Samantha hatte die besprochenen Angaben auf dem Revier gemacht und wollte nun eigentlich wieder nach Hause, doch dann fiel ihr ein, dass sie nun einen Termin hatte, mit dem Mann, von dem sie ein Portrait malen sollte. Mit Charles James West. Sie wies den Taxifahrer an, sie zu ihm zu fahren. Der gehorchte und fuhr sie zu einem edlen Viertel in London, in dem nur große und prachtvolle Häuser standen. Bei einem der am Teuersten aussehenden Villen sollte der Fahrer anhalten und sie herauslassen. Der Taxifahrer staunte bei dem Anblick des Hauses nicht schlecht. Samantha gab ihm viel zu viel Geld und stieg schnell aus. Der grimmige Pförtner am Eingang öffnete ihr das Tor und ließ sie eintreten. Die dunkle Atmosphäre des Hauses ließ ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken laufen. Der Butler des Hauses hatte entweder übersinnliche Fähigkeiten oder er konnte die Haustür per Video überwacht sehen- jedes Mal, wenn Samantha kam, öffnete er die Tür schon bevor die überhaupt in die Nähe der Schwelle getreten war. So auch dieses Mal. Schnell trat sie ein und wandte sich der großen Treppe in der Eingangshalle zu. Am Ende der Treppe stand aber schon jemand, nämlich Charles James West, ein alter Mann mit halber Glatze und Bart.
„Miss Jones, Sie sind etwas spät", gab er verachtend ab.
„Mir ist etwas dazwischen gekommen. Verzeihen Sie", entschuldigte Samantha sich, obwohl sie es nicht so meinte.
„Nun ja...gehen Sie schon mal in den Zeichenraum, ich stoße gleich zu Ihnen", wies er sie an. Samantha nickte, bestieg die Treppe und suchte den Raum auf, in dem sie von dem alten Mann ein Portrait malte.
Charles James West ging noch einmal in den Raum, aus dem er gekommen war. In dem elegant eingerichtetem Zimmer lag eine Frau auf einer Liege. Sie war blond und hatte braune Haut. Um ihren Arm war ein Verband gewickelt; sie trug ein zebragestreiftes Kleid, nur die kurzen Ärmel waren vollkommen schwarz. Dazu trug sie schwarze Stiefel mit Absätzen und eine goldene Kette um ihren Hals. Wie immer saß ihr Make-up perfekt und wie immer hatte sie einen Schönheitsfleck oberhalb der Lippen.
„Wie fühlst du dich, Mariah?", fragte Charles James West besorgt.
„Es war nur ein kleiner Schwindelanfall", erklärte sie und richtete sich auf. „Verdammte Croft", murmelte sie, als sie wieder Schmerzen im Arm verspürte.
„Du musst nicht bei der Sitzung dabei sein", beruhigte er sie.
„Ich weiß...aber ich muss mit Samantha Jones reden...", meinte sie und stand auf.
„Wie du meinst. Komm, Miss Jones wartet bestimmt schon."
Sie nickte und folgte Charles James West.
Samantha saß im Zeichenraum, wo immer noch unverändert die Staffelei stand, auf der man noch nicht richtig erkennen konnte, was für ein Motiv sie zeichnete. Die Farben auf einem kleinen Tisch daneben wurden von Charles James West bereit gestellt. Neben der Tür stand wie jedes Mal ein Bodyguard, der Samantha immer so beäugte, als würde sie gleich einen der antiken Gegenstände im Raum einstecken. Der Raum war voll mit ägyptischen Fundstücken. Karten und andere Schriftstücke hingen an den Wänden und Vasen befanden sich auf Podesten. Sie verbesserte gerade etwas, als Charles James West in Begleitung von Mariah Powell den Raum betrat.
„Guten Tag, Miss Jones", begrüßte Mariah Samantha.
„Guten Tag, Miss Powell", grüßte Samantha zurück.
Zwei Stunden lang malte Samantha an dem Portrait weiter, wobei Mariah Powell durch den Raum auf und ab schritt und Samantha manchmal wie gebannt auf die Finger sah. Es wurde nicht viel geredet, nur hin und wieder fand ein kleiner Wortwechsel statt. Samantha mochte den grimmigen, alten Mann nicht. Mariah Powell schien recht interessiert an der Künstlerin und verhielt sich immer recht freundlich ihr gegenüber. Nach den besagten zwei Stunden war die Sitzung beendet und Charles James West zog sich zurück. Samantha wollte nur noch ein paar Feinheiten bearbeiten. Sie bemerkte, dass Mariah noch im Raum war.
„Wollen Sie nicht zu Mister West?", erkundigte Samantha sich.
„Nein. Ich möchte Ihnen etwas zeigen", erklärte sie ihr.
„Und was?"
„Verfeinern Sie noch kurz die Details. Es wird Ihnen sicher gefallen."
Sie wusste nicht, was Mariah vor hatte, ahnte aber keine Gefahr und folgte ihrem Wunsch. Nach ein paar Feinheiten folgte sie Mariah durch die Gänge des geräumigen Hauses. Nach einigen Metern standen sie vor einer großen Tür, die Mariah vorsichtig öffnete. Die beiden Frauen traten ein.
„Wow...", brachte Samantha als einziges hervor. Sie waren in einer großen Halle, in der massig Bilder hangen. „Die sind alle in Ihrem Besitz?"
„Ja. Aber sehen Sie bitte dort", stimmte sie zu und drehte sich um. Über der Tür hingen fünf Gemälde.
„Oh...die sind ja von mir."
„Richtig, Miss Jones. Und zu diesen fünf Gemälden habe eine Frage. Warum haben Sie diese Werke gemalt?", fragte sie und schaute Samantha in die Augen.
Samantha sah die fünf Bilder an. Sie erinnerte sich genau. Eine kleine Reihe von Bildern hatte sie gemalt, die „Weltenbilder". Sie stellten verschiedene Phasen der Zeit dar.
„Als ich diese Reihe gemalt habe...habe ich sehr viel über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachgedacht. Und da...sind diese Bilder einfach entstanden...", erklärte Samantha.
„Ach so...", meinte Mariah und starrte die Gemälde sehnsuchtsvoll an. Ein Schmerzblitz fuhr durch ihren verwundeten Arm. „Nun, das war auch alles. Wenn Sie mich entschuldigen würden."
„Natürlich...Was haben Sie eigentlich mit Ihrem Arm gemacht?"
„Ein nächtlicher Unfall", antwortete sie nachdenklich.
„Also...auf Wiedersehen", verabschiedete Samantha sich.
„Ja...", meinte Mariah und starrte wieder auf die Bilder.
‚Oh Gott, Samantha! Dein Auto ist doch noch beim Brookwood Hospital!', schoss es ihr in den Kopf, als sie draußen stand. Ein Blick in ihr Portomanne verriet ihr, dass sie nicht mehr genug Geld für ein Taxi hatte.
‚Dann eben ein schöner Spaziergang!', dachte sie sich und verließ das Viertel. Aus einem Fenster im zweiten Stock beobachtete Mariah Samantha.
„Die Zukunft...", murmelte sie.
