Kapitel 3 Der Entschluss

Harry wurde von einer tiefen Traurigkeit erfasst. Der Moment, in dem er sich alles noch einmal haargenau ins Gedächtnis rufen musste, war nun gekommen. Sicherlich, in den letzten zwei Tagen hatte er an nichts anderes als an den schrecklichen Tod Dumbledores denken können, und nachts wurde er von den schlimmsten Alpträumen geplagt, die sich ein Zauberer vorstellen konnte, aber dennoch war es immer so gewesen, als hätte sich ein grauer Schleier zwischen ihn und die Geschehnisse gelegt; ein Schleier, der die Grenze zwischen Realität und Traum verwischte und alles weniger schlimm erscheinen ließ. Doch jetzt saß Harry hier auf diesem Stuhl, wusste nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte und schaute, immer noch stumm, zu Mafalda auf. Der Schleier schien sich zu verflüchtigen, als die Erinnerungen Harry erneut überkamen und ihn in ihren schwarzen Sog zu reißen schienen. Der Sog schien Harry verschlingen zu wollen, in die immer währende Dunkelheit, Harry fühlte, wie er vom Stuhl zu rutschen begann und wollte sich im letzten Moment an der Tischkante festhalten, die aber nicht vorhanden war.

Harry öffnete die Augen. Er fühlte sich schwerelos, frei von jeglicher Schwerkraft, ob nun körperlich oder gedanklich. Er brauchte sich nicht aufzurichten, denn er befand sich bereits in sitzender Position. Er schaute sich um und erblickte nichts als Finsternis. Er schien in einem Raum zu sein, jedoch ohne Wände, Decke oder Boden. Er fühlte nichts, nur die Unendlichkeit, in der er sich jetzt befand. Er fühlte, dass er sich drehte, schwebend durch den Raum glitt, jedoch vermochte er nichts zu erkennen. Doch plötzlich schien er einen Schatten in der Ferne wahrnehmen zu können. Dieser Schatten war noch schwärzer als die Finsternis selbst, und schien sich nun auf Harry zuzubewegen. Harry versuchte zu schreien, als er erkannte, was sich da auf ihn zu bewegte, aber entweder konnte er es nicht oder die Dunkelheit verschluckte sofort jedes Geräusch. Er konnte sich nicht wehren gegen die Kälte, die ihn umfing. Je näher das Wesen kam, das nun gierig lange, weiße Hände nach ihm ausstreckte, umso bewusster wurde ihm, dass er sterben musste, wenn er nicht entkam. Das Wesen glitt immer näher, Harry konnte schon den Atem des fauligen, blassen Körpers fühlen. Die Hände hatten Harry nun fast erreicht, nur noch ein Strecken der mit langen, krummen Fingernägeln besetzten Finger, und das Wesen könnte Harry am Kragen packen. Harry wollte schreien, wollte mit aller Macht einen Hilferuf hinaus brüllen, aber es ging nicht. Seine Lungen schienen zu bersten, aber kein noch so winziges Geräusch kam über seine Lippen. Sein Gegenüber streckte die Hände aus, und Harry konnte für einen Bruchteil das Gesicht des Wesens erkennen. Er wünschte sich im gleichen Moment, er hätte es nie erblickt. Es war greulich, nicht menschlich, nicht zu beschreiben. Harry kniff die Augen wie im Schmerz zusammen, bäumte sich auf und…

…fand sich in einem Bett im Krankenflügel des Ministeriums wieder. Er war schweißgebadet und atmete flach und schnell. Er brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass er nun nicht mehr in dieser gräßlichen Finsternis gefangen war, sondern in einem hell erleuchteten Raum lag. Er wartete noch einen Augenblick, bis sein Atem wieder ruhiger ging und setzte sich dann auf. Er war allein. Rechts und links von ihm befanden sich mehrere Betten, die aber allesamt leer waren. Das strahlende Weiß der Bettwäsche schien ihn zu blenden und er musste die Augen wieder schließen. Er blieb so sitzen und dachte an nichts, als er plötzlich das Knarzen einer aufgehenden Tür vernahm. Langsam öffnete er die Augen und blickte in ein ruhiges, freundliches, aber sehr müde aussehendes Gesicht. Am auffallendsten waren aber eindeutig die purpurroten Haare, die nach allen Seiten vom Kopf der jungen Frau abstand. „Tonks!", rief Harry aus, und war schlagartig hellwach. Sie lächelte, trat nun ganz an sein Bett heran und umarmte ihn. „Harry", flüsterte sie. „Schön, dass es dir gut geht."

