Zum ersten Mal seit Beginn der Reise fühlten die beiden sich richtig entspannt und nicht von ihren Feinden gejagt. Die Frau hatte die beiden zu einer heißen Quelle geführt, die mit wunderbar riechenden Kräutern angereichert war. Nur mit einem Tuch bekleidet steigen sie ins warme Wasser und ließen die Düfte auf sich wirken.
Nach dem Bad hatte man ihnen eine sehr entspannende Massage gegönnt und schließlich gab man ihnen einen wohl schmeckenden Tee zu trinken. Am Abend saßen sie mit den anderen des Dorfes um ein Feuer herum, auf dem prächtige Speisen zubereitet wurden, während der ältere Mann (der sich als Vertrauter des Ältesten herausstellte), mit dem sie gesprochen hatten, dem Dorf erklärte, was die Besucher beabsichtigten. Danach hatten sie sich an der Mahlzeit erfreut und erste Freunde unter den Dorfbewohnern gefunden. Dass Samantha recht wenig von allem verstand, nahm sie mit Humor und versuchte sich also mit Händen und Füßen zu verständigen.
Beim Kennenlernen erfuhren sie außerdem, dass keiner im Dorf einen Namen zu hatte, da man in ihrer Gemeinschaft keinen Wert auf Namen legte, was auch erklärte, warum in Seans Mappe keiner verzeichnet war.
In Windeseile hatte man ein neues Zelt aufgebaut, in denen zwei bequeme Betten standen. Erschöpft und zufrieden legten sie sich um etwa Mitternacht schlafen.
In den nächsten vier Tagen freundeten sich die beiden gut mit dem Dorf an und es kam ihnen wie eine große Familie vor. Besonders waren die Menschen daran interessiert, wie es in England zuging und wie groß die Londoner Sehenswürdigkeiten waren. Es waren friedliche vier Tage ohne Feinde. Dann, als die vier Tage verstrichen waren, brach auf einmal ein großer Aufruhr aus, mitten im Mittagessen standen die meisten auf und liefen schnell auf jemanden zu, der gerade aus den hohen Bergen gekommen zu sein schien.
„Was ist denn mit denen los?", fragte Samantha.
Die beiden schlossen sich dem Strom an und versuchten durch Herumhopsen einen Blick auf die Person zu erhaschen, um die so viel Trubel gemacht wurde.
„Wer ist denn das?", erkundigte Lara sich schließlich bei den anderen um sich herum.
„Unser Ältester ist wieder aus den Bergen zurück! Das ist wunderbar! Hoffentlich hatte er eine erholsame Meditation", war die Antwort eines jungen Mannes.
„Diesen Rummel machen sie um den Ältesten", erklärte Lara Samantha.
„Dann müssen wir sofort zu ihm!", schloss Samantha und begann sich mit sanfter Gewalt durch die Dorfbewohner zu drängeln. Als sie schon in den vordersten Reihen vorgedrungen waren, sahen sie wie der Vertraute mit einem etwas älteren Mann redete. Er hatte eine Glatze und ein freundliches Gesicht. Ein paar andere nahmen ihm sein Gepäck ab und reichten ihm Getränke zur Erfrischung. Der Vertraute sah Lara und Samantha und winkte sie herbei. Sie drängelten sich schließlich durch die Menge und standen nun bei dem Ältesten und dessen Vertrautem.
„Mir wurde soeben alles berichtet", erklärte der Älteste. „Kommt mit."
Sie gingen mit ihm in eines der Zelte, wo ein warmes Feuer vor sich hin knisterte.
„Sie wollen das Stück der Pyramide?", fragte er. „Das wievielte ist es?"
„Das fünfte und letzte", erklärte Lara.
