Kapitel 9

Aus den Lautsprechern im Lokal drangen die kräftigen Stimmen von Mary J. Blige und Wyclef Jean. Gregory beobachtete seine Begleitung, die ihm gegenüber am Tisch saß und an ihrem „Sex on the Beach" nippte und leise mitsang, als die ersten Zeilen des Songs „911" ertönten:

"If death comes for me tonight, girl
I want you to know that I loved you
And no matter how tough I wouldn't dare
Only to you I would reveal my tears
So tell the police I ain't home tonight
Messin' around with you is gonna get me life
But when I look into your eyes
(Man)You're worth that sacrifice…"

House dachte über die Geschehnisse der letzten Woche und über Keira nach. Es war nun schon eine Woche seit dem Überfall vergangen und sie konnte sich bis heute nicht daran erinnern, was genau passiert war. Allerdings war sich Greg nicht sicher, ob das wirklich schlimm war. Vielleicht sollte sie sich lieber gar nicht daran erinnern, auch wenn ihr dieser Blackout zu schaffen machte. Leise summte Keira noch immer die Melodie des Liedes, während sie auf ihre Finger schaute, die mit dem Glas spielten. Das schummrige Licht der Kerzen und Deckenlampen, das den Raum in den Farben Rot, Orange und Gelb erstrahlen ließ, tauchte Keiras Haare in ein sanftes Rotorange; eine Farbkombination, die Greg sehr mochte. Während sie den Inhalt ihres Glases begutachtete musterte er sie. Angefangen bei ihren schwarzbraunen Augen, über ihre seidig schimmernden Haare, fing sein Blick irgendwann ihre zarten Hände ein. Als er abermals ihren Blick einfing lächelte sie, doch der Augenkontakt dauerte nur einen kurzen Moment, denn Keiras Aufmerksamkeit wurde auf ihre Handtasche gelenkt. Gregory bemerkte erst, dass ihr Handy klingelte, als sie es aus einer Seitentasche zog und das kleine Stück Technik aufklappte, um sich kurz darauf mit den Worten „Was ist Mutter?" zu melden. House verzog das Gesicht und nahm belustigt zur Kenntnis, wie Keira ihn mit amüsierter Miene tadelte. Leider bekam er nicht mit, was Mrs. Mills antwortete, obwohl er sich bei Keiras Antworten seinen Teil denken konnte.

„Woher weißt du, dass ich es bin?", fragte Martha verwundert.

„Deine Nummer erscheint auf dem Display Mom. Was willst du?"

„Ich wollte wissen, wo du bist. Du gehst zu Hause nicht an dein Telefon."

„Ich bin in der Stadt, etwas trinken", gab sie zu.

„Doch nicht etwa mit diesem Unhold?"

„Nein, mit Gregory", widersprach Keira.

„Was findest du nur an dem?", wollte Martha wissen.

„Rufst du nur deswegen an? Wenn ja, lege ich jetzt auf und genieße den Abend, Mom."

„Ich finde es wirklich bedauerlich, dass das mit dir und Sam vorbei ist und er auf die... schiefe Bahn gekommen ist...", schluchzte ihre Mutter am anderen Ende der Leitung, „Er war so ein netter Kerl. Nett, zuvorkommend, höflich,..."

„Mom..."

Das Gespräch schien in eine Richtung zu gehen, die Keira nicht gefiel, wie Greg aus ihrer Stimme heraushören konnte.

„Jedenfalls kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Doktor sowieso der richtige Mann für dich ist."

„Mom..."

„Ich kann das nicht gutheißen, Kind."

„Ich denke, das Gespräch ist hiermit beendet. Grüße Dad von mir", ohne ihrer Mutter die Chance zu geben noch einmal zu antworten, klappte Keira ihr Handy zu und trennte somit die Verbindung.

„Sie war nicht gerade begeistert meinen Namen zu hören." stellte Greg ein wenig traurig fest und nahm einen Schluck von seinem Tequila. „Seit ich aus dem Krankenhaus raus bin, ruft sie mich jeden Abend an und fragt, wie es mir geht", erklärte Keira das Gespräch, und verstaute ihr Handy wieder in ihrer Tasche, „Und nein, sie war nicht begeistert. Sie hofft absurder Weise immer noch auf eine Versöhnung mit Sam."

Der Name erzeugte ein flaues Gefühl in House´ Magen. Wie konnte diese Frau allen Ernstes noch davon ausgehen, dass zwischen ihrer Tochter und diesem Kerl wieder alles in Ordnung kommen könnte. Ein versuchter Mord fällt in Arizona anscheinend nicht so ins Gewicht, wie in New Jersey. Fuhr es Greg durch den Kopf, doch er beschloss das Gespräch in eine weniger unangenehme Richtung zu lenken: „Was hat dich an die Ostküste geführt?"

