Zusammentragung

„Sie dürfen da nicht rein!", versuchte ein Krankenpfleger Lara davon abzuhalten, das Zimmer, in dem Sean lag, zu betreten. „Mister Croft ist in Lebensgefahr!"
„Er will mich sehen!", erwiderte Lara noch einmal und schubste den Pfleger beiseite. Sie betrat den Raum und sah Sean- im Bett, an über zehn Schläuche angeschlossen und kurz davor, ohnmächtig zu werden. Aber er wollte noch wach bleiben, er musste noch einmal mit Lara reden.
„Sean!", meinte sie besorgt, als sie ihn sah. Sean sah zu ihr.
„Lara...", brachte er hervor, nachdem Lara sich neben dem Bett hingekniet hatte und seine Hand hielt. Sie zitterte.
„Sean, wer hat dir das angetan?", fragte sie besorgt.
„Powell...wollte mich.…töten...Lara...dein Arm...", sprach er, was ihn sehr anstrengte. „Ein Ankh...ein Ankh...Visionen…schau in die…die Mappe…halte sie auf…"
Lara verstand nichts. Ankh? Visionen?
„Charles James West und Mariah Powell, soll ich die beiden aufhalten? Meinst du die beiden Sean?"
Er nickte nur. Lara hielt seine Hand, immer fester. Sie wollte, dass er dagegen drückt, er war doch noch wach! Dass ein Haufen Ärzte in den Raum kamen, merkte sie erst, als sie herausgezerrt wurde. Lara war sich nicht ganz bewusst darüber, aber sie weinte. Sie fühlte sich nicht gut, schwach fühlte sie sich, als die Ärzte sie aus dem Raum schoben und auf eine Bank setzten. Er würde ins Koma fallen und er würde sterben, dafür hatte Mariah Powell gesorgt. Wut erfüllte sie, aber noch stärker als die Wut, die sie empfand, war die Trauer. Sie brach zusammen und weinte nur noch.
„Sean...Sean...", heulte sie. Er konnte doch nicht sterben! Doch nicht der Sean, mit dem sie im Sommer immer zu den großen Erdbeerfeldern gegangen war und dort haben sie immer gesessen und verbotenerweise die Früchte genascht. Sean konnte nicht sterben!

„Danke", meinte Lara zu Beth, die ihr gerade einen Becher Kaffee gereicht hatte. Auch sie war seit der Einlieferung anwesend. Beide sprachen kaum ein Wort, da sie in Gedanken bei Sean waren, der gerade operiert wurde. Beth trank ihren Kaffee vollständig aus.
„Ich gehe mir die Beine vertreten", murmelte sie beim Aufstehen. Lara starrte nur auf die schwarzbraune Flüssigkeit in dem Plastikbecher. Einige Minuten saß sie allein da.
„Hey", hörte Lara jemanden sagen. Doch sie wollte nun nicht reden und ignorierte die Stimme einfach. Dann setzte die Person sich neben sie und umarmte Lara. Die Archäologin erkannte den Geruch. Samantha.
„Man sagte mir, du seiest wegen Sean hier. Was ist mit ihm?", erkundigte sich Samantha mit sanfter Stimme.
„Ich weiß es nicht, Sam. Und es ist mir auch egal. Ich will nur, dass er wieder gesund wird", antwortete Lara den Tränen nahe.
„Das kann ich verstehen."
Stille.
„Lara, heute morgen…da hast du doch mit Mariah Powell telefoniert, oder?", fragte Samantha schließlich. Die Archäologin sah ihrer Freundin ins Gesicht.
„Woher-"
„Von ihren Lebensgefährten male ich ein Portrait. Von Charles James West."
Stille.
„Ist Sean…deshalb…?", wollte Samantha dann wissen. Lara nickte.
„Bestimmt."
„Wer ist diese junge Dame?", erkundigte Samantha sich und nickte mit dem Kopf zu Beth herüber.
