Aufklärung
Am nächsten Tag stand Lara früh auf und ließ sich nach St. Austell fliegen. Um zehn Uhr morgens saß sie ungewollt in Seans „Wartezimmer", wenn man es so nennen mochte.
„Möchten Sie einen Tee?", fragte das freundliche Hausmädchen. Ihr Name war Beth. Lange, schwarze Haare, hübsches Gesicht, zartblasse Haut und die Gutmütigkeit in Person.
„Nein, danke. Wie lange dauert das denn noch? Ich warte schon seit zehn Minuten. Was macht er da drin?", erkundigte Lara sich ungeduldig und deutete auf die Tür zu seinem Arbeitszimmer.
„Er verwaltet eben seine Ländereien", antwortete Beth, obwohl sie klang, als wüsste sie nicht, wovon sie sprach. Da öffnete sich die Tür zu Seans Arbeitszimmer.
„Beth, wer will mich denn so dringend sprechen?", erkundigte er sich bei seinem Hausmädchen. Da fiel sein Blick auf Lara. „Ach, Lara! Du bist es! Komm doch rein", bat er sie. Ohne ihre schlechte Laune zu verstecken, folgte sie ihm in sein Arbeitszimmer.
„Schön hast du's", gab sie in ironischem Ton von sich. Sein Arbeitszimmer war voll von Regalen, die mit Akten gefüllt waren. In der Mitte stand sein Schreibtisch mit einem Computer und einem Telefon. Dazu fand sich eine Couchgarnitur, auf der ca. acht Personen Platz fanden, in einer Ecke des Raumes. Die Dekoration entsprach eher dem Kitschigen. Als Lara eingetreten war, schloss er die Tür und wies Lara die Couch. Sie nahm an und setzte sich.
‚Warum hat diese Seite der Familie so einen furchtbaren Geschmack, dachte sie.
Sean hob die Augenbrauen.
„Was ist denn mit deinem Arm?"
„Kannst du dir das nicht denken?", konterte sie.
Sean konnte sich vorstellen, was geschehen war, aber er wollte sein Geheimnis natürlich nicht gern preisgeben.
„Ich gebe dir einen Tipp", meinte Lara kühl und zog aus ihrer Jackentasche einen Revolver.
„Lara…was soll das?", fragte Sean verdutzt und nicht ganz sicher, ob Lara scheute die Handfeuerwaffe einzusetzen.
„Ich dachte, es wäre angebracht, dass auch dich jemand so überrascht", deutete Lara weiter an. „Weißt du…", begann sie mit wuterfüllten Augen ihren Vortrag, „eines nachts kamen Leute auf mein Anwesen. Sie suchten die Pyramide des Horus. Sagt dir das etwas?", erkundigte Lara sich. Sie hatte Mühe nicht ihren ganzen Zorn auszuleben.
„Nicht zu fassen…", murmelte Sean etwas verwirrt.
„Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen!" Sie hob ihre Stimme. „Eine Dame und ihr Gefolge haben mir mitten in der Nacht einen Besuch abgestattet. Sie haben ganz wild nach einem Teil der Pyramide des Horus sucht und es übrigens gefunden. Ich hätte gerne eine Erklärung von dir, Cousin!", warf sie ihm vor.
„Das tut mir Leid", gab Sean zu erst von sich. Laras Zorn wuchs.
„Es tut dir Leid? Du hast die Frechheit zu sagen es tut dir Leid! Diese Schusswunder hat nur knapp mein Herz verfehlt! Hätte diese Frau getroffen, wäre ich jetzt tot! TOT!" Sie deutete auf ihr Herz. Sean war sich bewusst, dass im Prinzip er für Laras Leiden verantwortlich war und fühlte sich ziemlich schuldig. Er setzte sich gegenüber von seiner Cousine.
„Ich kann dir das erklären."
„Oh, na da bin ich ja mal gespannt!"
Er begab sich zur Couchgarnitur und setzte sich gegenüber von Lara, die den Revolver wieder einsteckte.
