Kapitel 8
Endlich hatte er Zeit für sich, in der er etwas zur Ruhe kommen konnte. Keiras Eltern waren höchstwahrscheinlich noch bei ihr und machten ihr vermutlich gerade die Hölle heiß - zumindest ihre Mutter machte den Anschein, als wenn sie über die neue Bekanntschaft ihrer Tochter nicht gerade erfreut war. Machte er wirklich einen so schlechten Eindruck? Seit Stunden hatte er nicht mehr in den Spiegel geblickt, geschweige denn sich frische Klamotten angezogen: Ja, er musste einen schlechten Eindruck gemacht haben, doch die nächste Stunde hatte er nicht vor diesen Raum noch einmal zu verlassen. Die Beine hochgelegt, hatte es sich Greg im Sessel seines Büros bequem gemacht. Der Stock lag auf seinen Beinen und er hatte die Augen geschlossen. House fühlte die Kopfschmerzen ebenso deutlich wie die Schmerzen in seiner linken Hand wenn er sie bewegte. Er spürte jede Region seines Körpers, die Kontakt mit dem Sessel hatte und er konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und seine Atmung. Obwohl er erst kurz zuvor unfreiwillig ein Nickerchen gemacht hatte, überkam ihn mit der Entspannung jetzt allmählich auch wieder die Müdigkeit. Gerade als Gregs Kopf langsam zur Seite kippte und sein Geist ins Land der Träume überzugehen schien, wurde die Tür zu seinem Büro aufgerissen und eine mehr oder weniger verärgerte Dr. Cuddy stand vor ihm und machte ihrer Wut Luft: „Was fällt ihnen eigentlich ein? Nein, zuerst sollte ich sie fragen, was sie hier überhaupt machen. Sie sollten auf der Beerdigung ihrer Tante sein und nicht Angehörige von Patienten verschrecken."
House realisierte erst Momente später, was sich vor seinen müden Augen abspielte und blinzelte ein paar Mal, um klarer sehen zu können: „Ich weiß nicht wovon sie reden", murmelte er und rutschte tiefer in seinen Sessel.
„Ich rede von diesem älteren Ehepaar unten in der Lobby, welches sich lauthals über sie beschwert hat. Sie brauchen nichts abstreiten, ich habe alles gehört."
„Wieso sind sie dann noch hier?", gab Greg gelangweilt zurück und Lisa Cuddy schien einen Augenblick lang ernsthaft darüber nachzudenken, bevor sie schließlich aufgebracht fortsetzte: „Weil sie mir immer noch nicht gesagt haben, warum sie hier sind. Sie haben frei. Was denken sie, warum ich beruhigt nach Hause gegangen bin, um viele Stunden versäumten Schlafes nachzuholen? Weil ich mir sicher war, dass sie mein Krankenhaus nicht auf den Kopf stellen, sondern weit weg sind. Und dann klingeln sie mich aus dem Bett und stellen mir absurde Fragen und als ob das nicht schon genug wäre, legen sie danach einfach auf. Sie kommen hier nicht eher raus, bis sie mir nicht erklärt haben, was das Ganze bedeutet."
Gregory House reagiert auf ihre Drohung, indem er sich mühsam in seinem Sessel drehte und ihr seine Rückseite zuwandte.
„Was wird das?", fragte Cuddy genervt.
„Nun ja. Es gibt etwas, was sie vergessen haben zu bedenken", murmelte Greg verschlafen.
„Und das wäre?", wollte Lisa wissen.
„Ich will hier gar nicht raus."
Wenn sie ihr Gegenüber nicht schon länger kennen würde, wäre sie wohl noch empörter gewesen als ohnehin schon. Die Arme verschränkt, ließ sie nicht locker: „Wie sehen sie heute überhaupt aus? Wenn ich mir vorstelle, dass nicht nur dieses ältere Ehepaar sie so gesehen hat, sondern die halbe Belegschaft..."
„Finden sie das nicht unglaublich männlich und anziehend?"
„Sie sehen aus, als ob ein paar Kinder aus der Nachbarschaft den grimmigen Kauz von nebenan verprügelt hätten."
„Wenn sie es sagen."
„Ich habe von der Handgreiflichkeit vorhin gehört, House. Was ist passiert?"
„Sterbenskranke Patientin, verzweifelter Ehemann, sie kennen das ja."
„Wenn ich auch nur einen Moment lang in Betracht ziehe, ihnen zu glauben, dann sind sie mir immer noch eine Erklärung bezüglich der beiden in der Eingangshalle schuldig."
„Ich habe ihnen offeriert, dass für sie keine künstliche Befruchtung in Betracht kommt. Das haben sie anscheinend persönlich genommen. Dabei habe ich mit keiner Silbe erwähnt, dass sie zu alt wären und ihr Kind nicht mehr hochheben könnten, wenn sie denn jetzt eins bekämen."
