Der Besuch
London, Surrey. Lara Croft genoss gerade im Wohnzimmer vor dem Kamin ein Glas Wein, während sie etwas klassischer Musik lauschte. Man hörte sanft die große Standuhr ticken. Es war sieben Uhr.
„Klassische Musik...wie wunderbar", murmelte sie und nahm den letzten Schluck aus dem Weinglas. „Aber...es ist zeit für etwas Moderneres."
Sie stand auf und legte ihr weißes Cape ab, unter dem sie ein bauchfreies Shirt mit Spaghettiträgern in einem tarngrün trug. Passend zu der tarngrünen Hose. Sorgfältig fuhr sie mit ihrem linken Zeigefinger über ihr umfangreiches CD-Regal.
„Ja, etwas Rock-Musik. U2 ist genau richtig", nuschelte sie und nahm eine CD heraus. Durch Druck auf „Open" öffnete sich das Laufwerk des CD-Players. Die Klassik-CD nahm sie heraus, die Rock-CD legte sie hinein und schloss das Laufwerk wieder. Ein wenig drehte sie an den Knöpfen und drückte dann auf „Play". Man hörte die Musik, aber aus einem anderen Raum, der einst der Ballsaal war, jedoch jetzt als Turnhalle zum Austoben von Miss Croft diente.
„Perfekt", stellte sie fest und ging in die Turnhalle.

Die laute Musik dröhnte durch die Halle, zum Leid von ihrem Butler Winston. Lara hatte ihrem Spaß beim Salto und Verrenkungen Üben und die Musik erhöhte den Spaßfaktor um Einiges. Sie wusste nicht, dass gerade ein schwarzer Mercedes auf ihr Anwesen zufuhr, der vor dem großen Tor stehen blieb. Winston hatte im Vorbeigehen an den Monitor gesehen und betätigte die Sprechanlage.
„Wer ist da?", erkundete er sich.
„Ich melde Sean William Croft. Er möchte seine Cousine, Miss Lara Croft, antreffen", erklärte der Chauffeur. Durch Druck auf einen Knopf am Monitor, scannte der Computer den Wagen und die Insassen vollständig ab. Ein paar Sekunden danach erschien auf dem Bildschirm in roter Schrift „unknown" und „not gun-toting". Also trug weder der Wagen noch seine unbekannten Insassen Waffen bei sich. Winston öffnete das Tor, sodass der Wagen hineinfahren konnte. Nur ein paar Meter vor der Haustür kam der Wagen zum stehen. Hinaus stieg ein blonder Mann im dunkelblauen Anzug, der eine Mappe bei sich trug.
„Zeit für ein Wiedersehen, Lara", flüsterte er in sich hinein und deutete seinem Chauffeur an, das Anwesen mit dem Auto zu verlassen. Der Mann ging auf die Haustür zu, wo Winston schon die Tür auf hielt. Er geleitete den Gast ins Wohnzimmer, in dem Holzscheite im Kamin vor sich hin brannten und so den Raum gemütlicher als sonst erscheinen ließen.
„Miss Croft wird gleich zu Ihnen stoßen", versprach Winston und machte sich auf den Weg zu Lara, die sich noch immer an ihren Turngeräten austobte.
„Gut", gab er etwas geistesabwesend zurück und musterte den Raum.
„Miss Croft, ein Gast für Sie", berichtete Winston, als Lara ein paar Salti vor und rückwärts übte.
„Ein Gast? Wie hat er ich zu erkennen gegeben?", fragte sie außer Atem.
„Sean William Croft. Er meinte, er sei Ihr Cousin."
„Sean? Was mag er wollen?" Sie hörte auf, Salti zu üben. „Ich habe ihn seit ich Zehn oder Elf war nicht mehr gesehen. Nun gut, ich gehe ihn begrüßen", entschied Lara, „Winston, machen Sie bitte die Musik aus."
‚Hoffentlich hat er seinen Frisurengeschmack geändert', dachte sie und erinnerte sich an ungewaschene, ungekämmte Haare, die viel zu lang waren.
Im Wohnzimmer angekommen, saß ihr Cousin noch immer vor dem Kamin und wartete geduldig. Er hatte sich äußerlich sehr verändert, zum Vorteil versteht sich. Er war kein kleiner, pummeliger Junge mehr mit Pickeln und schlecht abgestimmten Kleidern, der so aussah als wäre er noch nie beim Friseur gewesen. Nein, vor ihr stand ein gut gebauter Mann, modisch auf der Höhe und...mit einer Frisur, die einen fragen ließ, welcher Gott diese vollbracht hätte.
„Hallo Sean!", begrüßte sie ihren Cousin mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Lara!" Er stand auf und die beiden umarmten sich. „Schön, dich wieder zu sehen!"
‚Auch sein Geruch hat sich ins Positive gewandelt', ging es ihr durch den Kopf.
„Ich freue mich auch, dich wider zu sehen. Aber was führt dich dazu?", erkundigte sie sich.
