Fragen über Fragen
„...Danke, Sean!...Ja, sobald ich es gefunden habe, melde ich mich...Ciau!"
Lara hatte gerade mit ihrem Cousin Sean telefoniert und die Telefonnummer und Adresse dessen älterer Schwester erfahren.
„Sehr gut. Dann will ich mal mein Cousinchen anrufen", beschloss sie, etwas angewidert von der Vorstellung die Stimme ihrer Cousine zu hören, und tippte deren Telefonnummer ins Telefon ein. Kaum war das geschehen, nahm am anderen Ende der Leitung eine zuckersüße Frauenstimme ab und antwortete: „Hier bei Croft, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?"
„Ich möchte die Lady sprechen. Mein Name ist Lara Croft und bin ihre Cousine", erklärte Lara, etwas von der zuckersüßen Stimme verschreckt.
„Einen Moment bitte", bat die Stimme.
Ein paar Minuten später hatte ihre Cousine sich ans Telefon bequemt.
„Lara, wie schön, dass du anrufst", log ihre Cousine am anderen Ende der Leitung. Ihr Name war Regina. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte Lara sich mit Regina nie verstanden, was vielleicht daran lag, dass Lara damals in einer handfesten Auseinandersetzung Reginas Lieblingspuppe den Kopf abgerissen hatte. Dass Regina deshalb immer noch schmollte, konnte Lara sich sogar ernsthaft vorstellen. Vielleicht war es auch deshalb, weil Lara von ihrer Tante mehr Aufmerksamkeit bekam als Regina, obwohl Regina die eigentliche Tochter war und Lara nur Nichte.
„Hi Regina. Ich wollte fragen, ob es dir genehm ist, wenn ich dich morgen besuchen komme", erkundigte Lara sich. Dass sie das einmal zu ihrer „rosa Cousine", wie sie Regina nur noch beschrieb, sagen würde, hätte sie nicht gedacht und wunderte sich über ihre Worte.
„Mich besuchen? Wie komme ich zu der Ehre?", fragte Reginas vor Schleim tropfende Stimme.
‚Weil dein Bruder schlau war und mich beauftragt hat, das Bild zu finden. Ja, der war schlau.'
„Weil ich etwas von dir wissen will, das man nicht über Telefon besprechen kann", entschied sich Lara doch lieber zu sagen.
„Nun gut…ist es dir um vierzehn Uhr genehm?"
‚Je früher ich den Besuch bei dir hinter mir habe, desto besser.'
„Ist mir Recht", entschärfte sie ihre ersten Gedanken noch einmal.
„Also dann, auf bald", verabschiedete sich Regina und legte auf, bevor Lara ein kleines „Bye!" herausbringen konnte.
‚Ja, ich kann dich auch nicht leiden, Regina', ging es ihr durch den Kopf. ‚Schade, dass du zu dämlich bist ein Faxgerät zu bedienen. Dann hätte ich diesen Besuch nicht nötig.'
„Warum muss ich noch mal mitkommen?", fragte Samantha, die von ihrer Freundin in den Zug nach Cambridge mitgeschleift wurde und der nun auf dem Weg zu Reginas Anwesen gegenüber saß.
„Weil ich dich so mag?", versuchte Lara ihren eigentlichen Gedanken zu vertuschen. Regina liebte die Bilder von Samantha und besaß selbst einige Originale. Die „rosa Cousine" musste einfach darauf eifersüchtig werden, dass das verstoßene Familienmitglied eine in der Kunstbranche so anerkannte Freundin hatte.
‚Ein wenig guten Geschmack scheint sie doch zu haben', ging es Lara durch den Kopf, da sie wusste, dass Regina ansonsten eher dem Kitschigen zusprach.
„Ich schätze einfach mal, es wird sich noch herausstellen. Und warum fahren wir mit deiner Limousine und einem Chauffeur? Das ist doch sonst nicht deine Art", bemerkte Samantha und musterte Laras schickes Kostüm. „Und ein Diamantenkollier trägst sonst auch nicht."