Cuddy blieb weiterhin an ihrem Platz stehen und musterte einige Sekunden mit skeptischem Blick den Mann vor ihr. Die Erklärungen, die Greg ablieferte klangen zwar irgendwo plausibel und doch spürte sie, dass das wahrscheinlich nur ein Bruchteil der ganzen Wahrheit war - wie schon zu oft. So hartnäckig sie jetzt auch bleiben könnte, würde sie vermutlich nichts Weiteres zu den Vorkommnissen der letzten Stunden aus ihm heraus bekommen. Doch so einfach wollte sie ihn auch nicht davon kommen lassen.
"Sobald sie ausgeschlafen haben, erwarte ich sie in meinem Büro", fuhr sie ihn an. Als sie nach einigen Sekunden immer noch keine Reaktion von ihm darauf bekam, warf sie Greg noch ein "Sie haben mich verstanden", entgegen, verließ sein Büro und ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen, was House zusammenfahren ließ. Endlich allein. Ich dachte, sie geht gar nicht mehr. Langsam gehen mir die Antworten aus. Mit diesen Gedanken, fiel Greg in einen unruhigen, traumlosen und kurzen Schlaf.
Keine zwei Stunden später wachte House auf und räkelte sich kurz in seinem Sessel. Er blinzelte verschlafen und machte eine Gestalt in seinem Schreibtischstuhl aus, die ihn beobachtete. Sofort brachte Greg sich in eine aufrechte Position, bis er bemerkte, dass es sich lediglich um Wilson handelte. Kaum hatte er das registriert, ließ es sich zurück in seinen Sessel sinken: „Wie lange bist du schon hier", fragte er.
„Wie lange schläfst du schon?", stellte James die Gegenfrage.
„Sag schon. Wie lange? Und vor allem: Warum?"
„Ich wollte mit dir reden", antwortete sein Freund nüchtern.
„Und, hat´s funktioniert, während ich geschlafen habe?", fragte House mürrisch.
„Nein, aber ich wollte dich nicht wecken."
„Und deswegen starrst du mich solange an, bis ich von allein aufwache und du dich damit beruhigen kannst, mich in Ruhe gelassen zu haben?"
„Keira fragte nach dir." wich Wilson ihm aus.
„Wieso? Was ist los? Warum hast du mich nicht geweckt?" fragte Greg mehr oder weniger sauer.
„Du sahst aus, als hattest du Schlaf bitter nötig. Sie wollte nur wissen, wie es dir geht."
„Und was hast du ihr erzählt?"
Greg lehnte sich nach vorne, stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Sessellehnen ab und legte seinen Kopf in die Hände bevor er Wilson wieder ansah und auf eine Antwort wartete. Doch dieser stand nur auf und warf Greg eine Reisetasche vor die Füße.
„Ich habe dir was Frisches zum Anziehen besorgt. Und ein wenig Wasser könntest du auch an deinen Körper lassen."
„Danke", war alles, was House herausbrachte. Er war überrascht, wie sehr sein Freund sich um ihn sorgte.
„Und vergiss deinen Termin bei Cuddy nicht. Sie ist gespannt darauf zu erfahren, was die letzten Stunden hier los war." Mit diesen Worten klopfte James seinem Freund noch einmal aufmunternd auf die Schulter und ging dann in Richtung Tür. Er hatte gerade die Klinke ergriffen, als er sich noch einmal umdrehte: „Du schaffst das Greg. Lass diese Chance, dein Leben etwas lebenswerter zu machen nicht wieder ungenutzt verstreichen." Anschließend wandte er sich um und verließ den Raum.
Greg blieb allein zurück und blickte auf die Reisetasche vor seinen Füßen. Nach kurzem Zögern stemmte er sich hoch, griff nach den Henkeln und machte sich auf den Weg in den Waschraum den Gang runter. Dort angekommen, blickte er auf die Waschbecken an der Wand und erinnerte sich zurück. Noch vor ein paar Stunden hatte er hier schon mal gestanden und sich frisch gemacht, allerdings sah die Welt zu diesem Zeitpunkt noch ganz anders aus. Jetzt stand er hier, wusch sich Gesicht und Körper, trug ein wenig Deo auf, was Wilson ihm vorausschauend ebenfalls eingepackt hatte und zog sich frische Sachen an. Zu guter letzte feuchtete er sein Haar an und ordnete es mit Hilfe eines Kamms. Wilson hat wirklich an alles gedacht. Bewunderte er seinen Freund.
