Kapitel 22 – Das Treffen

Die beiden stapften durch die verschneiten Straßen Fairbanks. Sie waren auf dem Weg zu Mister Oktolik. Sie gingen durch ein verlassenes Industriegebiet, in dem viele Obdachlose ihr Unwesen trieben. Aber die beiden gingen natürlich nicht unbewaffnet aus dem Haus.

„Ich habe eher ein Haus oder eine Wohnung erwartet und kein verlassenes Areal", kommentierte Lara die Umgebung.

„Wahrscheinlich zu gefährlich. Schau, da ist es!", meinte Samantha und deutete auf eine verlassene Fabrik, die die verrosteten Lettern 56 am Eingang trug. Die beiden schoben das quietschende Tor voran und schritten durch den noch unberührten Schnee.

„Ey, Ladys!", rief eine männliche Stimme hinter ihnen. Die beiden drehten sich um und erblickten einen verwahrlosten Obdachlosen. „Da solltet ihr nich' reingehen!"

„Und warum nicht?", wollte Lara ungeniert wissen.

„Engländer, was? Dort ziehen die Gangster immer ihre Dinger ab!", gab er als Antwort.

„Ach ja? Mach dir mal keine Sorgen, wir sind große Mädchen", gab Lara tonlos zurück.

„Engländer, das ist so was wie 'ne Mafia da drin! Was wollt ihr da eigentlich?"

„Wenn ich dir das erzähle, müsste ich dich erschießen", antwortete die Grabräuberin desinteressiert und deutete Samantha an weiter zu gehen.

„Aber sagt nich' ich hätte euch nich' gewarnt!", rief der Obdachlose den beiden Engländerinnen hinter her und ging weiter.

„Denkst du, das ist wahr?", fragte Samantha, als die beiden an der großen Eingangstür angekommen waren.

„Wahrscheinlich. Aber selbst wenn da böse Buben drin sind, werden wir ihnen schon Manieren beibringen. Vielleicht hat Oktolik keine weiße Weste, was das Gesetz angeht", sinnierte Lara und stapfte nach rechts, um durch die eingeworfenen Fenster zu blicken. Es schien niemand dort zu sein.

„Gehen wir rein", beschloss Lara und drückte mit ihrer Freundin gegen die Tür. Knarrend schob sich der Eingang nach vorn. Es stank fürchterlich in der großen Halle. Hier und da standen verlassene Tische mit unbrauchbaren Stühlen. Der Boden war aus Metall, weshalb jeder Schritt in der Halle mit einem großen Echo zu hören war. Samantha schreckte vor einer vorbeilaufenden Ratte zurück und heftete sich weiter an Laras Fersen.

„Warum will er uns nur hier antreffen?", fragte Samantha und hatte Mühe in der aufkommenden Dunkelheit ihrer Freundin zu folgen. „An einem so dunklen Ort..."

„Wie gesagt: Wahrscheinlich ein Krimineller..."

„Hey, ihr!", rief eine Stimme hinter den beiden Engländerinnen. Sie drehten sich um, sodass sie den schwarzhaarigen Mann mit zwei Revolver in den Händen auf sie zielen sah.

„Wer sind sie?", wollte Lara von ihm wissen.

„Wer sind sie?", gab der Mann zurück.

„Mein Name ist Lara Croft und das ist meine Freundin Samantha Jones. Wir wollten heute hier jemanden antreffen, mit dem wir noch gestern telefoniert haben", erklärte Lara.

„Mit wem?", erkundigte der Mann sich.

„Sein Name ist Oktolik und wir wollen mit ihm über ein uraltes Familiengeheimnis reden", erläuterte sie weiter. Der Mann senkte die Waffen und steckte sie schließlich in seinen Waffengurt.

„Gut...gut", murmelte er und ging auf die Truppe zu. „Ich bin Scott Oktolik", meinte er und hielt Lara die Hand hin. Lara schüttelte die.

„Miss Croft...Miss Jones." Er gab auch Samantha die Hand. „Um ihre erste Frage zu beantworten, ja ich bin in kriminelle Geschäfte verstrickt."

„Meine erste Frage wäre gewesen, wo denn ihr Bruder sei", korrigierte Lara.

„Um das Geheimnis der Pyramide des Horus zu schützen lebt unser Clan noch immer draußen wie die Inuit vor Hunderten von Jahren. Ich bin eines Nachts abgehauen und-"

„Verzeihen sie, Mister Oktolik, aber für solche Geschichten haben wir keine Zeit. Unsere Feinde warten nur darauf, das nächste Stück-", unterbrach Lara und wurde wiederum von Oktolik unterbrochen.

„Ja, Miss Croft, Sie haben Recht. Zuerst aber muss ich sicher gehen, dass Sie nicht zu den Feinden gehören. Bitte zeigen Sie mir ihren Oberarm", bat Oktolik. Obwohl Lara wusste, dass die Kälte unausstehlich sein würde, öffnete sie ihre Jacke, zog diese aus und schob den Ärmel ihres Shirts nach oben. Lara wusste, dass er den Ankh sehen wollte.

„Beruhigend. Diese unendliche Macht ist schließlich mit höchster Verantwortung zu tragen", meinte Oktolik erleichtert und fuhr fort: „Die Routen, die der Clan Jahr für Jahr zurücklegt, sind jedes Mal anders, werden aber nach ein paar Kriterien ausgerichtet, mit denen ich herausgefunden habe, wo sich der Clan nun im Frühjahr befindet." Er nahm aus seiner Jackentasche einen Ausdruck und reichte ihn Lara, die sich schnell wieder komplett eingekleidet hatte. Lara sah sich das Papier an. Ein roter Punkt war eingezeichnet, neben dem „Fairbanks" stand. Die Orte daneben waren nicht aufgezeichnet. Rote Linien waren vollkommen wahllos scheinend durchs Bild gezogen. Eine der Linien war allerdings grün. Die anderen drei spähten ebenfalls auf das Blatt.

„Die grüne Linie", fuhr Oktolik fort, „ist sehr wahrscheinlich die Strecke, die jetzt von der Sippe zurückgelegt wird. Es sind die einzigen in diesem Umfeld, die noch so leben, also ist eine Verwechslung prinzipiell ausgeschlossen. Der Name meines älteren Bruders ist Craig. Bitte gehen Sie nun", bat der das Duo und schritt wieder zurück in die Dunkelheit. „Ach ja", rief er ihnen noch zu, „sagen sie meinem Bruder, dass sie diese Informationen von mir haben- Scott Oktolik. Er ist sehr misstrauisch."

Dann verschwand er im Schatten.

Lara sah auf das Blatt. Verglichen mit dem Maßstab betrug die Strecke bestimmt hundert Kilometer. Ein weiter Weg, aber sie würden ihn zurücklegen. Das war sicher.