Eine Woche später begann die Schule wieder. Erneut war der Platz vor dem Schulgebäude überfüllt mit Schülern, Lehrern, Eltern, Kindermädchen und Chauffeuren. Sobald er die Tür der Limousine hinter sich zugeschlagen hatte, ertappte sich Tony dabei, wie er mit den Augen die Menschenmenge nach den Fitzgerald-Zwillingen absuchte. Dass er sie nicht auf Anhieb fand, beunruhigte ihn wenig. Schließlich befanden sich mehrere Hundert Menschen hier.
Er griff nach seinem Rucksack und seiner Tasche, die ihm der Chauffeur hinhielt. „Danke! Tschüss!" Erwartungsvoll bahnte er sich den Weg durch die Menge zum Eingang des Gebäudes. Bereits während der Fahrt hatte er beschlossen als erstes seine Sachen auf sein Zimmer zu bringen und sich anschließend sofort auf die Suche nach den Zwillingen zu machen. Er trat an die Tafel heran, an der die Namen der Schüler geordnet nach den Klassenstufen aushingen. Hinter dem jeweiligen Namen waren die Nummer des Zimmers und der Name des Zimmerkameraden verzeichnet. Ein Grinsen zog über Tonys Gesicht, als er den Namen hinter seiner Zimmernummer las: Martin Fitzgerald. Besser hätte es gar nicht kommen können. Er brauchte einfach nur auf sein Zimmer zu gehen und zu warten, dass sein neuer Mitbewohner auftauchte.
„Oh, Gott! Nein!", entfuhr es Martin, als er den Namen seines Zimmerkameraden las. Sein Bruder Vin sah ihm neugierig über die Schulter. „Oh!"
„Oh?" Martin fuhr herum. „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? OH? Wie wäre es mit „Es tut mir leid, dass ich mich mal wieder an deinen Sachen vergriffen habe und wir uns deshalb sosehr gestritten haben, dass Dad uns getrennte Zimmer verordnet hat."?"
„Jetzt komm mal runter! Ich habe dir doch schon gesagt, dass es mir leid tut!"
„Tut es dir auch leid, dass ich mich jetzt ein ganzes Schuljahr lang mit DiNozzo rumschlagen muß? DiNozzo! Der Typ ist eine absolute Nervensäge!"
„Ach, komm schon! Wie oft werdet ihr euch über den Weg laufen? Ihr habt Unterricht, du gehst zum American Football und zum Schwimmen, Tony geht zum was-weiß-ich-was, am Samstagabend hängst du mit deinen Freunden rum und er mit seinen und vermutlich werde ich dir ein paar Mal Asyl gewähren müssen, weil DiNozzo es mal wieder irgendwie geschafft hat ein Mädchen aufs Gelände und in euer Zimmer zu schmuggeln. Wie lange werdet ihr da gezwungen sein Zeit miteinander zu verbringen?" Er sah seinen Bruder herausfordernd an.
„Das sagst du nur, weil du schuld bist.", entgegnete Martin deprimiert. Vin klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Wir sehen uns nachher beim Essen." Sich mit einem Mal vollkommen verlassen vorkommend sah Martin seinem Bruder hinterher. Der hatte es gut. Er teilte sich jetzt das Zimmer mit seinem besten Freund John. Dabei war Vin doch schuld an diesem Mist. ER müsste sich das Zimmer mit DiNozzo teilen. Missmutig ergriff er seinen Koffer und machte sich auf den Weg zu seinem neuen Zimmer.
„Fitzgerald!" Tony sprang freudestrahlend auf, als sein neuer Zimmerkamerad ins Zimmer kam. „Welches Bett willst du haben? Rechts oder links?" Martins Blick fiel auf das rechte Bett, auf dem sich die Spuren von Tonys Taschen abzeichneten.
„Hast du das rechte Bett noch nicht okkupiert?", fragte er. Tony lachte amüsiert.
„Guter Witz!" Er klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Martin beobachtete ihn misstrauisch. Was hatte DiNozzo vor? „Also? Rechts oder links?"
„Links.", entschied Martin ohne viel Begeisterung.
„Wunderbar!" Irritiert nahm Martin ein erneutes Schulter klopfen zu Kenntnis, bevor Tony damit begann seine Sachen aus dem Koffer in den rechten Schrank zu räumen.
„Schöne Ferien gehabt?", fragte er gutgelaunt. Martin begann ebenfalls sich in seiner Hälfte des Zimmers häuslich einzurichten.
„Warum interessiert dich das?", entfuhr es ihm. Tony warf ihm einen rügenden Blick zu.
