Broken Wings

Es war Nacht. Längst hatten die Vögel ihre Köpfe unter die Flügeln gesteckt, während die Eulen jetzt erst so richtig zum Leben erwachten und sich auf Mäusejagd begaben. Die Sterne funkelten am Himmel und der Mond erhellte so gut er konnte die Landschaft unter ihm. Somit wurde das Schloss in ein glitzerndes Silber getaucht. Majestätisch ragte es aus der Landschaft und trotze der Finsternis, wie ein Felsen in der Brandung. Die meisten Lichter waren schon erloschen. Doch in einem Fenster, so konnte man sehen, brannte noch immer Licht.

Es war das Büro von Professor Dumbledore. Der Schulleiter von Hogwarts hatte zu dieser späten Stunde alles andere als eine ruhige Minute. Doch er war nicht alleine. Professor McGonagall, Professor Snape und Mr. Weasley standen um den Schreibtisch versammelt, auf dem sich Albus Dumbledore nun stützte.

„Woher wissen wir, dass das nicht wieder ein Versuch ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Laut Arthur hat Potter regelmäßig geschrieben und es ging ihm gut. Auch Mrs Figg hat keine besonderen Geschehnisse beobachtet. Es wäre typisch für Potter und, wie ich darauf hinweisen darf, auch nicht das erste Mal, dass er nicht mit dem Hogwartsexpress angereist kommt. Womöglich ist der Bengel mit einem fliegenden Teppich unterwegs, oder was weiß ich!"

„Wie gerne würde ich es glauben, Severus. Aber ich denke nicht, dass Harry so etwas tun würde. Nicht zu Zeiten wie diese. Er ist nicht mehr der unwissende kleine Junge. Er weiß, was da draußen abgeht und ich kann mir nicht vorstellen, dass er sein Leben derart leichtsinnig aufs Spiel setzten würde."

„Aber der Tod von Sirius ist ihm ziemlich nahe gegangen. Womöglich will Harry gar nicht mehr zurück zur Schule."

„Diesen Gedanken habe ich auch kurz gehabt, Minerva. Aber es passt nicht zu Harry, so schnell aufzugeben. Cedrics Tod hat ihn auch mitgenommen, aber er hat es weggesteckt, wie so vieles anderes auch. Der Junge hat ein Rückgrat wie keiner von uns, mich eingeschlossen."

„Ich habe Harrys Briefe, die er an Ron geschickt hat, noch einmal überflogen und versucht zwischen den Zeilen zu lesen. Aber es ist absolut nichts Auffälliges zu finden gewesen. Außer, dass er in den Ferien niemanden sehen wollte. Sirius Tod hat ihn sicher mehr mitgenommen. Ron hat mir erzählt, dass Sirius Harry angeboten hat einmal bei ihm zu wohnen. Womöglich kämpft der Junge mehr mit dem Tod seines Patens, als er zugibt."

„Hast du die Briefe mit, Arthur?" fragte Dumbledore mit erhobenen Augenbrauen.

„Ja, hier!"

Dumbledore nahm Mr. Weasley die Briefe ab. Über die zwei Monate hat sich ein ganzer Pack gesammelt. Während der Schulleiter sich einen der Briefe heraus fischte, nahm Severus sich den letzten zur Hand, der erst drei Tage alt war.

Hi Ron.

Nichts Neues hier. werde von Onkel Vernon nach Kings Cross ge bracht. Ich Schlage vor wir treffe n uns dort."

„Nichts Auffälliges sagst du?" fragte Severus, als er die eigenartige Rechtschreibung betrachtete.

„Hast du was gefunden?" fragte nun Dumbledore.

„Er schreibt nach einem Punkt klein und mitten im Satz auf einmal groß. Und diese zwei Lücken? Ist er etwa mit der Hand abgerutscht?" Severus legte den Brief auf den Tisch, sodass die anderen ihn betrachten konnten.