Fast wie neu, verließ er den Waschraum und machte sich auf in die Höhle des Löwen. Er hatte nur noch wenige Meter Zeit, sich eine plausiblere Erklärung für seine Chefin auszudenken, für das, was in ihrer Abwesenheit alles passiert war.
Ohne zu Klopfen öffnete House die Tür zum Büro seiner Vorgesetzten und trat ein: „OK keine Lügen – die Wahrheit ist: Ich habe keine Tante, demzufolge kann sie auch nicht tot sein. Ich hatte stattdessen eine Verabredung. Sie brauchen nichts dazu zu sagen, oder zu lachen, nehmen sie es einfach als gegeben hin. Kurze Zeit später fand ich mein Date hier auf der Intensivstation wieder, ohne Bewusstsein. Ich habe sie lediglich nach bestem Wissen und Gewissen behandelt. Als sie schließlich erwacht war, stürmte ein Kerl in ihr Zimmer, der sie umbringen wollte, kurz nachdem, er mir seine Faust ins Gesicht getrieben hatte, aber ich konnte ihn mit Hilfe von Foreman, Wilson und einer Spritze Ketamin außer Gefecht setzen. Er dürfte momentan etwas aufgedreht sein und die ein oder andere Halluzination erleben, aber angesichts der Umstände, hielt ich das für akzeptabel. Als wäre das alles noch nicht genug, tauchten auch noch ihre Eltern hier auf, bei welchen es sich übrigens höchstwahrscheinlich um die beiden Herrschaften in der Eingangshalle handelte, die sie gesehen haben, denn da sie mich nicht ausstehen konnten, würde das erklären, warum sich die beiden über mich beschwert haben…", er machte eine kurze Pause und setzte dann fort: „Das war mein Tag. Ich hoffe ihrer war angenehmer, aber momentan ist mir weniger danach auf der Couch von Dr. Lisa Cuddy Platz zu nehmen." Ohne weitere Worte verließ House das Büro und ließ eine sprachlose Dr. Cuddy zurück. Lisa dachte einen Moment lang darüber nach, ob sie ihm folgen und zur Rede stellen sollte, aber nachdem er vermutlich das erste Mal in ihrem Leben völlig ehrlich war, wollte sie diese neue Ebene ihres Verhältnisses zueinander nicht gefährden und blieb in ihrem Büro.
Gregory House hingegen streifte durch die Korridore des Krankenhauses, auf dem Weg zu Keiras Zimmer. Er wollte mit ihr reden, sie sehen, doch als er ankam stellte er fest, dass sie schlief. Lautlos setzte er sich neben ihr Bett, auf den ihm bekannten Stuhl und lehnte sich zurück. Sie sah friedlich aus, ihre Augen geschlossen, aber dennoch war ein Krankenhaus nicht die Umgebung, in der er sie schlafen sehen wollte. Das regelmäßige Piepen des EKGs im Hintergrund machte Greg erneut schläfrig und er spürte, wie er langsam in den Schlaf hinüberglitt. Diesmal war er jedoch tief, fest und ruhig. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als er ein leichtes Kribbeln an seiner Hand spürte. Langsam öffnete er die Augen, um kurz danach direkt in Keiras zu blicken: „Ich habe dich gar nicht reinkommen hören", hörte er sie flüstern und Greg gestand: „Ich wollte dich nicht wecken."
„Hast du nicht. Ich habe bis eben geschlafen."
„Wo sind deine Eltern?", wollte House wissen.
„Sie sind gegangen und wollten sich ein Zimmer suchen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie vorerst nicht herkommen brauchen."
„Warum?", wollte Greg wissen und sah wie Keira sich zurücklehnte und resigniert an die Wand vor sich blickte: „Weil sie nicht aufhören sich in mein Leben einzumischen. Vor allem meine Mutter. Sie versteht nicht, dass ich hier mittlerweile ein Leben führe, welches nicht ihren Vorstellungen entspricht und…", sie hielt einen Moment inne, bis Gregory nachhakte: „Und?"
„… sie mag dich nicht." bei diesen Worten blickte sie ihm wieder fest in die Augen.
„Das war nicht zu übersehen", stellte House daraufhin trocken fest.
„Tut mir leid."
„Das braucht es nicht. Ich brauche ihren Segen nicht, um mit ihrer Tochter auszugehen."
„Und wann wird das sein?", fragte Keira und lächelte verschmitzt.
„Wie wäre es mit nächsten Freitag", schlug er vor.
„Klingt gut. Ich freu mich", zärtlich drückte sie seine gesunde Hand und ließ sich wieder in ihre Kissen sinken. Beide unterhielten sich noch lange Zeit, bis Keira schließlich erneut eingeschlafen war und Greg sich zurücklehnte, um an ihrem Bett zu wachen. Er hatte sowieso keine Ambitionen nach Hause zu gehen.
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