Eine Stunde später, nachdem Harry noch einmal von der Krankenschwester des Ministeriums durchgecheckt worden war, saß er mit Tonks und den anderen in der großen Empfangshalle. Harry schlurfte eine große Tasse heißen Kakao und blickte in die Runde. Erst jetzt fiel ihm auf, wie erschöpft alle aussahen, aber vor allem Tonks. Ihr Gesicht war zerfurcht von Sorgenfalten, und hier und da konnte man eine alte Wunde erkennen, die teilweise noch nicht ganz verheilt waren. Sie war auf der Suche nach den Horkruxen gewesen. Dieses Unterfangen war sehr gefährlich, denn Lord Voldemort, der Teile seiner Seele in Gegenständen versteckt hielt, von denen keiner wusste, wie sie aussahen, hatte sehr abgelegene Winkel der Welt gewählt, um sie vor den Augen der Muggel und der Zauberer zu verstecken und zu schützen. Harry selbst war mit Dumbledore unterwegs gewesen, um sie aufzuspüren, und sie hatten auch einen gefunden. Es war schrecklich gewesen, ihn zu zerstören, und schon da war Dumbledore schon nah an seine Grenzen gekommen. Dumbledore… Bei dem Gedanken an ihn stieg eine bittere Übelkeit in Harry auf. Tränen schossen in seine Augen, aber er konnte sie zurückhalten. Statt dessen wandte er sich an Tonks. „Und, wie war deine Reise? Hast du sie finden können?" Es hatte eh keiner geredet, aber die Stille, die sich jetzt über die kleine Gruppe der Freunde senkte, schien aus einer völlig anderen Welt zu stammen. Alle blickten Tonks an. Harry hatte die Frage ausgesprochen, die ihnen alle auf der Zunge gebrannt hatte, aber niemand hatte es gewagt, sie auszusprechen. Selbst Remus nicht. „Ja", wisperte Tonks. „Einen habe ich aufspüren können. Aber ich konnte ihn nicht zerstören, der Zauber, der ihn umgab, war zu groß. Zehn meiner Begleiter wurden bei dem Versuch getötet. Mehr konnte ich einfach nicht verantworten." Sie sprach leise und mit brüchiger Stimme. Man konnte ihr anmerken, wie weh ihr diese Erkenntnis tat. Sie hatte die Verantwortung für fünfzehn Männer gehabt, und zehn davon waren umgekommen. Sie gab sich die Schuld dafür, obwohl sie nicht anders hätte handeln können. Harry schwieg; er konnte sich zu gut vorstellen, wie sie sich fühlte.

So saßen sie noch eine Weile beisammen und sprachen über belanglose Dinge, als plötzlich Mafalda neben Remus auftauchte und in die Runde blickte. „Es tut mir äußerst leid, euch stören zu müssen… Aber wir müssen die Versammlung abhalten. Es muss eine Entscheidung getroffen werden, was als nächstes getan werden muss." Trotz der Weichheit in ihrer Stimme spürte Harry, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. Remus nickte, stand auf und entfernte sich ein Stück von ihnen, Mafalda hinter sich her ziehend. Sie sprachen kurz miteinander, und Mafalda nickte mehrmals kurz hintereinander. Dann verschwand sie in Richtung Versammlungsraum. Remus winkte und bedeutete ihnen, ihr zu folgen.

Kurze Zeit später saß Harry erneut auf dem Platz in der Mitte des großen Raumes, dieses Mal jedoch war er wesentlich ruhiger. Wieder wurde er nach den Ereignissen in Hogwarts gefragt, und dieses Mal antwortete er sofort.

Er erzählte von dem Gespräch zwischen Snape und Draco, wie er schon vorher vermutet hatte, dass sie ein Geheimnis hatten. Er sprach über die Kämpfe, die sich im ganzen Schloss ereignet hatten und wie er, zusammen mit Dumbledore, die Suche nach den Horkruxen abgebrochen hatten um nach Hogwarts zurück zu kehren. Er berichtete von dem Turm, auf dem sie auf Draco und einige andere Todesser gestoßen waren und wie Draco es schließlich nicht fertig brachte, Dumbledore zu töten. Statt dessen war es Snape gewesen, der ihn getötet und über die Zinnen des Turmes stürzen ließ.

Niemand, wirklich niemand unterbrach Harry in seinen Ausführungen, auch dann nicht, wenn er stockte und einen Augenblick mit den Tränen ringen musste. Alle schienen an seinen Lippen zu hängen, fühlten die Trauer und die Schuldgefühle, die Harry schon seit zwei Tagen mit sich herumschleppte. Als Harry geendet hatte und klar war, dass nun nichts mehr kommen würde, ergriff Mafalda das Wort. „Vielen Dank, Harry. Das war sehr tapfer von dir, uns alles so genau zu berichten. Wir werden nun beraten, was weiter geschehen soll." Mit den Worten verließ sie das Podest und verließ den Raum. Die anderen Leute des Ministeriums folgten ihr. Harry und seine Freunde blieben allein in dem großen Raum zu rück und warteten. Keiner sprach ein Wort, zu bedrückt von dem, was sie gerade gehört hatten.

Nach einer Weile, Harry konnte nicht sagen, wie viele Minuten vergangen waren, seitdem Mafalda den Raum verlassen hatte, betrat sie, allein diesmal, den Saal erneut. Langsam schritt sie auf das Podest zu und blickte Harry schweigend an. Ihr Blick schien zu sagen:Du bist schon ein armer Junge. Sie stieg auf das Podest, hob den Blick und verkündete: „Das Ministerium hat beschlossen, dass die Suche nach den Horkruxen weitergeführt wird…", Tonks atmete hörbar ein, „…und nach dem Todesser und Verräter Serverus Snape wird verstärkt gefahndet. Er wird sich hier verantworten müssen. Die Versammlung ist geschlossen."