„Denkst du es hat was zu bedeuten? Vielleicht hat er ihn einfach nur hastig geschrieben?" meinte Arthur.

„Hmm, ich gebe Severus Recht, es ist ungewöhnlich für Mr. Potter. Selbst wenn er unter Hast schreibt, macht er nicht solche Fehler" stimmte McGonagall zu.

Severus griff nach Dumbledores Feder und schrieb die falsch geschriebenen Wörter zusammen. Als er den neuen Satz aufgeschrieben hatte, trat betroffenes Schweigen in die Runde.

Professor McGonagall schlug entsetzt die Hände über ihren Mund.

„Mein Gott" stöhnte Mr. Weasley betroffen.

Dumbledore sah traurig auf die Worte vor sich: „Werde ge Schlage n"

ooo

„Und? Was hast du herausgefunden?" fragte Dumbledore, als Severus eine Stunde später wieder ins Büro kam.

Severus sah seltsam verschlossen drein.

„Severus?" fragte der Schulleiter verwirrt nach.

Der Angesprochene sah nun ernst in die Augen des Schulleiters. „Haben Sie gewusst, wie diese Muggeln (Er spie das Wort förmlich aus) sind?"

Dumbledore zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Das sind die schlimmsten Muggeln die mir je unter gekommen sind." gestand Severus.

„Das hab ich damals auch gesagt" murmelte Minerva vor sich hin.

„Ich weiß, sie sind nicht besonders auf uns Zauberer zu sprechen. Aber es sind Harrys letzte leibliche Verwandte. Nur dort konnte der Blutschutz wirken, der den Jungen unauffindbar für die Todesser und Voldemort machte" erklärte Dumbledore.

„Nicht besonders auf uns Zauberer zu sprechen ist die Untertreibung des Jahrhunderts! Albus, wie lange zuvor hattest du sie beobachtet, als du entschieden hast Potter dort unterzubringen?"

„Ich verstehe nicht. Worauf willst du hinaus?" fragte nun der Direktor verwundert.

„Nicht einmal ich hätte Potter das angetan!" sagte Severus mit finsterer Miene.

Dumbledore blickte über den Rand seiner Brille „Was hast du herausgefunden?" wiederholte er erneut.

„Vernon Dursley behauptete, er habe Harry zum Bahnhof gebracht. Was meiner Meinung nach nicht gelogen war. Aber er hat etwas verschwiegen. Ohne Legilimentik anzuwenden kam nicht dahinter was. Leider ist das bei Muggeln ja nicht erlaubt. Aber ich würde dennoch gerne noch einmal hin, um diesem Dursley auf den Zahn zu fühlen. Vielleicht wäre Veritaserium besser. Die Anwendung wäre nicht so aufspürbar wie Legilimentik.

„Auch das dürfen wir bei Muggeln nicht!" gab Dumbledore zu bedenken.

„Ich weiß, aber diese Muggeln verschweigen etwas. Und sie freuen sich, dass Potter verschwunden ist. Auch wenn sie es nicht offen zeigen, es war unverkennbar Freude!"

„Ich werde mich bei der Muggelpolizei umhören. Vielleicht können die etwas in Erfahrung bringen", schlug nun Arthur vor.

„Tu das. Danke!"

oooooo

Inzwischen schob sich die Sonne über den Horizont. Die Eulen suchten wieder Schutz in dunkeln Winkeln und die Vögel begannen ihr Morgenlied zu trillern. Doch eine Eule war immer noch zusehen. Sie glitt über die sanfte Hügellandschaft auf das Schloss zu. Sie landete am Fenstersims und schlug mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe. In ihren Klauen befand sich eine Zeitung.

Hermine war ein wenig verwundert, als sie die Eule bemerkte, die vor dem Fenster des Mädchenschlafsaals um Einlass bat. Schnell schlug sie die Decke bei Seite, hastete zum Fenster und ließ die Eule herein. Diese schwebte in einem knappen Bogen durchs Zimmer, ließ die Zeitung in Hermines Bett fallen und war im nächsten Augenblick auch schon verschwunden.

