Verhandlungen
Lara war in einem Gewissenskonflikt. Sollte sie den Wunsch ihres Cousins respektieren oder sich darüber hinwegsetzen und gegen ihre neuen Gegner kämpfen? Irgendetwas hielt sie zurück, einfach auf ihrer Pflichtgefühl zu hören und etwas dagegen zu unternehmen. Was?
Sie saß in ihrem Wohnzimmer. Die Standuhr zeigte 11:33 Uhr an. Auf ihrem Couchtisch lag Seans Mappe. Lara beschloss noch einmal hinein zu sehen. Als sie die Akte aufschlug entdeckte sie am Rand Seans Gekritzel.
‚Deine Handschrift ist furchtbar, Sean', dachte sie schmunzelnd. Da fiel ihr eine Zahlenfolge ins Auge. Sie war eingekreist und darüber stand Mariah Powell.
„Das ist eine Handynummer", murmelte sie. „Die von Mariah Powell."
Da fiel ihr wieder die genaue Szene bei ihrem Einbruch ein. Gerade hatte sie ihr den Revolver aus der Hand geschossen und blickte in ihre dunkelblauen Augen.
„Mein Name ist Mariah Powell. Merk ihn dir gut", hatte sie Lara geraten. Die Archäologin rieb sich die Stirn.
‚Wenn du wüsstest wie schnell man deinen Namen vergessen kann, Mariah', ging es Lara durch den Kopf. Nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder gefangen. Sollte sie Mariah anrufen? Aber wozu? Was sollte sie einer Frau sagen, die vor ein paar Wochen in ihr Haus eingebrochen war? Trotzdem nahm sie ihr Handy vom Tisch und tippte die Nummer ein. Eine Zeit lang sah sie auf die Nummer und tat nichts. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drückte „anrufen".
Im Haus von Charles James West war Samantha gerade wieder am Arbeiten. Sorgfältig zog sie die Pinselstriche, mit einer ruhigen Hand, um die sie so mancher beineiden würde. Mariah Powell stand neben Samantha. Einen Verband um den Arm trug sie nicht mehr. Da ertönte Mariahs Handy, das sie sicher in ihrer Hosentasche verstaut hatte.
„Entschuldigen Sie mich", meinte sie zu Samantha und öffnete die Tür zu dem Balkon des Zimmers. Samantha sah ihr etwas verwundert hinter her.
„Eine unbekannte Nummer", murmelte Mariah, als sie auf das Display sah. Die wenigsten hatten ihre Handynummer. Wer sollte sie anrufen? Trotzdem nahm sie ab.
„Hallo?"
„Hallo?", hörte Lara eine weibliche Stimme sagen.
„Guten Tag. Hier spricht Lara Croft. Sie kennen mich vielleicht noch, Miss Powell?", fragte Lara. Mariah sah erstaunt drein. Woher hatte Lara Croft ihre Handynummer?
„Wie könnte ich Sie vergessen. Was wollen Sie?"
Lara überlegte. Sie wusste es selbst nicht.
„Haben Sie schon das nächste Stück gefunden?", wollte Lara nach Überlegung wissen.
„Glauben Sie ernsthaft, dass ich Ihnen das sage?", konterte Mariah und grinste fies.
„Ich persönlich sehe es als meine Pflicht an, sie und Mister West aufzuhalten", beschloss sie kurzerhand. Lara wusste, dass es sich in Mariahs Ohren lächerlich anhören würde, aber da war es schon zu spät. Wie erwartet musste Mariah lachen.
„Wie amüsant. Und wie wollen Sie das anstellen?"
„Glauben Sie mir, ich habe da schon ein paar Hinweise", antwortete Lara und fixierte Seans Mappe. Sollte er doch sagen, was er wollte. Das Schicksal der Erde war und ist wichtiger als Familienangelegenheiten.
„Oh, Miss Croft. Das stellen Sie sich zu einfach vor", entgegnete Mariah.
Samantha hatte unvermeidlich ein paar Fetzen der Diskussion mitgehört. Und „Miss Croft" hatte sie am Deutlichsten verstanden. Mit einem Mal passte alles zusammen. Lara hatte erzählt, sie habe ihrer Feindin an den Arm geschossen. Am nächsten Tag trägt Mariah Powell einen Verband um den Arm und antwortet auf die Frage wie das passiert sei „ein nächtlicher Unfall". Also musste die Lebensgefährtin ihres Auftraggebers in das Haus ihrer besten Freundin eingebrochen sein. Den Rest des Telefonats wollte sie jedoch auch hören. Wer weiß, was noch gesagt werden sollte.
„Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue", konterte Lara.
„Lassen Sie mich überlegen…wir können so viele Menschen für uns arbeiten lassen wie wir wollen und da nehmen Sie sich vor, uns aufzuhalten? So einfach ist das nicht, Lara."
„Für Sie immer noch Miss Croft."
„Und wenn Sie alle gefunden haben? Was machen Sie dann damit? Wollen Sie etwas zerstören, dass von einem Gott erschaffen wurde? Das dürfte selbst ihre Kräfte übersteigen, Miss Croft."
„Das überlege ich mir, wenn ich ihnen alle fünf Teile abgenommen habe."
„Gut…schön…diese Waghalsigkeit könnten allerdings Freunde von ihnen mit dem Leben bezahlen, Miss Croft."
Lara rann ein Schweißtropfen über die Stirn. Mariah Powell hatte viel Macht; das war klar. Und mit dieser überaus billigen Methode würde sie Lara zu einem Rückzieher bewegen.