Lara rückte ihre weiße Kleidung mit dunkelblauen Nadelstreifen zurecht. Unter der hellen Jacke guckte ein Shirt hervor, das wie ihre Schuhe, dunkelblau gefärbt war.
„Ich wollte mich etwas hübsch für meine Cousine machen", antwortete Lara, nachdem sie ihre Sonnenbrille hochgeschoben und sie in ihren offenen Haaren gefestigt hatte. Samantha kam sich daneben in ihren ‚normalen' Sachen direkt schäbig vor.
„Wir fahren doch nicht etwa zu deiner rosa Cousine?", zweifelte Samantha, die sich noch genau an Laras Beschreibungen von Regina erinnerte. Dass Laras Cousine Samanthas Bilder vergötterte, hatte sie des öfteren betont, doch Samantha wollte nicht, dass Lara mit ihrer Freundin angibt als wäre sie ein wertvoller Gegenstand. Ihre Archäologen-Freundin war genau genommen bekannter als die Künstlerin, da sie sich nicht nur auf eine Branche spezialisierte, sondern zu ihrer eigentlichen Arbeit auch noch Bücher schrieb.
„Entschuldigung, Sammie, aber ich konnte nicht widerstehen. Wenn du dabei bist, wird sie es nicht wagen Gemeinheiten auszusprechen", versuchte Lara ihre Tat zu rechtfertigen. Samantha seufzte nur aus tiefstem Herzen.
„Ich wusste ja schon immer, dass du schizophren bist, aber auf diese Weise hätte ich es nicht erwartet…"
„Okay, ich bin Britin, adlig und viel zu gut erzogen. Warum darf ich denn keine Rache ausüben? Man denkt von mir, ich würde da drüber stehen, aber irgendwann ist es genug. Die Frau hat mir so viele Gemeinheiten angetan, dass sie es verdient hat, mal so richtig neidisch gemacht zu werden!"
(Anm. der Autorin: Ich weiß, dass diese Aktion nicht wirklich zu Lara passt, aber alle haben doch Personen, die sie absolut nicht leiden können und denen würde doch jeder gerne eins auswischen, oder? Ein Mensch hat schließlich auch Eigenschaften, die nicht zu seinem festen Image passen. Auch Lara besteht nicht nur aus Oberfläche.)
„Wir sind da, Miss Croft", meldete der Chauffeur.
„Bitte, Sam", wünschte Lara mit Hundeblick zum letzten Mal, bevor die beiden ausstiegen und das Anwesen betrachteten, das etwas kleiner erschien als das von Lara. Die ein paar Meter entfernte Tür wurde ihnen schon aufgehalten und sie betraten die Villa. Eine Magd wies ihnen den Weg zum Wohnzimmer, das wie der Rest des Hauses in Pastelltönen eingerichtet war.
„Was hat die Frau für einen Geschmack?", fragte Samantha etwas entsetzt über die kitschige Einrichtung. „Ich meine…was ist das hier überhaupt?", wollte sie wissen und deutete auf eines der Bilder. Lara trat neben ihre Freundin.
„Sam, das hast du gemalt", beantwortete sie die Frage.
„Was?", fragte die Künstlerin schockiert. Sie sah abwechselnd das Bild und Lara an.
„Das war ein Witz", schmunzelte Lara. Sie wusste, dass ihre Freundin keinen Überblick mehr über all die Bilder hatte, die sie im Laufe ihrer Karriere gemalt hatte.
„Du…", fluchte Samantha zum Scherz. Dann kam die rosa Cousine übertrieben stilvoll ins Zimmer stolziert. Sie hatte eine blonde, schulterlange Haare und trug ein rosa Kostüm mit Rock. Um vollständig wie eine schlechte Barbie-Imitation auszusehen trug sie dazu rosafarbene Schuhe und eine weiße Perlenkette.
