31. Kapitel
Ein heller Sonnenstrahl suchte sich seinen Weg durch eine Spalte in den Vorhängen des zerwuselten Bettes und landete auf der Nase eines schlafenden jungen Mannes. Harry rieb sich mit den Händen über das Gesicht und zwinkerte. Dann setzte er sich langsam auf. Er zog die Behänge auseinander und traute seinen Augen kaum. Die Wintersonne durchleuchtete den ganzen Raum. Es musste bereits auf die Tagesmitte zugehen, und was ihn noch mehr erstaunte war, dass er das warme Licht überhaupt sah. Wo war das Schutznetz, wo waren die Dementoren geblieben? Er sprang auf, wusch sich eilig und zog sich seine Schulkleidung an. Er war alleine im Schlafsaal. War er der letzte Überlebende Hogwarts? Langsam kehrten die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Nein, Lord Voldemort war besiegt, und vermutlich saßen alle anderen Schüler gerade im Unterricht, wo sie die abenteuerliche Geschichte der vergangenen Stunden hörten. Professor McGonagall musste angeordnet haben, ihn schlafen zu lassen. Das Gesicht der Schulleiterin erschien in seinem Gedächtnis. Er musste sie sprechen. Zu viele Fragen beschäftigten ihn. Er würde sie jetzt gleich aufsuchen. Ohne weiter darüber nach zu denken rannte er die Stufen hinunter und durch die langen Gänge des Schlosses direkt zu ihrem Büro. Er sprach das bekannte Passwort und ließ sich nach oben tragen. Noch bevor er anklopfen konnte, öffnete sich die Tür für ihn.
"Guten Morgen Harry, ich hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht. Ich habe Sie schon erwartet. Bitte nehmen Sie Platz."
Harry setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
"Professor McGonagall, ich möchte Sie gerne sprechen. Zu vieles konnte ich heute Nacht nicht begreifen. Ich brenne auf Antworten."
"In diesem Punkt kann ich Sie gut verstehen, und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen alles mitteilen werde, was ich weiß. Doch zuvor möchte ich Ihnen im Namen der Gemeinschaft aller Zauberer für das danken, was Sie für uns getan haben. Sie wurden für den Orden des Merlin erster Klasse vorgeschlagen, und ich unterstütze diese Idee vollkommen." Sie lächelte dem jungen Mann zu. „Doch vorher möchte ich Ihnen etwas Brauchbareres zukommen lassen."
Sie schnippte mit ihrem Zauberstab, und auf ihrem Schreibtisch erschien ein großes, reichlich bestücktes Frühstückstablett mit allen Köstlichkeiten, die Harry sich vorstellen konnte.
"Heute benötigen Sie etwas Kräftigeres als Plätzchen. Die Elfen aus der Küche danken Ihnen mit dieser kleinen Aufmerksamkeit. Lassen Sie es sich schmecken, während wir uns unterhalten."
Sie hob das Tablett und stellte es direkt vor Harry auf den Tisch. Der Zauberer merkte nun, wie leer sein Magen war. Dankbar griff er zu. Doch bald war sein Geist hungriger als sein Körper.
"Professor McGonagall, bitte erklären Sie mir, was gestern Nacht wirklich geschah. Sie wussten, was Severus Snape vorhatte, nicht wahr?"
"Ich werde ganz von vorne beginnen. Ich hoffe, Ihre Fragen beantworten zu können. Doch ich muss Sie hier um absolutes Stillschweigen bitten. Was ich Ihnen sagen werde, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie werden es verstehen. Sind Sie damit einverstanden, dass dieses Wissen nie über Ihre Lippen kommen darf? Sie werden außer mir, Albus Dumbledore und Severus Snape der Einzige sein, der diese Zusammenhänge kennt."
"Ja, ich bin einverstanden, und ich verspreche, dass ich es vor jedem anderen Geschöpf verschließen werde. Wenn Sie es wollen, unterziehe ich mich dem Unbrechbaren Schwur."
"Ich glaube Ihnen, das reicht. Nun, noch im letzten Sommer, wenige Tage nach seinem Tod, bat mich Albus, die Schule um jeden Preis geöffnet zu halten. Er wich allen Fragen aus, die ich stellte, so wie Sie es jetzt tun. Und ich war mehr als erstaunt über das, was er tat und die Dinge, die er wusste. Auf seine Anweisung hin begann ich, das Schloss abzusichern, zuerst ohne zu merken, dass schon längst Übernahmeversuche Hogwarts von Seiten Lord Voldemorts stattfanden. Später wurden mir auf verschiedenen Wegen Schutzzauber zugetragen, die sehr wirksam waren und schon fast an schwarze Magie grenzten. Aber erst kurz vor dem entscheidenden Angriff offenbarte Albus mir seine Quelle. Ich verlor fast den Boden unter den Füßen, als Severus Snape plötzlich vor mir stand."