„Ich bin vor den Erwartungen meiner Eltern geflohen."

„Was hatten sie denn für Erwartungen?"

„Sie wollten, dass ich den Laden übernehme, der schon seit Generationen in den Händen meiner Familie liegt. Ich war überrascht, dass sie beide tatsächlich hierher gekommen sind. Mein Vater verlässt das Geschäft sonst nie länger als für ein paar Stunden Schlaf."

„Über was für eine Art Laden sprechen wir?"

„Eine Wäscherei", gestand sie schmunzelnd und bemerkte, wie sich ein Lächeln auf das Gesicht ihres Gegenüber schlich: „Jetzt kann ich verstehen, warum es jemanden wie dich hierher an die aufregende Ostküste treibt."

„Was meinst du mit ´Jemandem wie mir´?", wollte Keira wissen.

Gute Frage. Ging es Greg durch den Kopf, doch er sagte: „Du machst nicht den Eindruck, als würdest du den ganzen Tag nur beruflich Wäsche waschen wollen." Er nahm wieder einen kleinen Schluck Tequila, „Geschweige denn im Wüstensand kleine Schlangen erschlagen." Keira lachte.

„So langweilig, wie du dir Arizona vorstellst, ist es nicht."

„Wie ist es dann?"

„Nun ja wir haben eine tolle Landschaft zu bieten und nette Leute. Außerdem gibt es viele hübsche Lokale und wir haben mit Abstand die schönsten Mädchen des Landes", scherzte sie und Greg grinste ein Wo sie recht hat... in sich hinein und spielte mit seinem Glas.

„Wir reden die ganze Zeit nur über mich und meine Probleme." bemerkte Keira und ergriff Gregs linke Hand, die immer noch ein leichter Verband zierte.

„Aber über dich weiß ich so gut wie nichts."

„Mein Leben ist längst nicht so spannend, wie man annehmen könnte."

„Erzähl mir etwas und ich beurteile anschließend, ob es spannend für mich ist, oder nicht."

„Ich stehe morgens auf, gehe zur Arbeit und hab den ganzen Tag kranke Menschen um mich herum."

„Du hilfst ihnen. Das ist wunderbar", sie drückte seine Hand.

„Es ist nur mein Job. Mehr nicht", antwortete Greg mürrisch. Warum nur wollte ihm alle Welt einreden, dass vollgepinkelt und angespuckt werden ein schöner, erfüllender Job sei? „Das glaube ich dir nicht. Dir muss etwas an dem Job liegen, sonst würdest du ihn nicht seit so langer Zeit ausüben", hakte Keira unerbittlich nach.

„Du hast Recht", Greg machte eine kleine Pause, „Es ist mein Leben." Und fügte in Gedanken hinzu: Mehr hab ich schließlich nicht.

„Es fasziniert mich Krankheiten zu heilen. Ich brauche diese Herausforderung kniffelige Fälle zu lösen. Auch wenn ich manchmal nicht mehr tun kann, als die Menschen sterben zu lassen", ergänzte er schließlich laut.

„Das ist sicherlich nicht leicht: Zu erkennen, wann man nichts mehr für sie tun kann."

„Eigentlich nicht. Es ist lediglich eine Abwägung der Umstände mit dem Aufwand und der Überlebenschance des Patienten, was alternative Behandlungsmethoden betrifft."

„Das klingt alles sehr kühl und wissenschaftlich."

„Die Medizin ist eine Wissenschaft. Es ist nichts anderes als Formeln auszurechnen. Das Problem liegt darin die Formel erst zu verstehen, bevor man sie löst. Ich muss eine Krankheit zunächst diagnostizieren, bevor ich mich daran machen kann sie zu behandeln."

„Ich nehme an, du hast viele schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, dass du so über sie denkst."

„Ich denke nicht über alle Menschen so. Es gibt auch Personen, die ich schätze."

„Und die wären?", wollte Keira wissen und House überlegte einen Moment lang: „Dich und Wilson."

„Was ist mit deinen Kollegen und Mitarbeitern?"

„Sie sind noch formbar, also nicht verloren."

„Es ist bedrückend zu sehen, wie wenig Freude du an deinem Leben hast."

„Wir leben nicht - wir sterben. Und das unser ganzes Leben lang."

„Aber aus der Zeit zwischen Geburt und Tod kann man etwas machen. Zumindest muss das menschliche Dasein nicht derart schmerzvoll sein, wie deines."

