Der Mond schien hell in dieser Nacht. Es brauchte nur eine Kerze, um den Raum, in dem Mariah Powell saß, zu erhellen. Sie legte die Beine auf den Tisch und kippelte ein wenig mit ihrem Stuhl, als sie ihren mit Schalldämpfer versehenen Revolver musterte und ihn noch einmal säuberte.
Sie wusste noch genau wie ihre Kindheit war. Sie war schrecklich. Ja, sie war als eine Hüterin von Horus' Geheimnis aufgewachsen. In der Schule, in der man sie ihre Schrift und Sprache lehrte, ihr die Legende der Pyramide erklärte, war sie eine der besten gewesen. Sie war die Klügste der Klasse, vielleicht sogar des ganzen Volkes.
Aber davon hatte sie wenig.
„Shai, du Hure! Du bist genau so eine Hure wie deine Mutter es war!", hatte man ihr immer und jeden Tag hinterhergerufen. Ihre Mutter war keine Hure. Sie hatte einmal einen Mann kennengelernt, der laut Erzählung aus England kam und viel Geld hatte, mit dem sie eine Affäre hatte. Es war eine einmalige Sache gewesen und daraus war Shai hervorgegangen. Ihre Mutter starb jedoch kurz nach Shais Geburt und hatte sie allein gelassen. Dafür hasste sie ihre Mutter. Jeder erkannte, dass sie nicht ‚reinrassig' wie alle anderen war. Ihr Haar war nicht wie das aller anderen schwarz, sondern blond.
Es schien eines der größten Verbrechen seinen Mann zu betrügen und ein noch größeres Verbrechen war es das Kind eines solchen Ehebruchs zu sein. Niemand hatte je zu ihr gehalten. Nicht einmal Shug, ihre Halbschwester, da sie nur dieselbe Mutter hatten, gab ihr Sicherheit. Niemand hatte sie je verteidigt.
Shai war ein schwaches und zurückhaltendes Kind. Sie war eingeschüchtert und still. Sie versuchte die Beleidigungen, die Sticheleien und die Schläge zu ertragen, die man ihr tagtäglich antat. Nachts war lag sie allein in ihrem Bett und hatte geweint.
Doch eines Nachts konnte sie nicht mehr. Sie hatte solche Angst vor dem morgigen Tag, dass man ihr wieder nur wehtun würde, also fasste sie einen Entschluss.
Sie rannte fort. Sie warf sich ein Tuch über, unter dem sie ihr Gesicht verbarg, packte etwas Proviant und Getränke ein und floh. Damals war sie fünfzehn.
Sie rannte so schnell sie konnte durch den heißen Wüstensand, weil sie Angst hatte, dass man sie verfolgte, um sie zurückzuholen, damit man sie wieder quälte. Mit Tränen in den Augen lief sie so schnell sie konnte mit ihren abgenutzten Sandalen durch die Einöde. Doch es wurde heiß und ihre Vorräte reichten bei weitem nicht aus. Sie brach zusammen und wollte in Ohnmacht fallen, aber der heiße Sand, auf den sie fiel, hielt sie davon ab.
„Schau mal, da! Was ist denn das?", hörte sie eine Stimme verschwommen sagen.
„Ein Mädchen! Wie nett, endlich etwas zum Spielen!", feixte eine andere Stimme pervers. Shai wollte wieder aufstehen und wieder laufen, doch sie hatte keine Kraft mehr und als einer der Männer ihr ein Gewehr vorhielt, konnte sie sich sowieso nicht wehren. Der eine ließ sich nieder und berührte sie. Shai atmete schwer von der heißen und sandigen Luft. Sie hätte geweint, wäre ihr Körper nicht so ausgetrocknet wie er war. Sie hatte keine Kraft mehr. Man wollte ihr kein Glück schenken. Sie sollte alles Pech dieser Welt erfahren.
„Was tut ihr da?", hatte ein Mann gerufen und schon ließen die Männer von Shai ab.
„Wir dachten nur…Mister West…wir…", stammelte einer der Söldner.
„Anscheinend habt ihr nicht gedacht!", bellte er sie an und wandte sich Shai zu. „Wer bist du?", fragte er sie.
„Shai…", hatte sie noch hervorgebracht, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Mariah nahm aus einer Schachtel eine Kugel. Sie legte diese in den Revolver und schloss die Walze. Nachdenklich nahm sie die Beine vom Tisch und stand auf. Nachdem sie die Kerze gelöscht hatte, verließ sie das Zimmer. Draußen hielten schon zwei Söldner den Mann fest, den Mariah als ‚Ratte' bezeichnete.
„Was willst du, Mariah?", fragte er. „Und warum dieser brutale Befehl?"
„Für dich Miss Powell. Zum letzten Mal", gab sie zurück und hielt ihm den Revolver vor. Er erstarrte vor Angst. Sie hatte nur eine Kugel im Revolver. „Wir brauchen dich nicht mehr", erklärte sie und nahm den Revolver zurück. „Tötet ihn."
Er wollte um Gnade flehen, doch Mariah hörte nicht. Stattdessen wurde von den Männern der Befehl ausgeführt. Sie ging ein paar Schritte durch den Gang, bis sie vor der Zimmertür von Charles James West stand. Sie nahm die Klinke in die Hand.