„Hey, Fitzgerald! Ich versuche mich gerade mit dir anzufreunden! Und du machst es mir gerade leicht."
„Anfreunden?", wiederholte Martin misstrauisch. „Warum willst du dich mit mir anfreunden?"
„Warum nicht?"
„Weil wir uns nicht leiden können. Wir haben uns noch nie leiden können." ‚Ja und gerade fällt mir auch wieder ein wieso.', fuhr es Tony durch den Kopf. „Traust du mir nicht, Fitzgerald?"
„Nein.", entgegnete Martin ohne Zögern. Tony seufzte lautlos auf. Das wurde doch nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Warum teilst du dir eigentlich nicht mehr ein Zimmer mit deinem Bruder? Ihr habt doch sonst immer zusammen gewohnt."
„Er hat sich ein Mal zuviel an meinen Sachen vergriffen." Tony grinste.
„Im Klartext: Ihr hattet Riesenzoff miteinander.", übersetzte er. Martin sah sich zu ihm um, sagte aber nichts. ‚Der muß dringend an seinen sozialen Kompetenzen arbeiten.', urteilte Tony. „Wie geht es deinem Bruder sonst so?"
„Prima.", entgegnete er. „Teilt sich ein Zimmer mit John Sarcinelli."
„Ha! Da hast du mit mir aber eindeutig das bessere Los gezogen." Tony strahlte auf. „Du wirst sehen: Wir beiden werden Riesenspaß miteinander haben!" Martin bedachte ihn erneut mit einem kurzen Blick ohne dabei etwas zu sagen. ‚Das siehst du anscheinend anders.' Langsam wurde es Tony wirklich leid. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie unzugänglich Fitzgerald war. Aber einen Trumpf hatte er noch. Er legte seine restlichen Klamotten in den Schrank und griff nach zwei DinA4-Unschlägen, die auf dem Boden des Koffers lagen. Einen Augenblick überlegte er, ob er wirklich mit Fitzgerald teilen sollte. Schließlich war der ja nicht wirklich freundlich gewesen in den fünf bis zehn Minuten, die sie sich jetzt schon im selben Raum aufhielten.
Erleichtert genoss Martin die Stille, die mit einem Mal in ihrem Zimmer herrschte. War auch dringend Zeit gewesen, dass DiNozzo die Klappe hielt. Diese ungewohnte Freundlichkeit von ihm konnte einem ja noch mehr auf die Nerven gehen als sein normales Verhalten. „Hey, Fitzgerald!" Martin drehte sich zu ihm um. Tony hielt zwei Poster mit halbnackten Frauen in die Höhe. „Welche willst du? Die Blonde oder die Brünette?" Martins Unterkiefer klappte nach unten. Die Hölle. Er war hier definitiv in der Hölle.
„Und?" Vin bedachte seinen Bruder mit einem frechen Grinsen. „Welche hast du genommen?" Martin wurde rot. Er warf ihren Sitznachbarn an der langen Tafel misstrauische Blicke zu. Doch die waren alle zu sehr mit ihren eigenen Neuigkeiten und dem Essen beschäftigt um sich um sie zu kümmern. „Du weißt genau, dass ich nicht auf so etwas stehe.", zischte er leise.
„Das hast du aber schlecht DiNozzo sagen können. Der wäre ausgetickt und geradewegs zum Direktor marschiert, um nach einem anderen Zimmerkameraden zu verlangen." Er beobachtete besorgt, wie Martins Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm. „Denk noch nicht einmal daran!", warnte er ihn.
„Keine Sorge!", gab er zurück. „So verzweifelt bin ich dann doch noch nicht." Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Er blieb an dem Tisch hängen, an dem die Lehrer saßen. „Sag mal:", begann er leise. „Wenn wir am Samstag in den Club gehen, brauchen wir aber noch ein wenig Geld." Vins Blick folgte dem seinen.
„Stimmt." Er grinste. „Wir müssen unbedingt zur Bank."
„Mr. Roberts!" Überrascht drehte sich der Latein-Lehrer des Internates herum, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er sah, wie Martin Fitzgerald durch die Menge an Schülern, die aus dem Speisesaal kamen auf ihn zukam.
„Mr. Fitzgerald! Was kann ich für einen der besten Schüler, die ich jemals unterrichtet hatte tun?" Martin musste lächeln.
„Sir, kann ich Sie vielleicht einen Moment unter vier Augen sprechen?", bat er verlegen. „Es geht um den Unterricht."