Das Mädchen ribbelte sich verschlafen die Augen. Die Sorgen um Harry hatten sie gestern Nacht noch lange wach gehalten. Schließlich nahm sie die Zeitung auf. Ein wenig verwundert stellte sie fest, dass es eine Muggelzeitung war, und zwar jene, die ihre Eltern zu lesen pflegten. Die Zeitung war in der Mitte aufgeschlagen und umgeknickt. Über dem Artikel stand in der Handschrift ihrer Mutter: „Ist das nicht Harry?"

Hermines Mund klappte auf, als ihre Augen über den Artikel huschten. Dann schloss sie den Mund wieder. Während ihr Hirn versuchte zu verstehen, was sie da las, begannen bereits Tränen über ihre Wangen zu rinnen.

Schließlich sprang sie auf und lief aus dem Schlafsaal.

„RON!"

oooooo

„Mrs Granger? Mr Weasley? Was führt Euch zu mir?" fragte Dumbledore überrascht über den frühen Besuch von Harrys besten Freunden.

Dem Direktor war nicht entgangen, wie aufgelöst das Mädchen schien. Doch vermutete er, dass sie sich nur Sorgen machte, wie alle anderen auch. Doch er sollte eines besseren belehrt werden.

„Das hier!" sagte Hermine mit zitternder Stimme und legte die Muggelzeitung auf Dumbledores Schreibtisch.

Dumbledore zog überrascht eine Augenbraue hoch und begann zu lesen:

Ein ca. 16jähriger Junge wurde am Morgen des zweiten Septembers in den Toiletten am Londoner Bahnhof Kings Cross gefunden. Der Junge weist starke Anzeichen von Misshandlungen vor. Die Identität konnte noch nicht geklärt werden. Er liegt nun im St. Pancras Hospital, wo man sich seiner Verletzungen angenommen hat, jedoch liegt der Junge noch immer im Koma und es ist ungewiss, ob er sich wieder erholen wird. Die Polizei sucht nun nach Hinweisen über die Identität des Jungen. Unklar ist auch, wer dem Jungen das angetan hat."

Unter diesem Artikel war ein Foto von einem Jungen abgebildet, der ohne Zweifel Harry ähnlich sah.

Dumbledore ließ die Zeitung sinken und starrte die beiden Schüler fassungslos an. Er hatte gerne etwas Tröstendes sagen wollen, aber ihm fielen keine passenden Worte ein.

„Wir müssen ihn dort rausholen!" rief Hermine panisch und neue Tränen suchten sich ihren Weg über das Gesicht.

Dumbledore nickte nur stumm und starrte dann wieder auf das Foto. Harrys Körper war dünn. Dünner als normal und selbst im Gesicht hatte er Blutergüsse.

Das war der Retter der Zaubererwelt? Das war ihr Held, der sie von Voldemort befreien wird? Was um alles in der Welt haben die Dursleys gemacht? Was haben sie mit dem Jungen angestellt? Wie… wie konnten die nur einen unschuldigen Jungen derart hassen? Wie konnte er, Dumbledore, sich nur so sehr in Menschen täuschen? Muggeln hin oder her, er hätte nie gedacht, dass die Muggeln fähig waren so etwas zu tun. Was hatte er Harry nur angetan, indem er ihn immer wieder dorthin zurückgeschickt hatte? Wieso hatte Harry nie etwas gesagt? Ja, er wollte nicht zurück zu den Dursleys. Er hatte gefragt, ob er in Hogwarts bleiben könnte. Aber… Mein Gott, wer hätte gedacht, dass die Dursleys so etwas machen würden?

„Professor?"

Dumbledore schreckte hoch.

Hermine und Ron standen immer noch vor ihm.

„Ja, ich werde sofort jemanden schicken. Ihr geht am besten zum Frühstück. Ihr könnt sowieso einstweilen nichts machen. Sobald wir mehr über Harrys Zustand wissen werdet ihr informiert" sagte der Direktor und stand auf.

