Menge Mut bewiesen, ich bin froh, dass ich dich habe", Harry legte seinen Arm um die Schultern seines Freundes und blickte zu Hermine, „dass ich euch beide habe."

Die junge Frau lächelte erschöpft, doch dann wurde sie wieder ernst. „Wo mag er hingegangen sein?"

"Das kann ich euch sagen", alle drehten sich um zum Bild Albus Dumbledores, „ihr habt ihn aufgescheucht, obwohl er natürlich nicht weiß, dass ihr für Naginis Tod veranwortlich seid, wofür ich euch übrigens sehr dankbar bin. Er ist unterwegs nach Hogwarts, um endlich das Werk zu vollenden, das er vor seinem ersten Verschwinden begonnen hat. Er will seinen Horcruxzauber an Harry vervollständigen. Ja, Harry, deine besonderen Fähigkeiten stammen von Lord Voldemorts makabrem Versuch, ein lebendes Baby in einen Behälter für seinen Seelenteil zu verwandeln. Doch ein einwandfrei funktionierendes Horcrux entsteht nur bei direktem Hautkontakt. Und er merkte schnell, dass er dich nicht berühren konnte. Aber ein Hauch seiner Seele war bereits übertragen worden. Im Zorn über sein misslungenes Experiment versuchte er, dich zu töten, das Ergebnis ist bekannt. Jetzt will er die Siebenzahl der Horcruxe erreichen, er ist besessen vom Glauben an die vollkommene Magie der Sieben."

Harry hörte diese Worte und spürte, wie seine Knie langsam nachgaben. Er selbst war bereits ein halbfertiges Horcrux Lord Voldemorts. Er sank in sich zusammen. Hermine und Ron fingen ihn auf und legten ihn vorsichtig auf den Boden. Wie von ferne konnten sie Rufe und eilige Schritte in den langen Gängen des Schlosses vernehmen.