„Das ist sein Hausmädchen. Sie…ist in ihn verliebt."
„Wie heißt sie?"
„Beth."
„Weiß sie etwas darüber?"
„Sie wollte mir nicht mehr sagen als, dass sie ihn blutüberströmt gefunden hat." Lara schluckte den Klos in ihrem Hals herunter. „Aber, als ich gestern mit ihr gesprochen habe, hat sie Andeutungen gemacht, dass sie etwas weiß."
Beth stand derweil vor dem Eingang zum OP-Raum. Wann würde es wohl Neuigkeiten geben? Samantha ging zu ihr herüber und bat sie sich zu ihr und Lara zu setzen. Die Künstlerin stellte sich vor die beiden psychisch angespannten Frauen.
„Ich weiß, es ist nicht einfach. Weder für dich Lara, noch für Sie Beth. Ich darf Beth sagen?", fragte Samantha. Das Hausmädchen nickte. Beth hatte ihre Arme verschränkt im Schoß und sah auf den Boden. Lara hingegen starrte immer noch auf ihren Kaffee.
„Bitte schaut mich an, wenn ich mit euch rede", bat Samantha.
Beide erhoben ihre Köpfe und sahen die Künstlerin an.
„Das ist die Grundlage. Wir sollten alle Informationen zusammentragen, die wir haben. Ich will anfangen: Eines Tages bekam ich den Auftrag ein Portrait von Charles James West zu malen. Ich nahm an, da ich im Moment nicht sonderlich kreativ bin. Er lebt mit vielen Bediensteten und seiner Lebensgefährtin Mariah Powell zusammen in einer Villa hier in London. West behandelte mich schon immer wie ein notwendiges Übel. Seine Geliebte Mariah war immer sehr freundlich zu mir."
„Dieses Mist-"
„Lasst mich erzählen!", unterbrach Samantha die beiden. „Danke. Aber ihre Freundlichkeit fand ich persönlich manchmal etwas unheimlich. Ich kenne sie nicht besonders. Das war mein Part. Lara?"
Die Archäologin schluckte und holte tief Luft.
„Eines Tages kam Sean mich besuchen. Ich habe mich gefreut, weil wir uns lange nicht mehr gesehen haben. Er beauftragte mich nach einem Bild zu suchen, das laut meiner rosa Cousine auf ausdrücklichen Wunsch meines Onkels und meiner Tante in meinem Besitz bleiben sollte. Dann brach eines nachts Mariah Powell mit ihrem Gefolge bei mir ein. Sie suchten etwas und sie fanden es…in dem Bild, das ich von Sean finden sollte. Sowohl Mariah Powell als auch ich trugen eine Schusswunde davon. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, besuchte ich Sean und bat ihn um Erklärung. Er erzählte mir von einer Jahrtausendealten Geschichte. Von einer Pharaonin, die von Horus einen Schatz erhalten hat, um als gerechte Herrscherin weiterleben zu können. Dieser Schatz ist die Pyramide des Horus, die aus fünf Teilen besteht, die sich im Besitz von fünf Familien befinden sollen. Eine davon ist unsere. In dem Bild, das ich von Sean finden sollte, war eines der Stücke versteckt."
Die Erzählung hatte Lara viel Kraft gekostet.
„Sehr gut. Okay, Beth. Wenn ich Sie bitten dürfte?"
Auch Beth musste tief Luft holen.
„Sean, ich meine natürlich Mister Croft…traf sich eines Tages geschäftlich mit irgendwelchen Leuten, so wie er es oft tut. Nun weiß ich, dass es sich um Mariah Powell gehandelt hat. Als er wieder nach Hause kam, fragte ich ihn…jedenfalls war er sehr aufgewühlt und durcheinander und er antwortete nicht. Ich bin nicht neugierig, aber…es war kurz nach Neujahr…da traf er sich mit dieser Mariah. Sie hat ihn bedroht. In der nächsten Zeit arbeitete er viel, oft die ganze Nacht durch. Und er bekam auch viel Geld überwiesen. Manchmal hole ich für ihn die Kontoauszüge, wissen sie…und eines Tages wollte er sich aufmachen seine Cousine zu besuchen. Und den Rest kennen Sie ja."