Noch bevor die beiden Schüler das Büro verlassen hatten, wandte sich Dumbledore seinem Kamin zu. „Severus! Poppy! Bitte in mein Büro!"

oooooo

Die Sonne lachte. Die Kinder tobten. Eine Schar Vögel stritten sich um Brotkrümeln die eine alte Dame verstreut hatte. Es war einer der letzten warmen Tage. Das Laub begann sich langsam zu verfärben und tauchte die Landschaft in ein buntes Farbenspiel.

Doch davon konnte man im St. Pancras Hospital nichts bemerken. Hier waren die Wände weiß gestrichen und die Fenster waren schalldicht, um den Patienten größtmögliche Ruhe zu gewährleisten. Alles war steril.

So auch der Raum auf der Intensivstation, wo ein schwarzhaariger Junge scheinbar friedlich schlief. Neben ihm stand ein Gerät, das in regelmäßigen Abständen einen Piepton von sich gab. Ebenso regelmäßig war ein leises zischendes Geräusch, das von einer weiteren Maschine ausging. Von dieser Maschine ging ein Schlauch in den Mund des schlafenden Jungen.

Poppy und Severus hatten sich unbemerkt einschleichen können. Doch der Anblick der sich ihnen nun bot, ließ sie erstarren.

„Was ist das für Zeug?"

„Das ist eine Beatmungsmaschine" erklärte die Medihexe und wies auf die Maschine mit den zischenden Geräuschen. „Und das hier, zeichnet die Herztöne auf."

„Was passiert, wenn wir Potter davon befreien?"

„Er würde innerhalb kurzer Zeit sterben. Offensichtlich ist sein Körper nicht fähig selbstständig zu atmen. Und soweit ich das beurteilen kann, ist sein Puls auch nicht gerade sehr hoch."

„Was tun wir?"

„Hier, halten Sie das mal." sagte Madam Pomfrey und drückte Severus den Portschlüssel in die Hand, der sie wieder sicher nach Hogwarts bringen würde.

„Sie wollen doch nicht etwa…?"

„Doch, das will ich!"

„Aber wird er dann nicht…?"

„Wir müssen schnell sein. Halten sie sich bereit!"

Poppy löste die Kabeln und Schläuche von Harrys Körper. Der CTG-Apparat fing nun an einen Dauerton von sich zu geben. Das künstliche Beatmungsgerät zischte noch einmal und dann schien ihm die Luft auszugehen und pfiff, wie ein Ballon bei dem man die Luft raus lässt. Severus war an Harrys Seite herangetreten und als Poppy aufsah, ergriff er die Hand des Jungen und hielt sie an den Portschlüssel.

ooo

Die drei landeten wie ausgemacht im Krankenflügel.

„Schnell, legen sie ihn hier rauf!" befahl Poppy und riss dem nächsten Bett der Krankenstation die Decke hinunter.

Severus hob den Jungen hoch und stellte geschockt fest, dass er überhaupt nichts wog. Kaum hatte er Harrys schlaffen Körper auf das Bett gelegt, fing die Medihexe an, wie wild um sich zu wuscheln. Ihr Zauberstab wanderte rauf und runter, hin und her. Severus wurde beinahe schlecht beim Zusehen.

Doch endlich hörte man einen röchelnden Atemzug. Darauf folgte ein Husten. Der magere Körper krümmte sich dabei schmerzhaft. Doch dann plumpste Harrys Kopf wieder kraftlos zurück ins Kissen. Madam Pomfrey fühlte den Puls und atmete dann erleichtert durch.

Severus zog eine Augenbraue fragend in die Höhe.

„Er atmet wieder selbstständig. Der Puls ist schwach, aber konstant. Mit ein paar Stärkungstränken können wir ihn sicher stabil halten. Aber wenn er nicht bald wieder aufwacht weiß ich nicht welchen Schaden sein Hirn davontragen wird."

