„Nicht zu fassen", murmelte Samantha, als sie mit einem Taxi zu, gemieteten Hotel fuhren.
„Was ist nicht zu fassen?", wollte Lara wissen.
„Vor nicht mal einer Woche waren wir noch in London…und heute haben wir schon fast die komplette Pyramide zusammen."
„Ja…in diesem Business geht es ziemlich schnell zu", antwortete Lara zum Scherz etwas hochnäsig. Vor ein paar Stunden waren sie in Santiago, Chiles Hauptstadt gelandet. Zum Glück war hier die Zeitverschiebung nicht allzu groß. Es war eine große Umstellung gegenüber dem Londoner Wetter, das nun im Frühling eher mäßig warm war. Danach mussten sie sich auf das heiße Indien einstellen und danach das komplette Gegenteil –die Schneelandschaften Alaskas- erleben. Nun waren sie wieder in einer wärmeren Zone der Erde, in England hätte die Temperatur als Sommer durchgehen können.
Lara nahm aus ihrem Rucksack Seans Mappe hervor und sah sich noch einmal die Daten zur fünften und letzten Familie an. Doch wieder sah sie auf allen Seiten keinen Namen.
„Das ist komisch", murmelte Lara und blätterte durch die Seiten.
„Du kannst noch so oft reinsehen. Vielleicht hat Sean einfach keinen Namen herausgefunden", gab Samantha zurück.
„Er hat sogar herausgefunden, welche Blutgruppen die anderen haben. Dann sollte ein Name doch kein Problem darstellen."
„Das wird schon."
„Na, wenn du meinst…"
Wieder wanderten ihre Gedanken zu Sean, der daheim in England wohl immer noch im Koma lag. Natürlich sorgte sie sich um ihn, aber anrufen, obwohl sie die Nummer hatte, wollte sie nicht. Wie Samantha hatte sie den Kontakt zu ihren Liebsten vermeiden wollen, denn sie wussten genau, dass sie die große Distanz leichter ertragen konnten, wenn sie den Kontakt etwas schleifen ließen. Jedoch hatte sie mit Beth abgemacht, dass sie Lara auf dem Handy anrufen sollte, gäbe es gravierende Veränderung bei Seans Zustand.
„Wir sind da", meldete der Taxifahrer auf englisch mit starkem Akzent. Lara und Samantha nahmen ihr leichtes Gepäck, bestehend aus zwei Rucksäcken, in die Hände und öffneten die Wagentüren.
„Das macht dann 9300 Peso (etwa 15€), Ladys", verlangte der Taxifahrer. Lara drückte ihm die gewünschte Summe in die dreckige Hand und das Taxi verschwand im dichten Verkehr. Die beiden standen vor einem Vier-Sterne-Hotel. Der offenbar hundertstöckige Gebäudekomplex schien trotz des dichten Verkehrs und den Geschäftsanlagen weder verschmutzt, noch über- oder unterteuert. Hinein gingen ausschließlich Geschäftsleute in Anzügen und Handys am Ohr, deren Terminkalender keine freie Minute zu haben schien. Die beiden gingen durch die Drehtüren und gelangten an die Rezeption. Ein junger Herr stand hinter dem Pult.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?", fragte der Herr auf englisch. Das Hotel schien sich komplett auf die Weltsprache eingestellt zu haben.
„Haben sie noch ein Zimmer für zwei Personen frei?", erkundigte Lara sich.
„Mit zwei Einzelbetten?", fragte er zurück. Lara nickte und er gab ein paar Daten in seinen Computer ein. „80.600 Peso oder 90 britische Pfund (130€) pro Nacht kostet das Zimmer. Sind Sie damit einverstanden?"
„Ja", antwortete Lara und füllte die notfälligen Formulare aus. Danach bekamen sie einen Schlüssel, auf dessen Anhänger eine 256 eingraviert war. Sie zwängten sich in den Fahrstuhl, der voller Geschäftsleute war und öffneten im richtigen Stock das Zimmer 265. Die Morgensonne schien durch die Fenster des Zimmers, in dem ein Fernseher und eine Couch stand. Portraits an der Wand und Regale mit Nippes und Büchern gefüllt, ließen das Wohnzimmer behaglicher erscheinen. Zur Rechten fand sich eine Tür, die zum Schlafzimmer führen sollte. In diesem warfen sie ihre Rucksäcke auf die Betten und musterten das gesamte Apartment. Auch das Bad war, wie das ganze Hotel, in Grün-Silber-Tönen eingerichtet. Der Boden war aus Parkett und die Möbel aus hochwertigem Holz. Samantha sah aus dem Fenster und erblickte die Hotelanlage mit Pool.
„Schau mal, der Pool ist ganz leer", bemerkte Samantha und winkte Lara herbei.
„Die anderen Gäste scheinen sich nicht besonders mit Entspannung zu beschäftigen", antwortete Lara, die nun ebenfalls hinausblickte.
„Schade, dass wir es uns nicht leisten können, ein paar Bahnen zu schwimmen. Wir müssen schließlich den Weg zur letzten Familie planen."
Samantha ging ins Schlafzimmer, nahm aus Laras Rucksack die Mappe und schlug sie auf dem Couchtisch auf. Daneben breitete sie eine Karte aus, die Santiago und die Umgebung zeigte.
