Kapitel 39 – Erleuchtung

Es war tiefe Nacht in Ägypten. Die kleine Stadt Memphis schlief. Doch waren im Tempel der altägyptischen Göttin Sachmet Mariah und ein paar ihrer Gefolgsleute dabei sich den Weg zur Pyramide des Horus zu ebnen. Eigentlich war das Gebäude nur noch als Sehenswürdigkeit zu besichtigen, doch Mariah hatte sich die Freiheit genommen die gelegten Begrenzungen zu überschreiten. Sie stand bei der Statue der Göttin. Um sie herum war ein Ring befestigt. Mariah prüfte ihren Kompass und wo genau Süden war. Dann packte sie den Ring und begann die Statue zu drehen. Natürlich war dies ein großer Kraftakt, da seit fünftausend Jahren dies niemand mehr getan hatte. Schließlich erreichten sie den genauen Südpunkt und die Statue rastete ein. In den Augen der Statue erschien ein rotes Licht, das auch sogleich wieder erlosch.

„Jetzt fehlt nur noch eine", sprach sie in ihr Handy.

„Sehr gut", lobte Charles James West.

Währenddessen lag Lara wach. Das, was Mariah ihr gesagt hatte, ließ sie einfach nicht los. Wie wild dachte sie an ihre Vision. Es gab keine Zusammenhänge. Was hatten eine Löwin, eine Handwerkerstätte und ein Blumenfeld miteinander gemein? Es gab einfach keine Verbindung.

„Löwin, Handwerkerstätte, Blumenfeld…und warum in Memphis…?", murmelte sie. Sie wollte die Augen schließen und ins Land der Träume sinken, als sie noch einmal das Bild vor sich aufbaute.

„ICH HAB'S!", rief sie in den Raum hinein, woraufhin auch Samantha aufwachte.

„Was'n?", nuschelte sie schlaftrunken und mit zerzausten Haaren. Lara sprang vom Bett und huschte hinüber zu Samantha.

„Ich weiß, was die Vision bedeutet und warum wir in Memphis sind! Wegen der Göttertriade von Memphis, die aus Sachmet, der Löwengöttin, ihrem Gefährten Ptah, dem Gott der Schöpfung und des Handwerks und deren gemeinsamer Sohn Nefertem, dem Gott des Wohlgeruchs oder auch ‚die Blume unter der Nase des Re' besteht! Es macht auf einmal Sinn! Die Göttertriade hat bestimmt etwas hiermit zu tun!", sprudelte es aus ihr heraus und auf einmal war auch Samantha hellwach.

„Du bist besser als irgendeine Bibliothek!", ehrte sie Lara und fiel ihr um den Hals.

„Hier gleich um die Ecke war doch der Tempel von Nefertem, oder? Am besten klappern wir die Tempel alle nacheinander ab! Komm schon, Sam, steh auf!"

„Komisch, dass der Tempel nicht irgendwie geschützt ist", bemerkte Samantha, als sie Nefertems Tempel betraten.

„Memphis hat nicht viel Geld…das war im Altertum anders", erklärte Lara und sah sich im Tempel um. In der Mitte stand eine große Statue des Gottes. Um den Sockel, auf dem sie stand herum, war ein goldener Ring angebracht. Lara bückte sich und musterte den Sockel.

„Schau, hier steht etwas", meinte Lara und auch Samantha ließ sich herab. Gerade wollte sie die Hieroglyphen berühren, als ein Pfeil mit einem mal zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger steckte. Samantha war erschrocken zurückgewichen. Nun drehte sich auch Lara um. Hinter ihnen standen etwa zehn Menschen, die in schwarz altägyptischen Sachen gekleidet waren. Man konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da die Roben nicht nur den Körper, sondern auch Kopf und Antlitz verbarg. Eine Frau stand, wahrscheinlich als Anführerin, in der Mitte der Gruppe. Sie hielt noch immer den Bogen, mit dem sie den Pfeil geschossen hatte.

„Ihr dürft nicht gegen die Gesetzte der Prophezeiung verstoßen", versetzte die Frau den beiden und senkte den Bogen. „Sonst werdet ihr sterben."

„Welche Gesetzte?", wollte Lara wissen. Sie war von den Eindringlingen nicht besonders beeindruckt, wusste jedoch, dass Kuttenträger selten etwas Gutes verhießen.

„Das wisst ihr. Um den Tempel zu finden, muss man die Ebenbilder der verbündeten Götter des Horus zum Zentralplatz der Stadt ausrichten. Dies darf aber nur bei Nacht und alle 24 Stunden getan werden. Bei Neumond erscheint dann der Weg zur heiligen Stätte des Horus. Dort, wo wir leben", erklärte die Frau gelassen.

„Ehrlich gesagt wussten wir das noch nicht. Aber danke, das war sehr hilfreich", gab Lara zurück.

„Seid ihr diejenigen, die auch schon die Götter Sachmet und Ptah ausgerichtet haben? Habt ihr alle fünf Pyramiden-Teile zusammen?", fragte die Verhüllte.

„Die anderen Statuen sind schon ausgerichtet worden?", wiederholte Lara und richtete sich auf. „Das war Mariah Powell", wisperte sie Samantha zu, die nickte.

„Also ward ihr es nicht? Wer ist diese Mariah Powell?"

„Sie ist unsere Feindin. Sie will die Macht der Pyramide für sich. Wir wollen sie aufhalten", antwortete Lara der Fremden.

„Ihr wollt die aufhalten…? Warum?", erkundigte sie sich misstrauisch.

„Ich würde mal sagen, das hier erklärt alles", gab Lara zurück und deutete auf ihren Oberarm, auf dem das Tatoo des Ankhs zu sehen war.

„Ihr seid…", begann die Frau. Sie war erleichtert und streifte ihre Kapuze zurück.

„Mariah Powell!", riefen beide spontan. Die Frau hatte Mariahs Aussehen. Sie hatte die gleiche Hautfarbe. Jeder Gesichtszug stimmte mit dem von Mariah überein. Jedoch war da ein grundlegender Unterschied. Ihre Haarfarbe war schwarz und nicht blond.

„Was sagt ihr?", fragte Mariahs Double verwirrt.

„Verzeihung…sie sehen nur jemandem sehr ähnlich", erklärte Samantha.

„Mariah Powell? Eben war sie noch eure Feindin, die die Macht der Pyramide will."

„Das…das ist sie auch. Sie sieht genau so aus wie Sie. Außer natürlich, dass sie blondes Haar hat und nicht schwarzes", gab Lara zurück.

„Sie sieht mir ähnlich und ist blond? Das…das kann nicht sein…Shai…?", murmelte die Fremde. „Natürlich…sie weiß alles darüber…"

„Wer ist Shai?", hinterfragten Lara und Samantha gleichzeitig.

„Sie ist meine jüngere Schwester…auch sie war blond…ihr müsst wissen, dass wir diejenigen sind, die draußen im geheimen Tempel des Horus dafür sorgen, dass niemand die Macht der Pyramide missbraucht. Auch Shai…oder Mariah…so hat sie sich doch genannt? Auch Shai gehörte einmal zu uns…sie lernte alles über die alte Legende wie es der Brauch bei uns ist. Aber…"

Und so begann Shug, wie sie sich wenig später vorstellte, die Geschichte von Mariah Powell zu erzählen. Es war eine traurige Geschichte und zum Teil verstanden Lara und Samantha nun auch, warum Mariah so geworden ist wie sie war.