Man schloss das Tor hinter ihr. Sie war in vollkommene Dunkelheit getaucht. Da begann plötzlich ihr Arm zu schmerzen. Sie hielt sich die Stelle mit dem Ankh und schloss vor Schmerz die Augen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war der Gang hellerleuchtet von Fackeln. Vor ihr lag eine Treppe, die nach unten führte, wo sie ein Becken mit Wasser erkennen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, was sie trug. Es war ein weißes Gewand, das ihr bis zu den Knien ging. Es war aus Seide und ließ ihre Arme frei. Auch ihr Haar war auf einmal geöffnet.
‚Anscheinend gehört das zu diesem ganzen…Ereignis', ging es ihr durch den Kopf. Zwar war es nicht das erste Mal, dass sie die Welt rettete (obwohl das ziemlich eingebildet klang wie Lara meinte) pochte ihr Herz schneller als sonst. Auch wenn niemand hier war, der zusah, versuchte sie sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Sie ging die Treppe hinunter, bis diese im Wasser endete, das ihr beim Eintreten etwas bis zum Becken gereicht hätte. Auf der letzten Stufe, vor dem Wasser war etwas eingraviert. Lara kniete, um die Hieroglyphen genauer zu entziffern.
‚Wer diese geheiligten Gewässer betritt, sei gewarnt. Trägt er nicht den Schatz mit sich oder ist er nicht der, den das Schicksal dazu auserkoren hat, den, der die Macht begehrt aufzuhalten, so wird ihm das heilige Wasser des Horus auf der Haut brennen wie Feuer', stand dort geschrieben.
‚Okay…ich hab wohl keine andere Wahl', dachte Lara und setze einen Fuß in das Wasser. Es brannte nicht wie Feuer, es fühlte sich wunderbar warm an. Also stieg sie die Stufen herab und watete durch das Wasser. Am Ende führte eine Treppe wieder auf ebenen Boden. Was Lara verwunderte war, dass sie kein bisschen nass war. Doch sie hatte jetzt keine Zeit sich zu Gedanken zu machen.
Sie ging weiter durch den hellen Korridor, bis vor ihr ein Tor auftauchte. Es hatte keinen Griff, um es zu öffnen. Lara schloss jedoch, was sie nun zu tun hatte.
„Bei Horus, dem Gotte in Falkengestalt, schwören wir, dass wir den Schlüssel zu der Macht, die Osiris Merit besaß, auf ewig mit unserem Leben beschützen werden, um jene, die Macht begehren zu hindern daran, dass eine Katastrophe ausbricht und wieder ein Pharao herrscht, der nur Rache sucht, um den Durst zu stillen, der durch Ungerechtigkeit entfacht wurde. Wir schwören in alle Himmelsrichtungen zu ziehen, um zu verstecken, was Machthungrige suchen, um ihnen den Gang zur Macht zu erschweren, und je einen Teil des Schatzes zu bewahren, soll in jeder Generation mindestens einer wissen, was seine Familie besitzt, um das Zeichen des Horus zu tragen und den Schatz bewahren. Sollte es doch Verrückten gelingen, die fünf Teile der Macht zusammenzusetzen, die Familien zu überlisten, die Schätze zu stehlen, den heiligen Tempel zu finden und deren Wachen zu töten, kann die Menschheit nur hoffen, dass einer dem Einhalt gebietet, der von den Priestern des Horus Kraft erhalten wird, denn wenn nicht, wird eine Katastrophe ausbrechen, ein neuer Pharao wird regieren, nur um seinen Durst zu stillen, vielleicht sogar, um zu vernichten, unsere Welt..."
Und schon öffnete sich das Tor, langsam und knarrend. Sie sah von hier aus schon fünf Podeste in einem Kreis aufgestellt. Als sie näher trat, sah sie, dass man in deren Vertiefungen schon die fünf Stücke der Pyramide eingesetzt waren. Sie leuchteten rot. Lara musterte jedes Stück einzeln. Sie erinnerte sich an Chile, wo sie das letzte Stück der Pyramide vom Ältesten überreicht bekam. Wie sehr sie sich gefreut hatte.
Wie sie in Alaska Craig Oktolik begegnet waren, seiner Nichte Rachel, die sie in das Zelt im Eis geführt hatte. Wie er ihr das Stück in einer Schatulle überreicht hatte.
Sie erinnerte sich an Indien, als sie das Stück letzten Endes bei Tamil Pradesh gefunden hatten, an den die rechtmäßige Besitzerin, Mainya Tamang, es aus Armut verkauft hatte.
Und sie erinnerte sich an England. Wie Sean sie eines Abends besucht hatte und ihr diesen Auftrag gegeben hatte. Wie Mariah Powell in ihr Haus eingebrochen war. Wie Sean durch sie im Koma landete.