„Lara! Liebes!", begrüßte Regina ihre Cousine und reichte ihr die Hand. Eine Umarmung wäre beiden zu Wider. Nicht ganz unauffällig zeigte Lara dabei ihre silbernen mit Edelsteinen besetzten Armbänder. „Was machen deine ‚Abenteuerreisen' wie du sie nennst? Bringen sie noch genug Geld ein?", wollte Regina mit feindseliger Stimme wissen.
„Ich kann mich nicht beklagen", antwortete Lara mit künstlichem Grinsen.
„Findest du dieses wurzellose Herumpendeln immer noch ansprechend?"
„Ja", entgegnete Lara und hätte ihrer Cousine am liebsten den Hals umgedreht. „Was machst du noch gleich? Ach ja, ich vergaß: Du bist noch nie arbeiten gegangen und wirst es auch nie tun, weil Daddys Anlagen genug Gewinn machen. Klar, so kann man sich auch durchs Leben schnorren", gab Lara zurück.
‚Das hat gesessen', ging es Samantha durch den Kopf. Regina wusste so schnell nicht zu kontern und sah sich im Raum um. Ihr Blick fiel auf Samantha. Die rosa Cousine erkannte zwar die Ähnlichkeit zu der erfolgreichen Künstlerin Samantha Jones, aber glauben wollte sie es nicht so wirklich.
„Lara, du hast Begeleitung bei dir. Hat es für einen Mann nicht gereicht?", gab sie schließlich doch zurück.
‚Autsch!', dachte Samantha. Doch in Hinblick auf Reginas Reaktion, nachdem sie Samantha vorgestellt hatte, machte ihr diese Bemerkung nichts aus.
„Regina, darf ich vorstellen? Samantha Jones", machte Lara die beiden bekannt. „Ich muss dir nicht sagen, welchen Beruf sie ausübt, oder?", spöttelte sie grinsend.
„Miss...Miss Jones! Oh, was für eine Ehre!", stotterte Regina und schüttelte verlegen Samanthas Hand. Sie hasste es wie ein kleiner Star behandelt zu werden. Samantha wollte ihre Bilder malen und nicht ständig in der Presse erscheinen, wo sie gar nicht hingehörte. Ihrer Meinung nach gab es schon viel zu viele C-Klasse-Promis.
„Freut mich sehr", log Samantha.
„Leider habe ich die ‚Weltenbilder' nicht bei einer Auktion ergattern können, daher habe ich nur...", begann die rosa Cousine, wurde aber von Lara mit einem Räuspern unterbrochen.
„Verzeih, Regina, aber Samantha hat mich nur rein zufällig begleitet", meinte Lara schließlich.
‚Du hast mich gezwungen', kommentierte Samantha die Aussage Laras in Gedanken.
„Was ich eigentlich von dir wissen wollte", kam Lara auf den Punkt und zog aus ihrer Handtasche das Foto des gesuchten Bildes, „besitzt du dieses Bild?", fragte Lara und reichte ihrer Cousine die Fotographie. Sie riss es Lara unsanft aus der Hand und begutachtete es.
„Es hing damals in der Eingangshalle…Vater hat ausdrücklich verlangt, dass es in deinem Besitz bleibt, nachdem wir nach Mutters Tod ausgezogen sind", berichtete Regina tonlos und gab Lara das Foto unliebsam zurück.
„In meinem Besitz?", erkundigte Lara sich erstaunt.
„Ja. Er war nicht davon abzubringen, aber einen Grund hat keiner von uns je erfahren."
Das prachtvolle Gemälde sollte in Laras Besitz bleiben? Seans und Reginas Eltern wollten es so? Steckte vielleicht doch mehr dahinter…? Was wollte Sean wirklich?