Die Schulleiterin hielt inne. Dies musste ein sehr einprägsames Erlebnis gewesen sein. Harry wusste nur zu gut um die Wirkung, die der dunkle Zauberer auf andere hatte. Doch das hieß dann auch, dass der ehemalige Lehrer den Direktor damals gar nicht ermordet hatte. Fragend blickte er zu Minerva McGonagall.
"Ich ahne, was Sie nun denken. Doch, er hat es getan, aber auf Albus ausdrücklichen Wunsch hin und gegen seinen eigenen Willen. Fragen Sie mich nicht, ich verstehe es auch nicht."
Vor Harrys Augen zogen die Bilder seiner letzten Begegnung mit dem weißhaarigen Zauberer vorbei. Er war merkwürdig entspannt gewesen, als er mit Draco geredet hatte und dabei immer weiter auf den Boden gerutscht war. Hatte er gewusst, dass er sterben würde? Hatte er es gewollt? Harrys Atem stockte. Die Flüssigkeit aus dem Pokal. Dumbledore hatte gesagt, dass es kein Stärkungstrank wäre, und dass Lord Voldemort denjenigen töten würde, der sein Horcrux nähme, nur nicht sofort…, dass Harrys Leben weitaus wertvoller wäre als sein eigenes…. Nein, das konnte nicht sein, das hieße ja, dass er selbst, der ihm dieses Gift Becher für Becher eingeflößt hatte, Dumbledore in Wirklichkeit….Harry schloss seine Augen und meinte zu fühlen, wie sein Herz aussetzte.
"Ist Ihnen nicht gut? Wir können gerne später fortfahren."
"Harry? Ja, ich kann nachfühlen, wie es Ihnen jetzt geht, ich konnte es selbst kaum fassen. Lassen Sie sich Zeit."
Minerva McGonagall würde nie begreifen können, was Harry in diesen Minuten durchmachte. Kein Mensch konnte das. Harry war ganz allein. Das Wissen um seine Tat, auch wenn er sie nicht gewollt hatte, auch wenn Dumbledore ihn praktisch dazu gezwungen hatte, würde immer auf ihm lasten. Dieses Gewicht erdrückte ihn. Alles Glück schien ihn zu verlassen, kein Mensch würde ihm helfen können. Kein anderer würde in diese Abgründe eintauchen können, geschweige denn es wollen. Sein gesamtes Inneres schmerzte. Dann schreckte er auf. Doch, es gab einen, der genau dieses Dunkel kannte, einen einzigen, den, der dem Direktor vor Zeugen den Todesstoß gegeben hatte, den, der ihn selbst unter Einsatz seines eigenen Lebens um Frieden gebeten hatte. Harry begann zu verstehen. Er öffnete seine Augen.
"Nun ja, ich muss Ihnen sagen, dass ich sehr froh darüber war, dass Severus doch nicht die Seiten gewechselt hatte und nach wie vor zu uns gehörte. Irgendwie mochte ich ihn, auch wenn seine Freundlichkeit schon sprichwörtlich war. Er war ein sehr fähiger Kollege, und er erledigte seine Aufträge zuverlässiger als die meisten anderen Lehrer. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, half er mir, Hogwarts Schutzwälle völlig undurchlässig zu machen. Von den meisten Zaubern, die er verwendete, hatte ich noch nie etwas gehört. Sie machten das Schloss uneinnehmbar. Und", die Schulleiterin lächelte verlegen, „er wusste, dass Sie sein Zaubertränkebuch benutzten. Er sagte, er habe es Ihnen zukommen lassen, dass Sie daraus lernen."
