Kapitel 35 – Der Bluff…

„Guten Abend, Lara. Ich habe mir schon gedacht, dass du es bist. Wenn du die Pyramide suchst, die ist in diesem Save", erklärte Mariah und deutete auf einen der Nachttische neben dem Bett. „Wo du schon einmal hier bist, wirst du mir sicher sagen, was du in deiner letzten Vision gesehen hast."

„Ich denke nicht, dass du im Gegensatz zu mir bewaffnet bist. Warum sollte ich deiner Aufforderung folgen?", entgegnete Lara und fühlte den Revolver an ihrem Knöchel.

„Diese Kerle da draußen sind vielleicht strohdumm, aber wenn ich sie rufe, werden sie kommen und sie werden auf Wunsch Verstärkung mitbringen. Du hättest keine Chance", antwortete Mariah kühl.

„Sag mir eins, Mariah. Warum seid ihr hier in Monaco und nicht in Ägypten? Ihr habt alle Stücke der Pyramide. Was hält euch davon ab sie zu verwenden?", wollte Lara angespannt wissen. Mariah grinste.

„So oft die Formel gelesen, aber nie wirklich verstanden, was? Geh es noch einmal genau durch. Es heißt ‚der Schlüssel zur Macht'."

Der Schlüssel zur Macht? Sie strengte ihre grauen Zellen an. Der Schlüssel…der Schlüssel…natürlich, der Schlüssel! Jetzt verstand Lara.

„Die Pyramide ist nur der Schlüssel, der zur wirklichen Macht führt? Aber…was ist dann die Macht?"

„Das hat dich nicht zur interessieren. Sag mir nun, was du gesehen hast. Und keine Lügen. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann gibt sich Miss Jones als Abendprogramm aus, oder? Unten haben wir genug Killer postiert, die ihrem Leben schnell ein Ende setzen könnten", bluffte Mariah. Ja, unten befanden sich Killer, aber nie würde sie diese auf Samantha Jones loslassen.

Lara rann der Schweiß über die Stirn. Sie durfte Samantha nicht in Gefahr bringen, andererseits war sie im Begriff ihren Feinden den Weg zum Sieg zu ebnen. Jedoch erwartete sie nicht wirklich, dass Mariah ihr die Realität glauben würde.

„Noch eine halbe Minute bis zu ihrem Auftritt!", teilte ihr irgendwer mit, doch Samantha hatte ganz andere Sorgen. Das Lied war einfach furchtbar, von der Melodie bis zum Text. Jede einzelne Note und jedes Wort war kompletter Müll. Doch gleich würde sie auftreten müssen.

„Ich glaub, ich fühl mich nicht gut", versuchte sie sich herauszureden, doch man ließ sie nicht gehen und schubste sie schließlich auf die Bühne. Schon startete die Musik, aber Samantha kannte den Text immer noch nicht und so summte sie vergebens, bis die Musiker verwirrt aufhörten zu spielen und im Publikum ein lautes Gemurmel entstand. Samantha hatte gar keine Zeit die Peinlichkeit zu verarbeiten, als ihr ein verzweifelter Versuch in den Sinn kam.

„Entschuldigung", brachte sie die Menge zum Schweigen. „Das ist leider nicht mein Tag…aber man kennt es ja…also…ich habe hier ein Lied, das manche von ihnen vielleicht kennen…vielleicht auch die Musiker…", erklärte sie und begann das Lied anzustimmen, das sie früher ständig mit Lara gesungen hatte- bald spielten die Musiker die richtige Untermalung und das Publikum hörte mit Freuden zu.

„Also schön…ich sage dir, was ich in Chile gesehen habe…", entschloss sich Lara widerstrebend. „Ich sah zuerst eine Löwin. Danach eine altägyptische Handwerkerstätte und zum Schluss ein großes Blumenfeld", berichtete sie angespannt. Sie erwartete nicht, dass Mariah ihr das abnahm, aber so war es gewesen und auch Lara wusste nicht, was dies bedeuten sollte.

„Löwin…Handwerkerstätte…Blumenfeld…natürlich…", murmelte Mariah. „Ich verstehe."

„Was…? Du verstehst? Was bedeutet es?", erkundigte Lara sich erstaunt.

„Erwartest du etwa ernsthaft, dass ich dir das sage?", entgegnete Mariah grinsend. Es war Laras letzte Hoffnung gewesen, dass auch Mariah nur Bahnhof verstand und diese wurde von ihrem gefälligen Grinsen erstickt.

„Du weißt es also?", fragte Lara und ging auf Mariah zu, die sich dadurch nicht im Geringsten bedroht fühlte.

„Ja, ich weiß es. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt und die Macht ist mein…"

„Freu dich nicht zu früh!", konterte Lara und versetzte Mariah einen Kinnhaken, sodass sie rückwärts stolperte und unsanft auf den Boden aufkam. In Windeseile hechtete Lara zum Nachtschrank herüber und öffnete ihn. Dahinter war ein Zahlenschloss. Schnell presste sie ihr Ohr an das kalte Metall und begann an dem Schloss zu drehen. Eine Zahl nach der anderen klickte sich ein und schon öffnete sich der Tresor und dort lagen tatsächlich alle fünf Teile der Pyramide. Gerade streckte sie Hand aus, um nach den Schätzen zu greifen, als sie von hinten um den Hals gepackt und vom Save fortgerissen wurde.