Sean räusperte sich.
„Nun, wie du sicher weißt, habe ich in meiner Kindheit mit meinen Eltern und Geschwistern hier gelebt", begann er zaghaft.
„Ja, und deine Mutter hat mir das Anwesen vererbt. Du hast ja deine Villa irgendwo im Süden von England."
„Stimmt, Lara. In St. Austell, aber egal. Als es dir vermacht wurde, sah es hier noch ganz anders aus, doch du hast etwas daraus gemacht. Jedenfalls war noch die ganze Einrichtung von meiner Mutter hier und in der Eingangshalle hing ein großes Bild von ihr. Hast du es noch?", fragte er und zog ein Foto aus seiner Jackettasche. Diese hielt er ihr unter die Nase. Lara nahm es in die Hand. Auf dem Foto war eine junge, hübsche Frau in einem wunderschönen, blauen Kleid abgebildet. Sie ähnelte wirklich ihrer Tante, die Lara sehr gemocht hatte.
„Wow, das ist ja wunderschön", gab sie zu. Aber besaß sie das Bild noch? Sie musste überlegen. Manchen „Kram" hatte sie behalten, einiges lag auf dem Dachboden und vielerlei verkaufte sie. Doch dieses Bild in der Einganshalle?
„Ich kann mich nur dunkel erinnern", entsinnte sie sich. „Die Frage ist, ob ich so ein schönes Bild habe wegwerfen können."
„Hast du eine Idee, wo es sein könnte?", wollte Sean wissen.
„Als ich eingezogen bin, habe ich aufgeschrieben, was ich mit dem ganzen...den ganzen Sachen angestellt habe. Ich werde das Buch suchen und nachsehen", versprach sie ihm zuversichtlich.
„Ich hoffe, das macht dir nicht zu viele Unannehmlichkeiten", erkundete er sich fürsorglich. So fürsorglich wie er damals auch war, als sie zusammen spielten.
„Ach was! Ich schreibe gerade an einem Buch und das kann schließlich warten", verneinte sie seine Frage.
‚Wenn das der Verlag hören würde...', sinnierte sie im Kopf.
„Freut mich zu hören. Ruf mich an, wenn du es gefunden hast", forderte er sie auf und drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. „Ich habe noch zu tun. Wenn du also entschuldigen würdest", deutete er an, sich zu verabschieden.
„Natürlich", versicherte sie. „Nun, dann geleite ich dich zur Tür."

„Sag mal, Sean", begann Lara, als er wieder in sein Auto stieg. „Warum willst du dieses Bild?"
„Nun ja, schließlich ist meine Mutter darauf abgebildet und sie ist tot", war die nervös klingende Antwort. Er schloss schnell die Wagentür und fuhr mit seinem Mercedes davon.
‚Kommt mir ja schon etwas spanisch vor. Aber es geht um Sean, der dich damals vor diesem bösen Hund beschützt hat', dachte sie, wobei ihr ganz warm ums Herz wurde. ‚Ob er die Narbe immer noch hat?'
Doch es war fraglich, ob sie das je erfahren würde, da sich dir Narbe über seinen Oberschenkel zog. Sie schüttelte den Kopf.
‚Wie kann ich so was nur denken!'
Während sie den Gedanken belächelte, ging sie wieder ins Wohnzimmer, um ihr vorhin abgelegtes Cape zu holen. Sie legte es sich um und ging zur Verandatür. Mit einem Schub öffnete sie die Türen und betrat die Terrasse. Auf dem Geländer der Veranda standen viele Lampions, die etwas Licht auf die Dielen des Anbaus fallen ließen. Lara ließ die angenehm kühle Frühlingsluft auf sich wirken. Sie wollte noch einen Scheit in das Kaminfeuer werfen, als ihr Blick auf den glasigen Wohnzimmertisch fiel. Eine blaue Mappe lag da, aber sie gehörte nicht Lara. Sie musste Sean gehören, er hatte bei seinem Besuch die Akte unter dem Arm gehabt. Sie ging zur Mappe und wollte sie aufschlagen, zuckte dann aber zurück.
‚So was gehört sich nicht! Man schaut nicht in die Sachen fremder Leute!'
Aber war Sean denn ein Fremder? Der Wind, der von draußen kam, wehte die Akte schicksalhafter Weise auf. Sie sah ein paar Fotos von Leuten, Notizen und…dann schlug sie die Mappe schnell wieder zu.
‚Ts, ts, ts!', ging es ihr durch den Kopf. ‚Er sagte, er hab noch etwas zu erledigen und somit ist er wohl noch nicht zu Hause.' Sie nahm seine Visitenkarte aus ihrer Hosentasche hervor, die schon mit einem Eselsohr versehen war. ‚Ich werde ihm das morgen erzählen.'
Sie ging zum CD-Player und startete die Musik wieder.
„Wo war ich stehen geblieben?"