Harry bewegte sich nicht mehr. Nach dem Schock eben war diese Erkenntnis fast schon erträglich. Severus Snape hatte nicht nur Professor McGonagall, sondern auch ihn mit Informationen versorgt, die ihm gegen die Todesser halfen. Und trotzdem hatte er ihn immer wieder angegriffen und gequält. Harry war jederzeit bereit gewesen, gegen ihn zu kämpfen. Er hatte sogar seine eigenen Erfindungen gegen ihn einsetzen wollen und hatte diese Flüche bis zur Erschöpfung geübt. Ohne diesen Lehrer wären seine Kampfbereitschaft, seine Instinkte und sein Mut niemals so gewachsen. Ohne diese Fähigkeiten wäre er vielleicht nicht in der Lage gewesen, Lord Voldemort und seinen Todessern gegenüber zu treten oder die Horcruxe zu vernichten. Sein Blick blieb am Porträt Albus Dumbledores hängen. Der Direktor war wach und lächelte. Harry Potter starrte ihn an. Der weißhaarige Zauberer hatte immer gesagt, er vertraue Severus Snape ganz und gar. Er hatte sich für ihn verbürgt. Der dunkle Zauberer hatte noch vor dem ersten Fall Lord Voldemorts für ihn als Spion gearbeitet, danach war er sein Lehrer geworden. War Harry Potter, war er selbst das Objekt einer Verschwörung der beiden Männer gewesen? Harrys Gedanken rasten.
"Ja, und Severus Snape musste Dumbledore vor dem Angriff durch die Dementoren gewarnt haben. Er war es auch, der das blau leuchtende Schutznetz vom Astronomieturm aus gespannt hat."
Harry erinnerte sich gut an die dunkle Figur, die kurz neben Professor McGonagall gestanden hatte. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Tränkelehrer musste genaue Kenntnis der Pläne Lord Voldemorts gehabt haben. Er musste sein Vertrauter gewesen sein. Harry schüttelte sich bei diesem Gedanken. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man in der Nähe dieses Wesens überleben konnte. Nun wurde Harry auch klar, woher Dumbledore die detaillierten Informationen über die Horcruxe hatte. Er zuckte zusammen. Nein, eigentlich war ihm dies nicht klar. Der Lord hätte mit keinem Menschen darüber gesprochen. Auch nicht mit Severus Snape. Professor McGonagall konnte er dazu nicht befragen, Dumbledore hatte ihnen gesagt, dass keiner außer Ron, Hermine und ihm genaue Kenntnis von diesen Ungeheuerlichkeiten hatte. Sie würde nichts wissen. Harry erahnte, dass diese Frage unbeantwortet bleiben würde. Und er wusste inzwischen nicht mehr, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
"Und es gibt noch etwas. Der Phönix stand seit Dumbledores Tod in den Diensten Severus Snapes. Er hatte das Tier nie gefangen. Man kann Fawkes nicht zu etwas zwingen. Ich habe die Vermutung, und damit sehen Sie, dass auch ich nicht alles durchschaue, dass zwischen den beiden dieselbe enge Verbindung besteht, wie vorher zwischen Albus und dem Vogel. Der Gesang des Phönixes hatte sich verändert. Und ich nehme an, dass unser Tränkelehrer immer dann die Finger im Spiel hatte, wenn Fawkes aufgetaucht ist."
Harry durchsuchte seine Erinnerungen nach dem Vogel. Zum ersten Mal hatte er ihn wahrgenommen, als er nach der Vernichtung von Helga Hufflepuffs Tasse kraftlos und von seinen Freunden unbeachtet im Gras gelegen hatte. Er hatte gemeint, sterben zu müssen, bis er die heilenden Kräfte des Phönixes gespürt hatte. Woher hatte Severus Snape von seiner Not gewusst? Die Dumbledorekarte hatte in seiner Hosentasche gesteckt. Er rief sich die ganze Szene vor Augen. Dann erkannte er es. Die angreifenden Schlangen waren unmittelbar vor dem tödlichen Biss gelähmt worden. Der Blitz war aus den Schatten an der Wand gekommen. Der Tränkelehrer musste unbemerkt dabei gewesen sein. Und die entzauberten Tiere hatten die drei Freunde aus der Höhle getrieben, sobald die Gefahr durch das Horcrux gebannt gewesen war. Wäre er nur Minuten länger in dem Gewölbe geblieben, hätte er vielleicht nicht mehr die Kraft gehabt, es zu verlassen. Severus Snape hatte über sein Leben gewacht. Zum zweiten Mal hatte er Fawkes gesehen, als der Vogel sie zur Behausung Lord Voldemorts gebracht und sie wieder abgeholt hatte. Auch hier hatten Minuten über ihren Erfolg und ihr Überleben entschieden. Und er brauchte nun nicht mehr zu rätseln, wohin der Dunkle Lord in dieser halben Stunde so eilig entschwunden war. Schließlich hatte der Phönix ihn letzte Nacht wieder gestärkt, so dass er überhaupt gegen Lord Voldemort hatte antreten können. Harry zuckte wieder zusammen. Fawkes hatte ihm damit auch Severus Snape in die Gewalt gegeben. Harry hätte seinen ehemaligen Lehrer und Beschützer zum Schluss töten können. Ihm wurde schwindelig, als er merkte, vor welcher Wahl er eigentlich gestanden hatte. Der Junge stöhnte auf. Professor McGonagalls Antworten waren wirklich erhellend, aber angenehm waren sie ihm nicht. Sie schmerzten ihn und er konnte nicht mehr davon ertragen. Er stand auf und ging zu einem der großen Fenster des Büros, wo er seinen Blick über die Landschaft schweifen ließ. Er hatte noch nie wahrgenommen, wie schön Hogwarts war.