„Hier steht es sei in der Nähe von…", begann Samantha und verlor sich in Nuschelein. Am Liebsten hätte Lara die ganze Sache für einen Augenblick vergessen, aber das konnte sie sich im Moment nicht leisten. Sie setzte sich zu Samantha und die beiden suchten auf der Karte den Ort, an dem sich die letzte Familie verstecken sollte. Es war gerade einmal Mittag, als sie den Standort herausgefiltert hatten, denn er lag im hohen Gebirge und es würde wohl einen ganzen Tag dauern, dort hin zu gelangen.
„Wann brechen wir auf?", wollte Samantha enthusiastisch wissen.
„Ich denke morgen früh…", antwortete Lara etwas erschöpft.
„Was ist los?", fragte Samantha etwas besorgt.
„Na ja…bald haben wir alle fünf Stücke zusammen…aber ich weiß nicht, was dann kommen soll…was ich mit dem Schatz anstellen soll…ich weiß nicht wie man die ganze Sache versiegelt, unschädlich macht…und danach immer auf der Flucht sein…das wäre keine Lösung", bekundete sie ihre Zweifel.
„Na ja…wer weiß…vielleicht ergibt sich ja irgendetwas…", versuchte Samantha ihre Freundin aufzumuntern. „Du hast doch schon ganz andere Dinge geschafft."
„Aber ich mache mir Sorgen."
„Das passt nicht zu dir!"
„Ich weiß, aber…ich wette Mariah hat uns noch längst nicht alles gezeigt. Sie hat bestimmt etwas vor."
„Vielleicht."
Lara beschloss ihre Depression heute Nacht mit sich selbst auszumachen.
„Komm, Sam. Lass uns irgendwo zwei Bikinis auftreiben und uns im Pool etwas entspannen. Es ist ein schöner Tag und nicht jeder hier hat einen so großen Pool für sich", schlug Lara vor.
„Gute Idee. Ich glaube unten in der Lobby hing ein Schild zur Kleidungsabteilung."
Irgendwie vertrieben sie sich die Zeit im Hotel bis zum Abend, als sie sich beim Abendessen stärkten, und beschlossen, da es morgen so ein langer Tag werden würde, schon um halb Zehn ins Bett zu gehen. Jedoch dachte Lara um elf noch über die Pyramide nach, bis sie, vielleicht um Mitternacht herum, endlich einschlief und von einer riesenhaften, fliegenden Banane träumte, auf der sie durch die Straßen Londons flog.
Am nächsten Tag standen sie um halb acht auf und zogen sich passend an. Über ein hellgrünes T-Shirt zog Lara eine dicke Jacke, denn im hohen Gebirge ist es kalt, und dazu eine dunkle Jeans, deren Hosenbeine sie in ihren Stiefeln versteckte. Samantha wählte die gleiche Jacke wie Lara mit einem dunkelblauen T-Shirt und einer hellen Jeans, die sie über ihre Stiefel streifte. In ihren Rucksäcken verstauten sie ein Erste-Hilfe-Set für den Notfall, Proviant, Ersatzkleidung, da die Reise geschätzte drei Tage dauern würde, die Mappe, die beiden Stücke der Pyramide, einen Kompass und eine Karte. Die Gegend, in die sie es verschlagen sollte, war eines hügeligsten Gebiete und somit frei von Menschen und Tourismus. Von einem Hirten in der Nähe der Aufbruchstelle, hatten sie sich zwei Alpakas reserviert – lamaähnliche Tiere, die in Gebirgen beheimatet waren - und fuhren mit einem Jeep zur hiesigen Alpaka-Zucht. Sie nahmen die Tiere an, bedankten sich bei dem Hirten und begannen den Trip ins Gebirge.
Die Tiere schienen wenig Probleme mit den Steigungen zu haben, denn sie wirkten nicht erschöpfter als normal. Wohl aber war es nicht angenehm auf einem ständig wackelnden Tier zu reiten. Hin und wieder hielten sie, um sich und den Alpakas eine kleine Erfrischung zu gönnen. Gerade gewährten die beiden sich einen Schluck Wasser, als Lara nach der Karte suchte.
„Sam, hast du die Karte?", fragte sie ihre beste Freundin.
„Nein, du hast doch die ganze Zeit die Fäden gezogen."
Lara kramte in ihrem Rucksack, als ihr Alpaka auf sie zu kam und sie im Gesicht abschlecken wollte.
„Hey, lass das!", wies sie das Tier ab, doch dann bemerkte sie wie aus dem Mund ihres Alpaka etwas hing. Es sah so aus – nein, es war – ein Schnipsel der Karte! Lara wollte dem Tier den kleinen Rest entziehen, doch gerade in diesem Moment verschlang das Alpaka auch den letzten Teil und rülpste danach herzhaft.
„Nein!"
Lara wollte das Tier würgen, doch Samantha hielt sie zurück.
„Wir werden einen anderen Weg finden. Wir haben noch den Kompass und sind bis jetzt immer nördlich gereist. Hast du den Weg noch ein wenig im Kopf?", versuchte sie Lara zu beruhigen.
„Ja, ich glaube schon", antwortete Lara, die sich besonnen hatte. „Erinnere mich daran die Karte das nächste mal vor verfressenen Tieren zu verstecken."
Und so zogen sie weiter, nun nur noch durch den Kompass und ihre Intuition geführt.