Shai wachte auf, ohne zu wissen, wo sie war. Sie empfand es als fremd, auf einer so weichen Matratze wie dieser zu liegen. Sonst hatte sie immer auf einer harten Pritsche schlafen müssen. Doch es fühlte sich gut an. Schließlich öffnete sie die Augen und richtete sich auf. Das Zimmer, in dem sie war, sah……so luxuriös aus, dass Shai nicht einmal gewagt hatte davon zu träumen. Es war geräumig, voll von eleganten Möbeln und wunderschön dekoriert. Sogar ein Aquarium stand am Ende des Raumes. Nun bemerkte sie auch, dass sie nicht mehr ihr zerlumptes Kleid trug, sondern ein vornehmes Nachthemd. Da öffnete sich die Tür.
„Du bist wach", stellte die gleiche Stimme fest, die auch die Söldner zurecht gewiesen hatte. „Wie geht es dir? Die Ärzte meinten du seiest fast ausgetrocknet."
„Bin ich?", hinterfragte sie abwesend. Sie war beeindruckt von dem Mann, der sie beschützt hatte. Er war schon älter, aber sah jünger und gut aus. Auch sein Haar war blond.
„Du sagtest dein Name ist Shai? Ich bin Charles James West", stellte er sich vor. „Woher kommst du Shai?"
Shai schluckte, zwang sich jedoch seine Frage zu beantworten. Und so erzählte sie ihm, woher sie kam, dass sie weggelaufen war und warum. Aus irgendeinem Grund redete sie mit ihm über alles. Es war das erste Mal, dass sie sich jemandem öffnete und danach fühlte sie sich so gut wie noch nie. Sie war in Sicherheit bei diesem Mann, der sie wirklich schätzte und sie wie einen Menschen behandelte. In dieser Aussprache gestand auch Charles James West, dass Shai ihn an eine Frau erinnerte, die er vor fünfzehn Jahren kennen gelernt hatte. Shai sollte ihr so ähnlich sehen, bis auf ihre blonden Haare.
Am Ende des Gesprächs, als Shai sich wieder beruhigt hatte und sie in seinen Armen lag, schlug er ihr vor, dass sie ihn zu einer feinen Party begleiten solle, wozu sie allerdings Englisch lernen müsse. Er würde ihr jedoch einen Lehrer engagieren, der es ihr beibrächte. Shai willigte ein, obwohl sie nicht wusste, was Englisch ist. Sie wusste nicht einmal, dass es andere Sprachen als Ägyptisch gab.
Also lernte sie Englisch und es viel ihr leicht, es machte ihr Spaß Englisch zu sprechen. Innerhalb von drei Wochen beherrschte sie die englische Sprache und nun war auch die Feier, von der ihr Charles James West erzählt hatte. Sie trug ein edles und teures Kleid und Schmuck, der so teuer aussah, dass sie nie geahnt hätte ihn einmal zu tragen. Sie sah an diesem Abend wunderschön aus und sie wirkte so erwachsen, dass niemand glauben wollte, dass die Dame, die Charles James West begleitete erst fünfzehn Jahre alt war.
Ja, sie war glücklich gewesen, wenn auch nur kurz. Sie hatte sich in ihn verliebt und er sich in sie. Sie waren ein Paar und alles lief wunderbar, bis zu jenem schicksalhaften Tag.
An diesem Tag hatte sie ihn bei seiner Arbeit besucht. Er brütete über einem riesigen Berg Unterlagen und als Shai sich diese ansah, erkannte sie, dass er nach der Pyramide des Horus suchte. Von dem Tag an schwand seine Liebe für Shai, oder Mariah wie sie sich von nun an nannte. Es ging ihm nur noch um die Pyramide des Horus.
Er betrog sie sogar mit anderen und Mariah bekam dies mit. Auch ihre Liebe für ihn erlosch und irgendwann begann sie sogar ihn zu hassen.
Er hatte ihr wehgetan wie alle anderen auch. Um sich abzulenken erlernte sie den Umgang mit der Waffe und auch andere Kampfsportarten. Zwar beherrschte sie den Kampfstil ihres Volkes, aber mit dem wollte sie nun nichts mehr zu tun haben. Nur in besonderen Situationen wandte sie ihn an, bei besonders schweren Gegnern wie Lara Croft zum Beispiel.
Sie öffnete die Tür. Drinnen saß Charles James West, auf der Couch.
„Geht es los, Mariah?", fragte er. Mariah ging auf ihn zu.
„Na ja…wie man's nimmt. Für manche endet die Reise hier", antwortete sie und umklammerte fest den Revolver hinter ihrem Rücken.
„Du meinst Croft und Jones?"
„Nein, die beiden meine ich nicht. Viel mehr dich."
Sie nahm den Revolver hervor und hielt ihn ihm an den Kopf. Nun sollte er endlich dafür bezahlen, dass er erst Hoffnungen in ihr geweckt und diese dann wieder erstickt hatte. Er sollte dafür bezahlen, dass er ihr erst die große Liebe vorgespielt und sie dann betrogen hatte.
„M-Mariah…was soll das?", wollte er verängstigt wissen.
„Ich werde dich jetzt umbringen, dafür, dass du mich all die Jahre wie Dreck behandelt hast. Für dich war ich doch nur ein Spielzeug. Du hast mich nie wirklich geliebt. Und dir habe ich von damals erzählt…das Schlimmste ist, dass sie nun Recht haben…ich bin eine Hure geworden. Aber ich werde sie alle töten. Dann kann mir niemand mehr etwas."
„Mariah, du hast es mir zu verdanken, dass-"
„Halt die Klappe. Ich habe keine Lust auf Diskussionen", unterbrach sie ihn und drückte ab.
„Miss Powell, wird Mister West uns gar nicht begleiten?", erkundigte sich einer ihrer Gefolgsleute, als sie sich auf den Weg machte.
„Nein. Er fühlt sich nicht gut", antwortete sie.