"Ja, die Dementoren. Sie haben sich zurückgezogen, nachdem sie keine Befehle mehr von Lord Voldemort erhielten. Sie sind völlig ausgehungert nach Askaban zurückgekehrt und befinden sich im Moment in Verhandlungen mit mir. Ich musste bereits einige uneinsichtige Todesser dorthin verlegen. Wir konnten ihre Lähm- und Fesselzauber hier nicht auflösen. Wahrscheinlich müssen wir das Gefängnis dort wieder in Betrieb nehmen. Es ist wirklich nicht mein Wille, dass dort Menschen leben müssen, aber es ist eine Folge ihrer eigenen Entscheidungen. Sie gefährden unsere Gemeinschaft."
Harry nickte. Er wusste nun mehr als genug. Er sehnte sich danach zu gehen, er wollte diesem Raum entfliehen. Und er war der Schulleiterin dankbar für ihre Offenheit. Er wandte sich ihr zu.
"Professor McGonagall, ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen. Es war sehr viel. Ich würde nun gerne ein wenig alleine sein. Ich möchte nur sagen, dass ich sehr froh bin, dass Hogwarts wieder frei ist und dass ich hier leben kann. Und das habe ich auch Ihnen zu verdanken."
"Das freut mich zu hören, denn ich erinnere mich gut an einen jungen Zauberer, der im letzten Sommer Hogwarts unbedingt wieder verlassen wollte. Ich musste mein ganzes Geschick aufbieten, um Sie herzulocken und hier zu behalten. Das war übrigens eine Initiative Albus Dumbledores. Er hatte Angst, Sie würden sich alleine der schwarzen Magie zuwenden."
Harry blickte wieder zum Bild des Direktors. Dieses Mal zwinkerte der alte Mann ihm zu. Woher hatte der weißhaarige Zauberer von Harrys Plänen gewusst? Langsam wurde es dem Jungen unheimlich. Er nickte der Schulleiterin kurz zu und verließ ihr Büro. Er ging geradewegs in seinen Schlafsaal zurück. Dort würde er um diese Zeit keinen Menschen antreffen. Er wollte alleine sein. Er setzte sich in sein Bett und zog die Vorhänge wieder zu. Seine Welt war aus den Fugen geraten. Es war all die Jahre sein Ziel und seine Bestimmung gewesen, Lord Voldemort zu vernichten. Dies war geschehen. Aber es war nur möglich geworden durch die ständige Hilfe des Mannes, den Harry ebenso wie den Dunklen Lord gehasst hatte und ihn ebenso inständig hatte töten wollen. Seine Gedanken bestanden nur noch aus wilden Fragen. Severus Snape verabscheute ihn doch, er hatte sich schon mit seinem Vater bekriegt, und er hatte seine anhaltende Wut an Harry ausgelassen. Er war Harrys Gegner geworden, wie er schon der Feind seines Vaters gewesen war. Wieso hatte er ihn im Verborgenen geschützt, ihn ausgebildet, ja sogar ihm seine eigenen Erfindungen zur Verfügung gestellt? Hatte Dumbledores Einfluss so weit gereicht? Nein, das war unwahrscheinlich, dazu hatte der Tränkemeister von sich aus zu viel getan. Wo also lag der Grund dafür? Harry sah nur Dunkel, er konnte keine Hinweise zur Lösung dieses Rätsels finden.
