Kapitel 4
Chase, Cameron und Foreman hatten das Unmögliche möglich gemacht: Bereits eine Stunde nachdem House seine Mitarbeiter darauf angesetzt hatte, einen Termin für den Kernspintomographen zu ergattern, saß das Team im Beobachtungsraum.
Bereits kurz nach der Einlieferung waren Röntgenaufnahmen gemacht worden, um eine Fraktur des Schädels und eine größere Blutung auszuschließen.
Nun trennte House nur eine Glasscheibe von Keira, die gerade, auf Chase Computereingabe hin, in den Tomographen gezogen wurde. Gregory hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass ein Termin so einfach zu beschaffen war und sich schon überlegt, wessen Nase er verdrehen musste, um dennoch Erfolg zu haben, doch nun stand er ein wenig abseits hinter seinen Mitarbeitern, die sich um die Monitore gereiht hatten und ließ seinen Blick zwischen dem Kernspintomographen und den Bildschirmen hin und her gleiten.
Nach einer Weile stiller Beobachtung unterbrach Cameron die Ruhe: „Ich kann nichts erkennen. Keine Mikrofrakturen und auch keine Haarrisse."
„Da muss etwas sein", widersprach Chase.
„Wieso? Wir konnten keine schweren Verletzungen am Schädel feststellen. Wer sagt uns, dass zwangsläufig der Hirnstamm, oder eine der Großhirnhälften betroffen sind? Es war nur eine Theorie."
Foreman hatte, wie House, das Gespräch stumm mit angehört, aber sich nicht beteiligt. Nun blickte er zu seinem Chef und studierte seine Reaktion. Nichts. Gregory House zeigte nicht die geringste Regung: „Alles in Ordnung mit ihnen, House?", fragte er schließlich und schien ihn damit wie aus einer Trance zu wecken. Er sah auf, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben. Ich muss sie nur finden. Dachte er.
„Und was nun?", fragte Chase berechtigterweise.
„Ich denke, wir sollen sie zurück in ihr Zimmer bringen", war Allisons Interpretation auf House´ Handeln.
„Also war alles umsonst", schnaubte Robert niedergeschlagen.
„Ich denke nicht. Ich bin sicher House hat schon wieder eine neue Theorie. Er gibt nicht auf", verteidigte ihn Dr. Foreman und ergänzte in Gedanken: Nicht dieses Mal. In den letzten Stunden hatte er Greg besser verstanden, als jemals zuvor. Er wusste, was er dachte, und er wusste sogar warum. Es war seltsam. Sie schienen sich nicht so unähnlich zu sein, wie Eric immer gehofft hatte.
Gregory beschloss, Keira noch einmal zu untersuchen und machte sich nun auf den Weg zur Intensivstation, aber nicht, ohne noch einige Akten einsehen zu wollen, bevor sie wieder in ihr Zimmer verlegt wurde war. Er sollte allerdings nicht auf direktem Wege dort ankommen, denn als er am Schwesternzimmer vorbeilief, bekam er zufällig ein Gespräch mit, was ihn hellhörig werden ließ:
„Ihr Name bitte, Sir", bat eine rundliche Stationsschwester einen hochgewachsenen, muskulösen Mann Ende Dreißig.
„Samuel Jacobs", antwortete dieser kurz und knapp.
„Und wen wünschen sie zu sehen?", fragte sie schließlich und öffnete vorsorglich die Patientenkartei.
„Keira Mills." Was will er hier? Was will er von ihr, und wer zum Teufel ist er?
„Tut mir leid Mister Jacobs, aber Besucher sind für Miss Mills nicht zugelassen. Ärztliche Anordnung. Vielleicht setzen sie sich in die Cafeteria und ich benachrichtige sie, wenn es etwas Neues gibt."
„Aber ich bin extra hergekommen. Ihre Eltern sagten mir, dass ich sie hier finden würde", langsam wurde er ungeduldig und Gregory bemerkte, dass der Schwester die Situation entglitt.
„Es tut mir wirklich schrecklich leid, Sir, aber ich würde gegen die Krankenhausvorschrift verstoßen, wenn ich…", weiter kam sie nicht, denn sie wurde von einem aufgebrachten Mr. Jacobs unterbrochen: „Dann tun sie das. Verstoßen sie gegen irgendwelche Regeln, aber lassen sie mich zu ihr, verdammt."
In diesem Moment beschloss House in das Gespräch einzugreifen, bevor die junge Schwester die Kontrolle über die Situation ganz verlor.
„Na, na, na. Das habe ich aber überhört Mister…", er hielt einen Moment inne, tat so, als ob er den Namen des Mannes nicht mitbekommen hatte, und dieser setzte etwas perplex seinen Satz fort: „Jacobs. Samuel Jacobs."
„Sam. Wunderbar. Hören sie Sam. Wenn ich noch einmal mitbekomme, dass sie die Schwestern hier bedrängen und zu Straftaten anstiften wollen, damit sie gegen meine Anweisungen verstoßen, dann lasse ich sie des Krankenhauses verweisen. Und nun erzählen sie mir, wo ihr Problem liegt."
„Mein Problem? Sie haben Nerven. Meine Verlobte liegt auf der Intensivstation und niemand lässt mich zu ihr."
„Ihre Verlobte?", entfuhr es House. Was soll der Mist? Geht dieses Spielchen jetzt in die nächste Runde, Cuddy? Hätte Samuel Jacobs ihn besser gekannt, hätte er bemerkt, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten, aber das war Gott sei Dank nicht der Fall.
„Ganz recht. Keira Mills. Ihre Eltern haben mich benachrichtigt, dass sie hier eingeliefert worden ist."