Wie sehr hatte sie in diesem Abenteuer gekämpft. Wie viele hatten sich opfern müssen.
Doch nun besinnte sich Lara wieder der Realität und sah auf. Eine lange Treppe führte auf ein noch größeres Podest, von dem ebenfalls ein rotes Licht ausging. Auf dieser Treppe ging langsam…
„Mariah!", rief Lara, woraufhin sich ihre Rivalin zu ihr umdrehte. Auch Mariah trug ein weißes Gewand wie Lara. Ihre Augen waren mit Kohle umrandet, in der Form eines Udjat-Auges. So wie man es früher im alten Ägypten getan hatte.
„Da bist du ja. Ich habe mir schon gedacht, dass du mir folgst", antwortete sie wie in Routine. „Was willst du jetzt tun? Wie willst du mich aufhalten? Bin ich dafür nicht schon etwas zu nah am Ziel?"
Warum sprach Mariah so komisch? Sie wirkte kein bisschen glücklich, dass sie nun so weit gekommen war. Im Gegenteil. Sie wirkte eher betrübt.
„Und du? Warum redest du eigentlich noch mit mir? Warum bist du nicht schon längst dort oben?", entgegnete Lara.
„Wieso willst du mich aufhalten?"
„Weil du diese Welt zerstören willst", gab Lara angespannt zurück.
„So? Glaubst du ich will diese Welt zerstören?"
„Wenn du es nicht willst, warum bist du dann so weit gegangen?"
„Ich will die Welt nicht zerstören, ich will eine neue erschaffen. Ich will eine Welt, in der niemand mehr Schmerz erleiden muss. Ich weiß wie es ist, wenn man ausgeschlossen und von anderen gemieden wird. Du weißt es doch auch, oder? Ich habe dein Leben erforscht. Warst du nicht auch früher ein Außenseiter in deiner Gesellschaft, weil du anders warst? Weil du nicht wie die High Society den ganzen Tag Tee getrunken und Polo gespielt hast? Ich würde dich überleben lassen. Warum hast du Angst vor der Welt, die ich erschaffen will?"
Es verwirrte Lara. Sie hatte Recht. In der High Society hatte man schlecht von ihr gesprochen, weil sie anstatt zu heiraten und Kinder zu bekommen, ihr abenteuerliches Leben vorzog, ohne ein festes Zuhause und jeden Tag anderswo.
„Die Welt ist schlecht und das wissen wir. Aber es muss nicht so bleiben. Ich kann es ändern, wenn ich jetzt hier rauf gehe. Wir müssen nicht weiter einander bekriegen. Wir könnten allen, die uns böses getan haben, eine Lektion erteilen."
„So ein Quatsch", antwortete Lara. „Glaubst du nur weil uns jemand etwas Böses getan hat, gibt es uns das Recht ihn zu bestrafen? Was glaubst du wie viel man selbst davon spürte, wenn man danach ginge? Das Leben ist nicht immer fair und oft ist es verdammt hart, aber deshalb leben wir doch, oder? Um diese Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Manch einer hat es leichter, der andere härter…aber so will es das Schicksal nun mal. Aber wenn man seine Probleme überwunden hat, dann ist man stärker geworden. Und darum geht es im Leben doch. Ums Stärkerwerden."
„Was ist, wenn man von Anfang an nicht stark genug ist? Wenn man dem, was einem angetan wird, nicht gewachsen ist? Es gibt viele dieser poetischen Sprüche! Sie klingen zwar schön, aber man kann sie nicht in die Tat umsetzen. Dieses ganze Gerede vom Stark- und Mutigsein ist nichts weiter als debile Einbildung! Früher habe ich auch gedacht ‚sei stark, das schaffst du!', aber es hat nicht geholfen! Es gibt kein stark und schwach, es gibt nur diejenigen, die schlecht sind und Menschen, die ein gutes Herz haben, ausnutzen."
„Du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft verkaufen, dass du zu den Guten gehörst!", rief Lara aufgebracht.
„Nein. Durch diejenigen, die mir Leid zugefügt haben, bin ich so geworden wie ich bin. So kalt… ich weiß, dass ich auch zu den Schlechten gehöre, weil ich Böses getan habe. Aber das kann ich nun ändern. Wenn ich Horus nun den schlechten Teil meiner Seele gebe, dann werde ich Menschen mit guten Herzen erkennen. Und diejenigen, die keines haben, werde ich von dieser Welt verschwinden lassen."
Mariah ging weiter die Treppe hinauf.
„Mariah…Shai! Nein!", rief Lara ihr hinterher, doch es war zu spät.