„Wie sollte mein Leben deiner Meinung aussehen?", wollte Greg wissen, „Mein Bein ist nutzlos, meine Patienten hassen mich, ich bin ein griesgrämiger Kerl Mitte Vierzig, der sein halbes Leben bereits hinter sich hat. Was soll da noch kommen?"

„Kein Wunder, dass du das Leben als schmerzvoll empfindest." Mit diesen Worten, zog Keira einen Schein aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und stand auf.

„Komm mit", forderte sie ihn auf, nahm ihre Sachen und Greg tat, wie ihm geheißen. Beide verließen das Lokal und Keira führte ihn ohne ein Wort die Straße entlang. Nach einigen hundert Metern bogen sie in eine Seitenstraße ein und gingen diese hinunter, bis sie schließlich zu einer weiteren Querstraße gelangten. Nach ein paar Minuten Gehweg blieb Keira stehen. Greg sah sich um: „Was wollen wir hier?"

Es war eine ungemütliche Gegend. Kaum eine Straße von der Bar und vielen weiteren Geschäften, in und vor denen noch allerhand Betrieb herrschte, sah es nicht mehr so rosig und lebendig aus. Es schien keine gut besuchte Ecke zu sein. Einige Laternen flackerten und wieder andere hatten ihren Dienst schon vor einiger Zeit quittiert.

Keira führte ihn weiter die Straße entlang, ohne zunächst auf seine Frage zu antworten. Je länger sie sich in der Gegend aufhielten, umso blöder kam Greg dieser Abstecher vor und er blieb stehen: „Was soll das? Wo gehen wir hin?"

Keira, die durch sein Stehenbleiben mittlerweile ein paar Meter vor ihm lief, stoppte ebenfalls und wandte sich zu ihm um. „Was siehst du?", fragte sie ihn.

„Was soll das werden?", fragte Greg abermals, der immer noch nicht begriffen hatte, was Keira von ihm wollte. Sie ließ jedoch nicht locker und wiederholte ihre Frage.

Greg sah sich daraufhin um: Anscheinend befanden sie sich hinter dem großen Einkaufszentrum, welches von vorne sehr viel ansprechender wirkte, als von der Rückseite aus, an der sie sich gerade befanden. „Das Einkaufszentrum", antwortete House.

„Und was noch?"

„Wird das jetzt? Sowas wie 'Ich sehe was, was du nicht siehst'? Das könnten wir auch an einen anderen Ort verlegen."

Keira wandte sich von ihm ab und sah zu einem der Lieferanteneingänge des Einkaufszentrums. Ihr Blick fixierte mehrere Haufen Stoff, die vor dem Hintereingang lagen. „Du denkst, es ginge dir schlecht? Du hättest ein grauenvolles Leben?", wiederholte Keira Gregs Worte von vorhin, woraufhin er näher kam und dieselbe Richtung mit den Augen absuchte, in die sie blickte.

„Dir geht es nicht schlecht", behauptete sie und ergriff seine Hand, die auf seinem Stock ruhte und sprach weiter: „Du hast einen verantwortungsvollen Job, ein Zuhause und Menschen, die sich um dich sorgen." Sie wies auf den Stoffhaufen: „Diese Menschen hier haben all das nicht; vielleicht sogar nie gehabt."

Erst jetzt erkannte auch Greg unter einer der Decken einen Schuh, der hinauslugte.

„Vielleicht hast du Recht", räumte House daraufhin ein und Keira hakte nach: „Vielleicht?"

„Nicht vielleicht. Du hast recht", gestand er sich schließlich ein.

„Wir sollten wieder auf die Hauptstraße zurückkehren", entschied seine Begleitung.

„Ja, sollten wir."

„Du bist auf einmal so einsilbig", zog ihn Keira auf und knuffte ihm leicht in die Rippen.

„Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sich jemand die Mühe macht, mir die Welt da draußen zu zeigen."

„Das ist schade. Jemand hätte das schon viel früher machen sollen."

„Wahrscheinlich."

„Aber es ist nicht zu spät, wie ich gerade feststelle. Unser Ausflug scheint etwas in dir gerührt zu haben", Keira lächelte zufrieden und stellte sich vor ihn. Mittlerweile hatte sie seine Hand losgelassen und die kühle Abendluft, sowie die ungemütliche Gegend veranlassten sie dazu, sich an Greg zu lehnen und ihre Hände unter sein Jackett zu schieben. Sie genoss seine Nähe und schloss die Augen, als auch er seine Arme um sie legte und Keira somit näher zu sich zog.

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