„Sie haben Sean gefunden?", fragte Samantha einfühlsam.
„Ja…" Sie musste weinen. „Ich kam herein und d lag er…alles war voller Blut…ich war…", stammelte Beth weinend. „Mariah Powell…sie…"
„Mariah Powell?", fragten sowohl Lara als auch Samantha gleichzeitig.
„Ja…sie kam letzte Nacht her und wollte mit ihm sprechen…dann hörte ich Schüsse und bin hinuntergerannt und sie sah mich so…kalt an…"
„Sean muss also etwas getan haben, das Mariahs Zorn erweckt hat. Aber was?", schlussfolgerte Samantha.
„Sie hat ihm das also angetan…?", wiederholte Lara. In ihr stieg der Zorn hoch. Mariah hatte Sean so schwer verletzt, das man nicht mal um sein Leben wusste. Sie war Schuld und hatte all das nur getan, weil sie selbst so eigennützig und kalt war. Nur deshalb war sie bereit, Menschen zu töten…nur um daraus ihren eigenen Nutzen zu ziehen. Der Zorn in ihr war einfach unerträglich. Sie war sich ganz sicher. Sie hasste Mariah Powell aus tiefster Seele. Lara sprang auf.
„Wo willst du hin?", fragte Samantha.
„Zu Powell. Ich werde ihr das antun, was sie mit Sean gemacht hat!", gab Lara als Erklärung im Vorbeirauschen von sich. Doch Samantha packte sie am Arm und hielt ihre beste Freundin zurück.
„Und dann? Was hast du davon, wenn auch Mariah in dieser Situation ist?"
„Genugtuung!", antwortete Lara aggressiv und befreite sich aus Samanthas Griff.
„Glaubst du bist dann besser als sie?", wollte Samantha wissen, als Lara schon ein paar Meter von ihr entfernt war. Lara blieb stehen und drehte sich um. „Bleib hier, Lara. Sie hat einen Plan und wenn wir diesen durchschaut haben, können wir sie aufhalten. Wutausbrüche bringen uns in dieser Situation kein Stück weiter. Du bist nicht dumm, Lara. Das weiß ich doch."
‚Sie hat Recht', dachte Lara und setzte sich wieder auf ihren Platz.
„Okay. Aus irgendeinem Grund wollte Mariah Sean also aus dem Weg räumen. Vielleicht, weil er dir von allem erzählt hat, Lara."
Samantha öffnete ihren Schal.
„Ich will dir damit keinen Vorwurf machen, Lara."
„Er hat sie jedenfalls angerufen, um sich mit ihr zu treffen", bekundete Beth.
„Das wird Sean uns wahrscheinlich selber erklären, wenn er wieder ansprechbar ist", wollte Samantha die Frage abhaken.
Wenn", gab Lara von sich.
„Nun zu dem Telefongespräch heute Vormittag von dir und Mariah. Worüber habt ihr geredet?", führte Samantha die Zusammenfassung fort.
„Ich habe mich dazu entschlossen, gegen Powell vorzugehen und deren Pläne zu vereiteln. Daraufhin drohte sie mir damit, alle die mir lieb sind zu töten, wenn ich ihr nicht sagen würde, wem ich alles von der ganzen Geschichte erzählt hätte…nämlich dir, Sam. Ich weiß, es war mies von mir, aber…eine Person kann ich beschützen, voll und ganz! Wenn-"
„Ich weiß schon, was du meinst", unterbrach Samantha, die Laras Gründe aus ihren Augen herauslesen konnte.
„Also…", fuhr Lara ruhiger fort, „daraufhin wollte Mariah Powell, dass ich, wenn ich denn versuche deren Pläne zu vereiteln, dich mitnehme, Sam."