„Also...das alles ist auf ein Jahrtausende altes Geheimnis zurückzuführen. Damals im alten Ägypten, als Pharaonen regierten. Der damalige Herrscher Merenre bestimmte kurz vor seinem Tod seine Frau zu seiner offiziellen Nachfolgerin. Merit...sie war laut Überlieferungen eine sehr gute Gebieterin. Der Hofstaat war aber mit einer weiblichen Herrschaft überhaupt nicht zufrieden und verbreitete Lügen über Merit. Schließlich glaubte das Volk, was der Adel sagte. Sie starteten eine Auflehnung gegen die Pharaonin und stürzten sie schließlich. Aber sie betete zu Horus und wollte eine zweite Chance. Um diese zu erhalten, wollte sie ihm die dunkle Seite ihrer Seele geben, damit sie nicht ungerecht entschied. Horus willigte ein und gab ihr einen Schlüssel zu großer Macht. Dieser wurde von Horus' Priestern in einem geheimen Tempel schon lange davor beschützt, aber nur die wenigsten wussten davon und stempelten es als Quatsch ab, da es keinerlei Anzeichen auf diesen Tempel gibt. Der Schlüssel, der sich dort befinden soll, ist die Pyramide des Horus. Werden alle fünf Teile der Pyramide in diesem verborgenen Tempel irgendwo in Ägypten zusammengesetzt, so soll sich das Geheimnis ihrer Macht offenbaren. Als Merit den Tempel aufgesucht hatte, wurde ihr die Pyramide ausgehändigt. Sie vollzog ein Ritual, erlangte große Kraft und rächte sich. Dabei entschied sie immer im Rechten, denn sie hatte ja ihre dunkle Seite Horus gegeben. Aber...es gibt ohne Ying kein Yang...Das Gute kann nicht ohne das Böse existieren. Merits Seele zeriss und auch die Pyramide fiel in ihre fünf ursprünglichen Teile auseinander. Nun war es aber kein Geheimnis mehr, dass ein Schlüssel zu so großer Macht existierte. Die Priester des Horus beschlossen mit ihren Familien und je einem Teil der Pyramide weit weg zu gehen, wo damals noch keine Menschen lebten. Die Familien sollten die fünf Teile für immer wohl behüten, dass niemand die Macht mehr entfesseln konnte. Und eine dieser Familien ist unsere, Lara."
Sie schaute ungläubig drein.
„Aber... warum man mich angegriffen hat, weiß ich immer noch nicht", konterte Lara.
Noch einmal holte er tief Luft.
„Alles lief wie man es geplant hatte...bis heute. Jemand hat die Pyramide und deren Geschichte entdeckt. Wie auch immer sie davon erfahren haben…Die beiden haben das erste Teil in Schweden gefunden. Dann fanden sie heraus, dass sich das zweite Stück in unserem Familienbesitz befindet. Sie forschten nach, wer von diesem Geheimnis wusste. Meiner Schwester und mir hat man nichts darüber verraten und meine Eltern, die davon wussten, sind tot. In unserer Familie drohte das Geheimnis vergessen zu werden. Gewaltsam wurde ich eines Tages eingeweiht. Warum auch immer sie mich ausgesucht haben…"
„Sie haben wahrscheinlich deine Schwester gesehen", unterbrach Lara.
„Wahrscheinlich." Er lächelte matt. „Die Lebensgefährtin des Mannes, der die ganze suche finanziert, gab mir eines der Stücke in die Hand. Ich konnte die Hieroglyphen darauf entziffern und las sie. Kurz darauf erschienen mir die verschiedensten Orte und Menschen. Und außerdem…", er zog sein Shirt über seine Schulter, sodass sein Oberarm zu sehen war. Auf diesem prangte ein Ankh, „erschien dieser Ankh. Das Zeichen des Horus. Jeder, der in der Familie davon weiß, hat so einen auf seinem Oberarm. Sie stellten mir alles Mögliche zur Verfügung, um diese Menschen, die in Besitz der Stücke der Horuspyramide sind, ausfindig zu machen."
„Warum hast du das getan?", unterbrach Lara noch einmal, deren Wut sich eingedämmt hatte.
„Sie sagten, wenn ich mich weigern würde, alle Menschen, die in ich in meiner Vision sah, ausfindig zu machen, würden sie alle, die mir lieb sind, töten."
Stille trat ein.
„Jedenfalls", führte Sean das Gespräch fort, „Habe ich in meiner Vision auch dich gesehen und das Bild meiner Mutter. Man sagte mir zwar, dass sie sich lieber selbst darum kümmern würde, wenn es nicht schnell genug ginge, aber dass sie so eine kurze Frist..."