„Na gut, mehr wollte ich auch nicht von dir wissen", beendete Lara ihren Besuch bei Regina und verließ das Wohnzimmer schnell. Samantha folgte ihr mit schnellen Schritten, sowie Regina, die anscheinend noch einen letzten Trumpf auszuspielen hatte. Ein Bediensteter hielt den drei Damen die Tür auf. Vor dem Anwesen wartete immer noch die schwarze Limousine, die Lara und Samantha hergebracht hatte. Lara öffnete die Tür und schnellte in den Wagen hinein, so wie Samantha, die befürchtete sonst in Reginas kleinem Reich festgehalten zu werden. Ein letztes Mal schaute sie durch die getönten Scheiben des Wagens und sah Regina, die mit verschränkten Armen dastand und erwartete, dass Lara sich verabschiedete. Wegen ihrer zu guten Erziehung betätigte Lara den elektrischen Fensterheber und senkte so die Scheibe.
„Auf Wiedersehen. Es war –wie erwartet- kein schöner Besuch", verabschiedete sie sich. Reginas bückte sich, um in Laras Augen schauen zu können.
„Übrigens, Cousinchen ich habe eine Errungenschaft, die du nie zuwege bringen wirst. Ich bin verlobt", prahlte sie und hielt ihrer Cousine den Brillianten vor die Augen.
„Regina", begann sie genervt, „das ist mir egal…das ist mir scheißegal", konterte Lara unbewusst und ließ ihre Fensterscheibe wieder hochfahren. Ihr Chauffeur verstand und fuhr los. Regina blieb entgeistert stehen.
Dass Samantha mit ihr auf der Rückfahrt redete, hatte Lara nicht wahrgenommen. Nun saß sie da und stocherte in ihrem Abendessen.
„Schmeckt es ihnen nicht, Miss Croft?", wollte Winston besorgt wissen.
„Nein, es ist natürlich fabelhaft. Ich bin nur nicht hungrig, das ist alles", log sie. In Wirklichkeit zerbrach sie sich darüber den Kopf, warum das Gemälde –wo auch immer es nun war- bei ihr bleiben sollte. Das Portrait musste ein Geheimnis umgeben…welches? Wusste Sean davon? Dumme Frage, natürlich. In der Mappe, die Sean vergessen hatte, waren diese Informationen, die Lara unbedingt erfahren wollte. Aber auf der anderen Seite hatte sie Vertrauen zu Sean und das konnte sie nicht so einfach übergehen.
‚Diese Fragerei…macht mich noch irgendwann mal krank', schmunzelte sie in Gedanken und richtete sich auf.
„Es mag noch ziemlich früh sein, aber ich gehe ins Bett", erklärte sie Winston, der verständlicherweise erstaunt war, dass seine sonst so nachtaktive Arbeitgeberein sich schon um halb acht zu Bett begeben wollte. „Ich weiß, es ist ungewöhnlich", gab Lara lächelnd zu, aber das war nur gespielt und das wusste Winston. Und genau so gut wusste er, dass Miss Croft nicht gern über ihre eigenen Probleme sprach und über diese lieber nachdachte, wenn sie in ihrem Bett lag und es rund um sie herum still war.
„Gute Nacht, Miss Croft. Schlafen Sie gut", wünschte Winston seiner Arbeitgeberin.
„Danke, ebenfalls", gab Lara zurück und verließ das Esszimmer.
In ihrem Raum angekommen, machte sie sich sofort schlaffertig. Sie putzte sich die Zähne, wusch ihr Gesicht und kämmte ihre Haare durch. Danach zog sie sich bis auf den Slip aus, schmiss ihre Kleidung über die Lehne eines Stuhls und nahm sich aus dem Kleiderschrank ein kurzes, dunkelrotes Seidennachthemd hervor. Dieses streifte sie sich über und ging zum Fenster. An dieses prasselten dicke Regentropfen.
„Morgen muss ich meinen Parcours also wieder im Matsch absolvieren", sah sie voraus, zog die Vorhänge zu und legte sich ins Bett. Irgendwann, nachdem sie ohne Ergebnis über alle ihre Fragen nachgedacht hatte, schlief sie ein.
Dass sie morgen den Parcours nicht absolvieren werden könnte und dass die Antwort auf all ihre Fragen in greifbare Nähe rückte, ahnte sie nicht.