Er ließ sich ins Bett zurück fallen und streckte die Arme aus. Dabei stieß er an seinen Nachtschrank und durch die Erschütterung öffnete sich der Verschluss. Taschentücher, Stifte, sein Zauberstab, einige von Berti Brotts Bohnen und ein schwererer Gegenstand fielen auf den Boden. Seufzend stand Harry auf, um alles wieder einzuräumen. Er streckte seinen Arm tastend unter das Bettgestell, um das unbekannte Objekt wieder hervor zu holen. Jetzt hatte er es erreicht und konnte es herausziehen. Woher stammte dieses halb vermoderte Kästchen? Er sprang erneut in sein Bett und betrachtete es. Langsam dämmerte es ihm. Er hatte es im Sommer aus seinem Elternhaus in Godrics Hollow mitgenommen, um es später zu öffnen. Er war enttäuscht gewesen und hatte danach nicht mehr an den Behälter gedacht. Nun hielt er ihn in der Hand. Instinktiv ergriff er seinen Zauberstab. „Alohomora." Nun ließ sich der Deckel aufbiegen. Im Inneren befand sich ein kleines zusammengerolltes Pergament. Er öffnete die Schnur, die es verschloss und hielt es sich vor Augen. Es war mit großen Buchstaben beschrieben, die offensichtlich einer Kinderhand entstammten. Er las:
Wir schwören uns ewige Freundschaft.
Wir versprechen uns, dass wir uns gegenseitig immer beschützen.
Wenn einer von uns angegriffen wird, wird der andere mit ihm kämpfen.
Das soll für unser ganzes Leben gelten.
Wir besiegeln diesen Bund mit unserem Blut.
Unter dem Text fand er in leicht verschmierter roter Schrift zwei Namenszüge. Er konnte sie entziffern. Dort stand:
Lily und Severus
Harry sank auf sein Kissen zurück. Das konnte nicht wahr sein. Er zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, in der Finsternis zu versinken. Aber es gelang ihm nicht. Daher tauchte er wieder auf und betrachtete das kleine Pergament. Das also war der Grund. Seine Mutter hatte den dunklen Zauberer gekannt, und wie es schien sehr gut. Sie mussten schon befreundet gewesen sein, als sie noch Kinder gewesen waren. Und diese Abmachung war seiner Mutter so wertvoll gewesen, dass sie das Pergament auch als Erwachsene noch aufbewahrt hatte, als sie schon lange mit James Potter verheiratet war. Ihrem Bündnispartner musste es ebenso ergangen sein. Das war die einzige Erklärung. Harrys Verstand arbeitete. Nun begriff er Snapes Wut, als er seine schlimmste Erinnerung gesehen hatte. Es war nicht die Demütigung durch seinen Vater gewesen, wie er es immer angenommen hatte. Es war seine Mutter gewesen. Lily hatte versucht, Severus zu retten, und er hatte sie im Gegenzug beleidigt und als dreckige Schlammblüterin beschimpft. Und wie hatte Dumbledore es ausgedrückt, als er den Grund für Snapes Abkehr von Voldemort beschrieb? Als Severus Snape entdeckte, wie Lord Voldemort die Prophezeiung ausgelegt hatte und auf wen sie sich bezog, erfuhr er den größten Schmerz seines Lebens. Deshalb hatte der ehemalige Direktor es nicht gewagt, Harry zu erklären, weshalb er dem dunklen Zauberer vertraute. Der Tränkemeister hätte seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen können.
Allmählich kam für Harry Licht ins Dunkel seiner Fragen. Severus Snape sah in ihm nicht hauptsächlich seinen Vater, er versuchte, an ihm seinen Bund mit Lily zu erfüllen, und Harry musste zugeben, dass er dies mit Erfolg getan hatte. Er hatte Lord Voldemort besiegen können, und er selbst lebte. Und es wurde ihm bewusst, dass der dunkle Zauberer ihm nicht geholfen hatte, weil er der Auserwählte war, sondern weil er Harry Potter war. Harry lag starr in seinem Bett. Er begann, sein bisheriges Leben in einem neuen Licht zu sehen. Es gefiel ihm. Und er begriff, dass sein Auftrag nicht mit der Vernichtung Lord Voldemorts beendet war. Er selbst war wichtig. Jetzt begann sein eigentliches, sein persönliches Abenteuer, nun konnte er an seine eigene Zukunft denken. Diese Idee beflügelte ihn. Zuerst musste er herausfinden, wer er, wer Harry Potter wirklich war. Wenn er das wusste, würde er seine eigentliche Aufgabe, den Sinn seines eigenen Lebens entdecken können. Er war jetzt davon überzeugt, dass er zu mehr bestimmt war, als eine alte Prophezeiung zu erfüllen. Und nun wusste er auch einen, der ihm helfen konnte, seine verschlungenen Lebenspfade zu entwirren und ihn auf seinen eigenen Weg zu bringen, denn derjenige war von Anfang an mit ihm gegangen. Er musste nur den Mut aufbringen, ihn um seine Mithilfe zu bitten. Harry Potter atmete tief durch. Dieser Tag und sein gesamtes weiteres Leben würden erneut sehr spannend werden. Und irgendwie freute er sich nun auf dieses Abenteuer.