Severus biss sich auf die Unterlippe, als ihm schmerzhaft bewusst wurde, dass er noch am Vortag auf so eine Bemerkung zynisch geantwortet hätte. ‚Den Schaden hatte er schon vorher' Doch was er nun in den letzten vierundzwanzig Stunden erfahren hatte, stellte sein Weltbild völlig auf den Kopf.

All seine Witze und bissigen Bemerkungen, die er dem Jungen gegenüber fallen gelassen hatte. All seine Vorwürfe Potter würde arrogant und verwöhnt sein, kamen ihm nun wie Messerstiche in seinem Körper vor. Und jetzt würde er sich am liebsten selbst Ohrfeigen. Wie blind hatte ihn sein Hass gemacht? Er hätte es wissen müssen. Er hatte es gesehen. In Harrys Erinnerungen bei den Okklumentikstunden. Aber er hatte es nicht wahr haben wollen. Und nun lag das Ergebnis seiner Ignoranz vor ihm. Verletzt, gebrochen. Wie ein Vogel, der nicht mehr fliegen konnte.

Dabei hatte ihn der Junge nie etwas getan. Sein Vater war arrogant und verwöhnt und Harry wäre es vielleicht gewesen, wenn James nicht gestorben wäre. Aber er ist gestorben. Umgebracht von dem kaltblütigsten Schwarzmagier den die Zaubererwelt je gesehen hatte. Und für Harry hatte die Hölle seiner Kindheit angefangen. Soweit sich Severus zurück erinnern konnte, hat er absolut keinen glücklichen Moment in Harrys Erinnerungen gesehen. Außer jene, die in Hogwarts stattfanden.

Hogwarts war Harrys Freiheit. Hier konnte er leben. Kein Wunder, dass der Junge keine Regeln kannte und sie gerne überschritt. Hatte er doch nie sinnvolle Regeln kennen gelernt. Dumbledore war, was seine Extratouren anging, zu nachsichtig, womöglich weil er wusste, dass es Harry bei seinen Verwandten nicht gut ging. Aber… der alte Narr… hat alles verkehrt gemacht.

„Ja, das habe ich!"

Die Stimme ließ Severus aufschrecken. Er war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er den Schuldirektor nicht kommen gehört hatte. Und er war so geschockt und aufgewühlt über das, was mit Harry passiert war, dass er vergaß seinen Geist zu verschließen.

„Ich hätte auf Minerva hören sollen. Sie war von Anfang an dagegen ihn bei den Dursleys zu lassen. Ich dachte, es wäre das Beste für ihn. Aufzuwachsen und nichts von seiner Berühmtheit zu wissen. Ich wollte ihm eine unbeschwerte Kindheit gönnen, fernab der Zaubererwelt. Welch einen Irrtum ich unterlegen war. Letztendlich habe ich ihm das Leben mehr zur Hölle gemacht, als es die Todesser je im Stande gewesen wären. In gewisser Weise ist Vernon Dursley genau wie Voldemort. Er hasst absolut alles, was mit der anderen Welt zu tun hat. Und sein Hass ist nicht geringer, als der Voldemorts."

„Du bist nicht der einzige, der Fehler gemacht hat. Ich schäme mich, dass ich ihn mit seinem Vater vertauscht habe. Ich habe ihn fertig gemacht, noch bevor er wusste warum. Ich wollte mich an ihm rächen für Taten, die er nie begangen hatte. Ich hab dafür gesorgt, dass er nie vollkommen frei war. Ich habe ihm seine Flügeln gestutzt, wo ich nur konnte."

„Und was hab ich gemacht? Ich habe ihn jeden Sommer in einen viel zu engen Käfig gestopft in dem auch noch ein Raubvogel auf ihn gewartete hatte. Wer weiß, ob er jemals wieder fliegen können wird."