„Schwester. Die Akte", forderte House die junge Frau auf. Das wollen wir doch erst mal sehen.
„Natürlich. Einen Moment, Doktor", nur Augenblicke später reichte sie House die Patientenakte Mills.
„Hier steht nichts von einem Verlobten. Tut mir leid. Muss wohl ein Irrtum sein. Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen", mit einem selbstgefälligen Lächeln und der Akte unter dem Arm wandte sich House ab. Er hatte dringend mit jemandem ein Gespräch zu führen.
„Das liegt daran, dass wir uns erst vorgestern verlobt haben", rief ihm Samuel Jacobs jedoch hinterher und veranlasste Greg dazu stehenzubleiben.
„Vorgestern?", fragte er nun, darauf hoffend sich verhört zu haben.
„Ja, vorgestern. Wir waren essen, wissen sie. Sie hat meine Hand genommen, und ich musste sie einfach fragen. Ich konnte ja nicht wissen, dass sich alles so schnell ändern…"
Sie hat seine Hand genommen. Mehr wollte und konnte House nicht ertragen, er blendete Samuel Jacobs aus seinem Kopf aus, und seine Stimme verwandelte sich in ein Rauschen, wie wenn man sein Ohr an eine Muschel hält und darauf wartet, das Meer zu hören, wie es seine Wellen schlägt und sich an Felsen bricht.
Du verdammter Idiot. Wieso musst gerade du immer auf sowas reinfallen? Jeder in diesem verdammten Laden lacht über dich und du gibst noch Applaus.
House schlug die Tür zu seinem Büro zu. Er hatte vorhin auf dem Flur umgedreht und war hierher gekommen. Er konnte momentan unmöglich zu ihr gehen und schon gar nicht das Gesicht dieses Schönlings ertragen.
Wieso eigentlich nicht? Vielleicht verriet er dir noch ein paar Details nennen, die Keira geflissentlich ausgelassen hatte. Eventuell sogar wie sie im Bett war. Du wirst es wohl nie erfahren. Nichtmal einen Kuss hast du zustandegebracht. Du warst ein Notgroschen und hast als solcher nicht funktioniert.
House lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und wäre er körperlich dazu in der Lage gewesen, hätte er sich vielleicht daran hinuntergleiten lassen, doch er wusste selbst, dass er ohne Hilfe nie wieder hochkommen würde oder nur unter unerträglichen Schmerzen.
Er schloss einen Moment lang die Augen und ging dann hinüber zur Kommode, um sich ein Glas Whiskey einzugießen. Er stellte die Flasche zurück und war im Begriff, sich einen Schluck zu genehmigen. Aber als er in die braune, schmerzbetäubende Flüssigkeit blickte, wurde ihm klar, was diese Situation bedeutete.
Du kannst nichtmal alleine aufstehen. Was machst du dir vor? Wieso beschäftigst du dich selbst weiterhin mit einem Rendezvous, was keines war? Es war ein Mitleidsdate, egal ob eingefädelt oder nicht. Sie hatte niemals vorgehabt, dich wiederzusehen.
Er setzte das Glas einen Moment lang ab und griff nach dem Hörer des Telefons. Er wählte eine Nummer und sprach dann: „Hier ist Dr. House. Ich brauche die Nummer von Dr. Cuddy."
Bereits Sekunden später ertönte das Freizeichen, und es klingelte auf der anderen Seite.
„Cuddy hier", meldete sich eine verschlafene Stimme.
„Cuddy hören sie mir zu. Ich stelle ihnen eine einfache Frage, und ich möchte eine einfache Antwort."
„House? Sind sie das?", kam es verschlafen vom anderen Ende.
„Kennen sie Keira Mills?"
„Wen? Keine Ahnung, nie gehört, was ist denn mit…", noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, wurde die Verbindung beendet. House hatte einfach aufgelegt.
Er hatte kaum den Hörer zurück auf die Station gelegt, da realisierte Greg, wie sein Denken aussetzte. Er spürte, wie sein Griff um das Glas Whiskey sich verstärkte, das er gerade wieder ergriffen hatte, und er konnte es brechen hören, bevor er es sehen konnte. Ohne die Kontrolle über sein Handeln zu haben, zerdrückte er das Glas mit seiner bloßen linken Hand und spürte einen Augenblick später den Schmerz, der durch den Arm direkt in seinen Kopf fuhr. Wie in Trance starrte er auf die Scherben in seiner Hand und das Blut, welches sich langsam auf seiner Handfläche ausbreitete. Er taumelte rückwärts auf seinen Schreibtischstuhl zu. Seinen Blick nicht von dem Blut abwendend, welches langsam an seinem Arm hinunterglitt, sagte ihm eine innere Stimme, er solle sich hinsetzen. Greg griff weder nach der Armlehne des Stuhls, noch sah er nach, ob sich der Stuhl tatsächlich direkt hinter ihm befand. Bei dem Versuch, sich hinzusetzen, verfehlte er ihn und landete unglücklich auf dem Boden. Er war mit dem Kopf hart aufgeschlagen und sein verschwommener Blick war an die Decke gerichtet, während sein Arm kraftlos auf den Brustkorb fiel. Sein Hemd sog etwas Blut von der verletzten Hand in sich auf.
Greg bemerkte nicht, wie James sein Büro betrat und ihn am Boden liegen sah. Er nahm nicht einmal wahr, das dieser begann, ihn vor Ort zu untersuchen. Zu stark war der Schmerz, der in seinem Kopf Wellen schlug und das Denken verhinderte. „Was hast du nur getan?" wollte Wilson wissen.
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