„Um den Unterricht?" Mr. Roberts legte die Stirn in Falten und gab ihm einen Wink ihm zu folgen. „Haben Sie denn Probleme, Mr. Fitzgerald? Wir hatten ja noch nicht einmal die erste Stunde!"
„Sir… ähm… die Sache ist folgende… ähm… mein Vater ist der Meinung, dass mich der Latein-Unterricht nicht wirklich weiter bringt."
„Was ist denn das für ein Unsinn?" Sie waren an Mr. Roberts Büro angelangt. Er öffnete die Tür und bedeutete Martin sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. „Was bringt Sie denn nach der Meinung ihres verehrten Herrn Vaters weiter?" Martin ließ sich auf den Stuhl sinken, während Mr. Roberts um den Tisch herum ging, seine Jacke auszog und sie über seinen Stuhl hing. „Er ist der Meinung, dass ich mich mehr auf die Studien der Politik und der Geschichte konzentrieren sollte. Sie wissen, dass mein Vater…"
„Ja ja ja ja!" Der Lehrer winkte ab. „Ihr Vater plant bereits Ihre Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahl 2012. Ich weiß, ich weiß! Auch einen Tee?" Ohne Martins Antwort abzuwarten wandte er sich einem hüfthohen Schrankchen zu, auf dem ein Wasserkocher und einige Tassen standen. „Kennt Ihr Vater eigentlich die Bedeutung der Werke Ciceros oder Senecas für die Geschichte und die Politik der Welt? Ich will Ihnen mal etwas sagen, mein lieber Mr. Fitzgerald: Cicero alleine hat mehr für die Politik getan als ein…" Während er weiter sprach lehnte sich Martin vorsichtig über den Tisch, wobei er seinen Lehrer misstrauisch im Auge behielt. Aus der Innentasche der Jacke, die Mr. Roberts über den Stuhl gehängt hatte, lugte das obere Ende seines Geldbeutels hervor. Schnell zog Martin ihn heraus, öffnete ihn und nahm sich einen 20 $-Schein, bevor er das Portemonnaie hastig wieder zurück in die Innentasche schob.
„Sagen Sie das Ihrem Vater, wenn er Sie das nächste Mal über die wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens zu belehren sucht! Erinnern Sie mich daran, dass ich mit Ihrem Herrn Vater bei der nächsten Gelegenheit ein ernstes Wörtchen über seine Prioritäten spreche." Mr. Roberts drehte sich wieder zu ihm um und drückte ihm eine Tasse Tee in die Hand.
„Vielen Dank.", bedankte sich Martin artig. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie mit meinem Vater reden könnten. Der Latein-Unterricht macht wirklich sehr viel Spaß und… ich wäre sehr betrübt, wenn ich das Fach zum nächsten Halbjahr abwählen müsste."
Geduldig wartete Vin am Ende des verwaisten Flures, in dem das Büro des Latein-Lehrers Mr. Roberts lag. Erwartungsvoll sah er auf, als sich die Tür ebendieses Büros öffnete und Martin wieder herauskam. Sein Bruder kam schnell auf ihn zu. „Und?", fragte er. Martin sah ihn ernst an.
„Ich bin ein armer reicher Junge, der ständig von seinem machtbesessenen und ehrgeizigen Vater unterdrückt wird.", erklärte er mit Grabesstimme. Vin nickte ungeduldig.
„Das weiß ich. Wir haben denselben Vater. Was ist nun dabei raus gesprungen?"
„Zwanzig." Auf Martins Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen. „Reicht doch für Samstag Abend, oder?"
Misstrauisch sah Tony den Zwillingen nach, die in bester Laune den Flur hinuntergingen. Er war Vin unauffällig vom Speisesaal bis hierher gefolgt. Erst unterwegs hatte er bemerkt, dass Vin widerrum seinem Bruder folgte, der mit Mr. Roberts zu dessen Büro ging. Während Vin wartete, hatte Tony sich hinter einem Holzregal mit Schulpokalen versteckt. Vor wenigen Augenblicken war Martin aus dem Büro getreten. Leider hatte Tony zu weit weg gestanden, als dass er auch nur ein Wort der kurzen Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern verstanden hätte. So viel war jedoch klar: Die beiden hatten etwas ausgeheckt, sonst hätte Martin nicht diesen spitzbübischen Gesichtsausdruck, den er noch nie bei ihm gesehen hatte, gehabt. Aber was? Vin und Martin schlugen den Weg zur Bibliothek ein. Kurz bevor sie gänzlich aus seinem Sichtfeld verschwunden waren setzte sich Tony in Gang um ihnen zu folgen.
