Lara sah eine altägyptische Beerdigung, so wie sie es aus Büchern kannte. Der Tote wurde zu Grabe getragen und in eine Pyramide eingelassen. Hinter dem Sarkophag schritt eine Frau. Sie war Ägypterin und war wie vor mehreren Tausend Jahren gekleidet. Sie weinte. Über ihr schönes Gesicht rannen die Tränen. Sie schien den Verlust dessen, der gerade zu Grabe getragen wurde, zu bedauern.
Schon wechselte das Bild zu einer Krönung, bei der man einer Frau die Pschent-Krone aufsetzte, das Symbol der Regierung Ober- und Unterägyptens. Man setzte sie genau der gleichen Frau auf, die noch eben hinter dem Sarkophag gegangen war.
Das nächste Bild zeigte die selbe Frau wie sie vor einer Horus-Statue kniete und, die Hände gefaltet, ein Gebet sprach.
Nun sah sie wie die Frau sich auf einer Sänfte davontragen ließ, weg von einem großen Palast, in dem großer Aufruhr zu herrschen schien. Sie trug keine Krone mehr und war in ein simples Tuch gewickelt.
Danach folgte ein Bild, das Lara nicht mehr richtig erkennen konnte. Es zeigte die selbe Frau, doch trug sie nun wieder ihre Krone. Ihr Blick war so merkwürdig leer. Sie hielt eine Kette vor sich. Lara wollte die Kette genauer betrachten, doch es wurde immer heller, so hell, dass sie nicht mehr hinsehen konnte und schließlich aufwachte.
„Was…war das?", wollte sie außer Atem wissen. Sie schwitze und lag noch immer auf dem Boden. Shug beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Becher mit Wasser.
„Kommt drauf an…was hast du gesehen?", fragte Shug.
„Ich sah diese Frau…auf einer Beerdigung…bei einer Krönung…einem Gebet…einer Flucht…und…wie sie eine Kette in der Hand hatte…aber ihr Blick, der war so…so leer", schilderte Lara ihre Vision.
„Gut", kommentierte Shug. „Du hast soeben die ehemalige Pharaonin Merit gesehen. Bei genau diesen Situationen. Du hast noch einmal ihre Geschichte gesehen. Wie sie durch den Tod ihres Mannes Pharaonin wurde. Jedoch duldete man keinen weiblichen Herrscher und man hetzte das Volk gegen sie auf. Sie flüchtete sich zu Horus, der ihr die Pyramide des Horus gab, da sie ihre schlechte Seite vernichten lassen wollte, um auf immer im Guten zu regieren und Ägypten zu einem friedlichen Land zu machen."
„Aber was bedeutet das?"
„Das bedeutet, dass du die Auserwählte bist, von der in der Prophezeiung berichtet wird."
„I-ich?", stotterte Lara. Sie kannte viele Legenden, die von ‚Auserwählten' sprachen, doch Lara hatte nie geglaubt selbst einmal einer von diesen zu werden. Noch einmal ging sie die Prophezeiung durch.
‚Sollte es doch Verrückten gelingen, die fünf Teile der Macht zusammenzusetzen, kann die Menschheit nur hoffen, dass einer dem Einhalt gebietet, der von den Priestern des Horus Kraft erhalten wird, denn wenn nicht, wird eine Katastrophe ausbrechen, ein neuer Pharao wird regieren, nur um seinen Durst zu stillen, vielleicht sogar, um zu vernichten, unsere Welt...'
Ging es in diesen Versen wirklich um sie? Es war kaum vorstellbar.
„Wir legen unser aller Schicksal in deine Hände. Folge mir", bat Shug und Lara stand auf. Samantha, die ein paar der Verletzten half, hatte gar nicht alles erklären müssen, da Shug dies schon getan hatte, kurz nach dem diese über Mariahs Vergangenheit berichtet hatte.
„Warte hier auf mich, Sam. Ich werde die ganze Sache gerade biegen", versicherte sie Samantha. Die nickte und fiel Lara um den Hals.
„Aber…komm lebend zurück, okay?"
„Versprochen", antwortete Lara und sah in das sorgenvolle Gesicht ihrer besten Freundin.
„Wir haben nicht viel Zeit", unterbrach Shug. Die beiden lösten ihre freundschaftliche Umarmung und Lara folgte Shug zum Tor, durch das auch Mariah getreten war.
„Shug, was tust du da?", fragte ein älterer Mann entsetzt hinter ihnen, als Shug das Tor öffnen wollte.
„Sie ist diejenige, von der in der Prophezeiung berichtet wird. Ich habe den Staub verwendet. Sie hat die Pharaonin gesehen", erklärte Shug knapp und ohne sich umzusehen.
„Das ist erst ein Test von vielen! Wir dürfen nicht so leichtfertig damit umgehen!", versuchte er Shug von ihrem Vorhaben abzubringen.
„Wir haben keine Zeit mehr. Entweder wir sehen diese Frau als Auserwählte an oder wir sehen tatenlos zu wie Shai sich die Macht unter den Nagel reißt. Ich weiß, dass sie es ist", beendete Shug die Diskussion und öffnete das schwere Tor. „Geh und folge deinem Wege bis zum Schrein. Halte sie auf", bat Shug. Lara sah in den dunklen Gang. Alles war schwarz, kein Fünkchen Licht schien hinein.
„Das werde ich", gab Lara zurück und betrat den Gang.
‚Glaube mir, Mariah. So einfach mache ich es dir nicht.'