„Also wolltest du mich nur schützen?", fragte Lara berührt.
Sean nickte.
‚Und ich habe ihm Vorwürfe gemacht…Lara, du dumme Gans', schimpfte sie sich selbst in Gedanken.
„Verzeih…", bat sie ihren Cousin.
„Indirekt bin ich dann doch für deine Wunde verantwortlich. Du musst nicht um Verzeihung bitten", entgegnete Sean.
„Wie wird es denn nun weiter gehen?"
„Ich weiß es nicht, Lara."
„Wir müssen etwas unternehmen! Unsere Feinde dürfen ihr Ziel nicht erreichen!", meinte Lara enthusiastisch und stand auf.
„Und wie stellst du dir das vor?", fragte Sean ungläubig.
„Zuerst müssen wir herausfinden, wo sie die Stücke versteckt halten", begann Lara und schritt zum Fenster, „diesen Ort werden wir erforschen und die Schwachstellen der Überwachungsmethoden herausfinden."
Sean stand ebenfalls auf und stellte sich hinter Lara.
„Tu mir einen Gefallen, Lara: Unternimm nichts!", bat Sean. Lara drehte sich um.
„Sean, diese Pyramide kann vielleicht das gesamte Gleichgewicht der Erde auseinander bringen! Wir sollen nichts tun? Und zusehen wie die Erde verwüstet wird? Sean, denk doch mal klar nach!", warf sie ihm vor.
„Lara, es reicht, dass ich da hineingeraten bin! Ich hätte dir das alles nie erzählt, wenn ich dir nicht vertrauen würde. Ich will dich nicht in Gefahr bringen!" Er umarmte sie. „Bitte misch dich nicht ein. Jedes Mal, wenn du von einem Abenteuer zurückkommst, bin ich erleichtert in der Zeitung zu lesen ‚Lara Croft kehrte lebend zurück'."
„Aber Sean, ich-"
„Tu mir diesen Gefallen, Lara. Ich will dich nicht in Lebensgefahr bringen", versuchte er sie weiter zu überzeugen und drückte sie fester an sich. Lara versuchte die Umarmung zu lösen.
„Weißt du, was du da von mir verlangst, Sean? Zusehen wie die Welt in ihr Verderben gerät? Die Gefahr ist mein Leben. Das weißt du doch."
Ernst sah er seine Cousine an und verzog keine Miene.
„Du Idiot", warf sie ihm an den Kopf, befreite sich aus der Umarmung und verließ das Zimmer. Sean setzte sich wieder auf die Couch.
Lara schritt gerade mit schnellen Schritten zur Haustür, wurde jedoch durch Rufe aufgehalten.
„Miss Croft, bitte warten Sie!", bat das Hausmädchen Beth und ging auf Lara zu, die stehen geblieben war. Sie wollte sich jedoch nicht umdrehen, da ihr immer noch ein Klos im Hals steckte.
„Was wollen Sie?", fragte Lara und versuchte nicht zittrig zu klingen.
„Hat er Ihnen von allem erzählt?", wollte Beth wissen.
Lara nickte.
„Es geht mich ja eigentlich nichts an…und ich will auch nicht neugierig erscheinen, aber ich habe das alles mitbekommen und…"
„Sagen Sie, Beth", Lara drehte sich zu ihr um, „Sie mögen Sean sehr, nicht wahr?", fragte Lara matt lächelnd. Beth wurde ganz rot.
„Nun ja, ich…", stammelte sie und spielte nervös mit ihren Händen herum. Lara musste schmunzeln.
„Passen Sie auf ihn auf", bat Lara und verließ das Haus so schnell wie möglich. Schnell stieg sie in ihr von einem Chauffeur gelenkten Wagen und wünschte zurück zum Privatflughafen gefahren zu werden. Nachdem sie die Trennscheibe zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Wagens hoch gefahren hatte, stützte sie sich mit den Ellenbogen auf ihre Oberschenkel.
„Ach, Sean…das stellst du dir so einfach vor…ich dachte du kennst mich", murmelte sie traurig in sich hinein.
Nachwort: Ich mag Beth...und zusammen mit Sean mag ich sie noch mehr:-)