Beide starrten betroffen auf die magere Gestalt vor ihnen. Kaum wahrnehmbar hob und senkte sich dessen Brustkorb. Die Augen waren fest verschlossen. Das Haar stand fett und ungewaschen in alle Richtungen. Und die Narbe auf der Stirn prangte hervor. Beinahe spöttisch zierte sie den Jungen und zeigte allen was dieser Junge war. Ein Opfer. Ein Opfer der Angst und des Hasses.

oooooo

Langsam segelte ein Blatt nach dem andern zu Boden. Der Herbst hatte nun überall im Land Einzug genommen. Regenfälle hatten eingesetzt und durchweichten den Boden nun schon seit mehreren Tagen. Riesige Pfützen sind entstanden, in denen die nachfolgenden Regentropfen kleine Kreise bildeten.

Auch der See von Hogwarts war ein wenig angeschwollen. Tiefhängende graue Wolken ließen kaum Tageslicht durchdringen. Nebelschwaden zogen über die Landschaft und verfingen sich an Bäumen und Sträuchern.

Mit eingezogenen Köpfen huschten die Schüler eiligen Schrittes vom Gewächshaus zurück in die rettenden Mauern des Schlosses.

Es war die letzte Stunde des heutigen Tages gewesen. Ron und Hermine machten sich gleich auf den Weg in den Krankenflügel. Erst gestern war ihr Freund endlich aus dem Koma erwacht. Allerdings hatte er kein Wort gesagt. Er hatte einfach nur dagelegen und an die Decke gestarrt.

„Meinst du es geht ihm schon besser?" fragte Hermine mit zittriger Stimme bevor sie den Krankenflügel erreichten.

Ron schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung. Er hatte keine Vorstellung davon, was Harry durchmachen musste und er hatte absolut keine Ahnung, ob es Harry je wieder gut gehen würde. Aber seine Sorgen und Zweifel wollte er nicht mit Hermine teilen. Sie war ohnehin schon viel zu sehr mitgenommen. Kaum ein Tag war vergangen, seit Harry gefunden wurde, an dem sie nicht stundenlang neben ihm gesessen und leise vor sich hingeweint hatte.

Als die beiden Schüler den Krankenflügel betraten, erhob sich eine Gestalt neben Harrys Bett.

„Wie geht es ihm, Professor?" fragte Hermine sogleich.

Der Professor blickte Harrys Freunden entgegen. Eine Weile studierte er sie, ehe er antwortete: „Es hat sich nichts an Potters Zustand geändert. Er ist wach. Aber das ist auch schon alles. Sollte er nicht bald etwas essen, werden wir ihn dazu zwingen müssen."

Hermines Augen weiteten sich erschrocken ob dieser Tatsache. Ron hingegen sah den Professor misstrauisch an. Er wusste nicht was er davon halten sollte, dass Professor Snape auf einmal einen auf fürsorglich tat. Für Entschuldigungen war es wohl ein bisschen spät, fand er. Und auch wenn der Professor an seiner Bissigkeit im Unterricht verloren hatte, Rons Meinung nach, war er immer noch ein unverzeihliches Ekel.

Als der schwarze Umhang aus dem Krankenflügel gerauscht war, nahm Ron neben Harrys Bett Platz. „Hi Kumpel!" sagte er und nahm Harrys Hand in die seine.

Hermine schluchzte auf, als Harry nicht darauf reagierte. Einmal mehr suchten sich die Tränen ihren Weg über das Gesicht des Mädchens. „Harry, bitte. Wir vermissen dich!" flehte sie mit erstickter Stimme.

„Es tut mir Leid, dass ich deine Hinweise in den Briefen nicht gesehen habe. Dumbledore hat uns gesagt, dass du geschrieben hast, dass du geschlagen wurdest. Ich Idiot hab es nicht mitbekommen. Was für ein Freund bin ich? Ich hätte es bemerken müssen." erzählte Ron mit bedrückter Stimme.

Auch darauf reagierte Harry nicht. Er lag weiter hin da und starrte an die Decke. Was in seinem Kopf vorging wusste keiner.

So vergingen Minuten, Stunden und Tage.