„Mich?", fragte Samantha erstaunt. „Was nütze ich denn auf so einer Abenteuerreise?"
„Ich verstehe es auch nicht."
Stille. Alle verarbeiteten die neuen Informationen.
„Dein Telefonat war aber nachdem Sean angegriffen wurde, richtig?", wollte Samantha wissen.
„So ist es", antwortete Lara.
„Dann hat es mit deinem Entschluss sich den beiden in den Weg zu stellen wohl nichts zu tun." Lara war erleichtert, dass sie keine Schuld traf. „Und nun?"
Da waren alle drei überfragt.
„Miss Croft, Miss Jones", begann Beth. „gehen sie ruhig wieder nach Hause. Ich bleibe hier bei ihm und informiere sie, sobald es Neuigkeiten über Seans…ähm…Mister Crofts Zustand gibt."
„Sie hat Recht. Denk an Deine Verletzung, Lara", stimmte Samantha zu. Lara fühlte sich wirklich nicht besonders. Sowohl wegen der ganzen psychischen Anspannung als auch wegen ihrer Wunde.
„Okay. Sehen wir später weiter", willigte Lara ein.
„Wir finden eine Lösung", munterte Samantha die beiden auf.
„Hoffentlich", kommentierte Beth.

Lange hatte sie in ihrem Bett gelegen und nachgedacht. Schließlich stand auf und wieder prassten die Regentropfen gegen ihr Fenster. Sie ging zu ihrem Kleiderschrank und zog ein blaues Nachthemd heraus. Nachdem sie sich dies über ihre Unterwäsche gestreift hatte, ging sie zu ihrer Kommode und sah sich im Spiegel an. Nach einer Minute nahm sie sich aus einer Schublade eine Bürste und kämmte sich mit einer Hand ihre langen, glatten Haare. Sie dachte nach.
,Wenigstens war dieser nervige Journalist nicht da...der hätte noch ein Foto von mir gemacht...Die neue Schlagzeile: Lara Croft weint, weil ihr Cousin im Koma liegt! Lara Croft hat auch Gefühle! Auf Seite sechs...Verdammte Powell...hätte ich ihr doch in den Kopf geschossen, als ich Gelegenheit dazu hatte! Jetzt liegt Sean wegen ihr im Koma!'
„Sean...", schluchzte sie wieder und war den Tränen nahe. Da blitzte es und fünf Sekunden später folgte der Donner. „Auch das noch..."

Sie schlief und träumte von der Zeit, als sie und Sean als Kinder zusammen auf die Bäume im Garten geklettert waren.
„Gib es auf, Lara! Ich bin schneller als du!", rief Sean ihr zu und kletterte immer weiter.
„Sean, warte! Das ist gemein, du bist viel größer als ich!", rief Lara ihm hinterher.
Donner. Sie wachte auf, aber nicht deswegen. Ihr Arm schmerzte, aber es war nicht ihr verletzter, sondern ihr gesunder Arm, in den sich ein stechender Schmerz bohrte. Es war nicht normal, es war stärker, als alles andere davor. Sie schwitzte und hatte Atemnot. Sie wälzte sich auf dem Bett hin und her und hielt sich den Arm. Das Gewitter draußen wurde lauter, sodass man ihren Schrei nur gedämpft hörte. Es waren so höllische Schmerzen, dass man es sich nicht ausmalen konnte. Zehn Minuten lang räkelte sie sich vor Qualen in ihrem Bett und hoffte, dass diese Schmerzen endlich schwanden. Dann, mit einem Mal, hörte das Stechen in ihrem Arm auf. Sie richtete sich auf und wollte sich ihren Arm ansehen. Was hatte ihr so weh getan? Sie sah von ihrem Bett aus in den großen Spiegel bei ihrer Kommode. Im Licht eines Blitzes konnte sie erkennen, was auf ihrem Arm war.
„Ein Ankh..."