„So einfach mache ich es dir nicht!", keuchte Mariah und zerrte Lara weg von der Pyramide. Sie würgte Lara zu Boden und verpasste ihr dann einen Schlag ins Gesicht, sodass ihre Lippe anfing zu bluten.

„Wärst du brav geblieben, würde ich Miss Jones jetzt verschonen", erklärte sie und nahm, Lara noch immer mit einer Hand würgend, ein Funkgerät aus ihrer Tasche hervor.

„Code 3", sprach sie hinein, was so viel hieß wie die Leute etwas aufzumischen.

Unten jubelten die Leute und verlangten nach einer Zugabe.

„Danke! Ich danke ihnen vielmals!", rief Samantha in die Menge. Doch die Freude legte sich schnell, als der Applaus von Schüssen unterbrochen wurde, die zwei der Schurken abfeuerten, die soeben den Befehl dazu von Mariah Powell bekommen hatten. Samantha verstand und flüchtete sich hinter die Bühne. Sie musste so schnell wie möglich zu Lara, die solch ein Geschehen verhindert hätte, wäre sie nicht in Schwierigkeiten.

Schließlich befreite Lara sich aus dem Würgegriff ihrer Angreiferin und versetzte ihr einen starken Tritt in den Bauch, sodass sie für kurze Zeit außer Gefecht war. Lara rannte aus dem Zimmer und sprang die Treppen hinunter in die Eingangshalle mit der Rezeption, wo zwischen all den panischen Menschen auch Samantha versuchte sich einen Weg nach oben zu erkämpfen.

„Sam!", rief Lara kaum merklich in das Getümmel hinein und eilte zu ihr.

„Lara, was ist passiert?", fragte Samantha.

„Keine Zeit für Erklärungen, komm!", gab Lara als einziges zurück, packte sie am Arm und rannte mit ihr die Treppen hinauf, denn unten waren neben der panischen Menge die Killer. Sie rannten zum Fahrstuhl und kamen außer Atem dort an, wo sie irgendeinen der Knöpfe drückten und die Türen sich kurz darauf hinter ihnen schlossen.

„Also…was…ist passiert?", fragte Samantha noch einmal. Lara schlug wütend gegen die Wand des Fahrtstuhls.

„Ich konnte ihnen die Pyramide nicht abnehmen", klagte sie. „Außerdem habe ich ihr auch noch von meiner Vision erzählt und sie weiß, was sie bedeutet! Verflucht! Ich bin so ein Idiot! Man könnte denken, dass ich eine Anfängerin bin!"

Gerade wollte Samantha antworten, als sich die Fahrstuhltüren im elften Stock öffneten, wo es komischerweise noch nicht von Menschen wimmelte.

„Wohin?", wollte Samantha wissen. „Unten sind die Killer."

„Da bleibt wohl nur noch oben", antwortete Lara und lief sogleich mit Samantha im Schlepptau die Korridore entlang. Sie wussten nicht, dass sie der Gefahr in die Arme rannten.

„Miss Powell, alle Truppen sind unterwegs, um Croft und Jones zu kriegen", berichtete einer der Männer, der vor Mariahs Tür Wache gestanden hatte. „Sie laufen nach oben, wo Gabriev, unser bester Mann, schon auf sie wartet."

Mariah hielt sich noch immer den Bauch und nahm etwas Wasser zu sich.

„Gabriev wartet oben…gut…er wird die beiden festnehmen."

„Verzeihung, Miss Powell…aber…die Truppen im Erdgeschoss gaben den Befehl zur Tötung weiter."

Mariah verschluckte sich und musste husten.

„Zur Tötung? Ich habe ausdrücklich Code 3 verlangt!"

„Also…"

„Das darf doch nicht wahr sein! Meine Truppen haben den Intelligenzquotienten einer Küchenschabe!", schimpfte sie und nahm ihr Funkgerät, um diesen Fehler zu berichtigen. Doch alles, was sie vernahm, war ein Rauschen. Sie konnte den Befehl nicht zurücknehmen und oben wartete ein Killer, der nur darauf wartete die beiden zu töten.

„Wozu brauchen wir sie eigentlich noch?", erkundigte sich einer der Männer hohl.

„Das geht euch nichts an!", versetzte sie den Männern aggressiv und rannte zur Tür hinaus, die Treppen hinauf, in den dreizehnten Stock, wo ihr bester Killer wartete. Sie wollte den beiden lediglich etwas Angst einjagen, damit sie fortrannten, aber nie hätte sie den Befehl zur Tötung gegeben. Immer noch im kurzen dunkelblauen Bademantel rannte sie in Rekordzeit und rücksichtslos wie keine andere die Treppen hinauf. Sie durfte nicht zu spät kommen! Es ging im Leben und Tod!