„Bitte zeigen Sie mir, dass Sie zu den Familien gehören", forderte er sie auf. Lara wusste, was gemeint war und zeigte ihren Oberarm mit dem Ankh. Der Älteste zog ein Band um seinen Hals hervor, an dem das letzte goldene Stück hing. Es war ein Dreieck und war wie die anderen mit vielen Hieroglyphen verziert. In ihren Taschen fühlte Lara die anderen zwei Teile der Pyramide. Der Älteste löste den Knoten des Bandes und ließ das Stück in seine Hand gleiten. Das Loch, durch das sich das Band gezogen hatte, verschloss sich wieder. Lara fühlte die innere Anspannung nur zu gut. Ihr Herz klopfte wie verrückt und schien ihr gleich in die Hose zu rutschen. Mit etwas zitternden Händen nahm sie das Stück entgegen. Sie senkte den Kopf, damit niemand sah, dass ihre Augen begannen feucht zu werden. So viel Leid hatte sie, hatte Sean ertragen müssen, um die fünf Teile der Pyramide zusammenzutragen.
„Vielen Dank", murmelte sie.
„Nun müssen Sie aber noch einmal die Prophezeiung lesen", erinnerte der Älteste mit erfreutem Gesicht.
„Was werde ich sehen?", wollte Lara wissen.
„Den Ort, an dem alle Stücke der Pyramide zusammengeführt werden sollen", antwortete der Älteste und zog aus seinen Taschen eine Schriftrolle hervor. Das Pergament war noch erstaunlich gut erhalten. Lara rollte es auseinander und musterte die Zeichen. Sie konnte die Hieroglyphen lesen als wären sie in ihrer Sprache geschrieben. Was danach geschehen sollte, wusste sie selbst nicht. Samantha legte ihre Hand auf Laras Schulter.
„Du machst das", ermutigte sie Lara mit einem Lächeln, doch Lara fühlte, dass auch Samantha sich dabei nicht sicher war. Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch begann sie laut vorzulesen: „Bei Horus, dem Gotte in Falkengestalt, schwören wir, dass wir den Schlüssel zu der Macht, die Osiris Merit besaß, auf ewig mit unserem Leben beschützen werden, um jene, die Macht begehren zu hindern daran, dass eine Katastrophe ausbricht und wieder ein Pharao herrscht, der nur Rache sucht, um den Durst zu stillen, der durch Ungerechtigkeit entfacht wurde. Wir schwören in alle Himmelsrichtungen zu ziehen, um zu verstecken, was Machthungrige suchen, um ihnen den Gang zur Macht zu erschweren, und je einen Teil des Schatzes zu bewahren, soll in jeder Generation mindestens einer wissen, was seine Familie besitzt, um das Zeichen des Horus zu tragen und den Schatz bewahren. Sollte es doch Verrückten gelingen, die fünf Teile der Macht zusammenzusetzen, die Familien zu überlisten, die Schätze zu stehlen, den heiligen Tempel zu finden und deren Wachen zu töten, kann die Menschheit nur hoffen, dass einer dem Einhalt gebietet, der von den Priestern des Horus Kraft erhalten wird, denn wenn nicht, wird eine Katastrophe ausbrechen, ein neuer Pharao wird regieren, nur um seinen Durst zu stillen, vielleicht sogar, um zu vernichten, unsere Welt..."
Wieder überkam sie eine Vision, doch diesmal lief sie nicht Gefahr umzukippen, denn die vorherigen Visionen hatten sie abgehärtet. Sie klammerte sich am Pergament fest. So viele Bilder überkamen sie auf einmal, dass sie keines davon erkennen konnte. Dann jedoch sah sie drei Bilder, drei entscheidende Bilder. Ihre Vision war vorbei, sie stand immer noch auf beiden Beinen und kalter Schweiß rann ihr über die Stirn. Mit den Bildern wusste sie nichts anzufangen, doch sie hatte sowieso keine Zeit darüber nachzudenken. Auf einmal drangen Schreie von außen zu ihnen, gefolgt von Schüssen und Todeslauten.
„Mariah Powell", erkannte Lara von Angst gelähmt.