„Haben Sie eigentlich jemandem von meinem Besuch erzählt? Dann wäre es leichter für mich, eine Reihenfolge aufzustellen, wenn Sie verstehen, was ich meine."
„Und wenn ich es Ihnen sage?", fragte Lara.
„Dann würden vielleicht nicht alle Ihre Bekannten mysteriöserweise sterben."
Was tun? Entweder Samantha verraten, um Laras andere Freunde zu retten oder alle in Gefahr bringen? Lara hasste sich schon vorher dafür, als sie sich entschied.
„Hören Sie zu, Miss Powell. Ich habe nur einer Person davon erzählt, nämlich meiner besten Freundin Samantha Jones", sprach sie in den Hörer. Sie wusste, dass es mies von ihr war, ihre beste Freundin in Gefahr zu bringen, aber sie musste für einen Moment kaltherzig denken und auf ihre anderen Freunde und Bekannten acht geben.
Mariah schien erstaunt. Auch Samanthas Blick hatte sich Mariahs überraschtem Gesicht zugewandt.
„Miss Jones, ich bezahle sie schließlich nicht dafür, dass Sie aus dem Fenster sehen!", ermahnte West mit zorniger Stimme.
„Verzeihung", murmelte Samantha, die eigentlich nicht seine Worte, sondern nur seine verärgerte Stimme gehört hatte.
„Samantha Jones sagen Sie?", hinterfragte Mariah noch einmal.
„Ja!", gab Lara wütend auf sich selbst von sich.
„Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Sache", antwortete Mariah und blickte Samantha Jones durch die Glastür an. Samantha fühlte, dass Mariahs Blick auf ihr ruhte.
„Warum?", fragte Lara erstaunt.
Mariah musterte Samanthas Statur.
‚Sportlich…dürfte nicht behindern, sondern eher nützlich sein…', dachte Mariah.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Croft", begann sie, „sie können auf die Suche nach den Pyramidenstücken gehen. Aber nehmen Sie auf ihr Abenteuer Samantha Jones mit."
Laras Augen weiteten sich.
„Aber…warum?", fragte diese völlig verwirrt. Samantha hatte keine sonderliche Erfahrung, was Laras Arbeitsgebiet anging.
„Fragen Sie nicht. Tun Sie, was ich sage", gab Mariah kühl zurück.
Samantha hatte Mariah Powells Teil der Unterhaltung mitgehört und war so verwirrt, dass sie die Farben und den Pinsel hinwarf, ihre Sachen mit farbverschmierten Fingern zusammenpackte und zur Tür rauschte.
„Entschuldigen Sie", bat Samantha „Ich muss noch zu einem wichtigen Termin. Ziehen Sie die fehlende Zeit ruhig von meinem Honorar ab. Widersehen!", gab sie als Erklärung ab und verließ prompt den Saal und Sekunden später das Anwesen.. Charles James West war verwundert, konnte aber die Künstlerin nicht aufhalten. Mariah hatte dies mitbekommen. Sie wusste, dass Samantha mitgehört hatte, machte sich aber keine besonderen Gedanken. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich als Laras gute Freundin entpuppt hatte. Sie würde nun zu Miss Croft fahren und sie dort um Erklärung bitten.
„Abgemacht?", fragte Mariah.
Lara war verwirrt, aber was blieb ihr anderes übrig?
„Abgemacht!", versicherte Lara.
„Sehr gut. Sie kennen die Konsequenzen, wenn Sie sich nicht an diese Abmachung halten."
So beendete Mariah Powell das Gespräch und legte auf. Sie drehte sich um und sah Samantha davonfahren.
„Mariah, weißt du, was mit Miss Jones los ist?", fragte Charles James West, der auf den Balkon getreten war.
„Ja", antwortete Mariah und erzählte von ihrem Plan.
Lara fühlte sich miserabel. Hundsmiserabel. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie einen Menschen, der ihr so wichtig war, verraten hatte. Vor allem hatte sie keinen blassen Schimmer, was Mariah Powell plante. Es könnte alles sein. Von Mord bis zu spezifischen Foltermethoden oder Samantha weiß zu machen, dass sie Stimmen hört, damit sie in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Lara warf den Telefonhörer auf den Couchtisch und legte sich rücklings auf das Sofa. Da fing das Telefon wieder an zu klingeln, doch Lara wollte nicht abnehmen.
„Soll ich rangehen, Miss Croft?", erkundigte sich die Magd, die vor ein paar Sekunden mit einem Staubtuch in das Zimmer gekommen war.
„Ja, bitte", antwortete Lara geistesabwesend.
„Hier bei Croft", meldete die Magd sich. „Ja, genau…was? Schrecklich!"
Lara wachte aus ihrer Trance auf. Sie hatte eine bittere Vorahnung.
„Das werde ich. Auf wiederhören."
„Wer war das?", wollte Lara sofort wissen.
„Das Bethlam Royal Hospital. Sie sagen, heute morgen hätte man ihnen ihren Cousin Sean überwiesen, da die Klinik hier in London mehr Möglichkeiten hat…"
„Was? Wo liegt er?", fragte Lara etwas panisch.
„Auf der Intensivstation."
Sofort sprang Lara auf, rannte zu ihrem Wagen und fuhr so schnell wie möglich los, mit nichts weiter als einer Hoffnung für Sean.
Nachwort: Meine ganzen Krankenhäuser gibt es übrigens wirklich! -g-
