Das Licht am Ende des Tunnels
Der Regen hatte endlich aufgehört. Vereinzelte Tropfen rutschten von ihren Blättern zu Boden und patschten ins nasse glitzernde Gras. Die Sonne lieferte sich einen Kampf mit den restlichen Wolken. Mal hatte sie die Oberhand, mal wieder nicht. So tauchte sie ständig auf und verschwand wieder und ließ die Erde unter sich mal aufleuchten und dann wieder verdunkeln.
„Hey Harry, das solltest du sehen! Hagrids Stunde ist gerade aus. Der Boden ist so rutschig, dass die meisten Schwierigkeiten haben ihr Gleichgewicht zu halten. Uahh… Ha… geschieht dir recht du mieser Slytherin! Ups, jetzt hat's Ron auch erwischt. Kicher… Ich glaub, der kann sich jetzt umziehen gehen, so nass wie der ist."
Ginny Weasley saß am Fenstersims des Krankenflügels und berichtete Harry, was sie draußen sah. Ihr war es zu dumm, stundenlang neben dem Bett zu hocken und ignoriert zu werden. So hatte sie kurzer Hand beschlossen einfach Harrys Zustand zu ignorieren und begann dem Jungen alles zu erzählen, als ob er voll bei Sinnen wäre.
Harrys Bett war nun über Tags so aufgestellt, dass Harry in einer Sitzposition war. Er starrte nun nicht mehr die Decke an, sondern die gegenüberliegende Wand.
Es war Mittag und Madam Pomfrey kam eben mit einem Tablett herein. „So Mr. Potter. Entweder sie essen freiwillig, oder ich helfe ihnen nach. Sie können sich nicht immer nur an eingeflössten Stärkungstränken nähren. Miss Weasley ich denke, das Mittagessen in der großen Halle ist ebenfalls schon serviert."
„Darf ich blieben?" fragte Ginny schließlich.
„Wie sie wollen", antwortete die Medihexe. Sie hatte nun Harrys Bett erreicht und stellte das Tablett auf ein Tischchen, das sie direkt aufs Bett stellte. Madam Pomfrey nahm den Löffel tauchte ihn in die Suppe und führte ihn zu Harrys Mund. Doch dieser blieb verschlossen.
„Bitte Mr. Potter!" begann die Medihexe auf den Jungen einzureden.
Ginny, die zufällig in Harrys Blickfeld saß, sprang nun vom Fensterbrett auf und kam näher. Harry blickte ihr nach. Das ließ Madam Pomfrey in ihrer Bewegung erstarren. Ginny stand nun neben dem Bett und Harrys Blick ruhte eindeutig auf ihr.
„Hey. Du guckst ja" sagte Ginny überrascht. Auch wenn der Blick des schwarzhaarigen Jungen etwas emotionslos und starr war, lächelte Ginny ihn breit an.
„Vielleicht sollten sie es probieren!" meinte Madam Pomfrey und stand nun von Harrys Bett auf.
Ginny übernahm ihren Platz und fixierte Harry „So so, du weigerst dich zu essen? Aber sieh mal. Wenn du nichts isst, dann esse ich dir alles weg und du bliebst hungrig. Glaub mir, ich hab da kein Erbarmen."
Und um ihre Drohung glaubhaft zu machen, aß Ginny den ersten Löffel. „Hmm… Hühnerbrühe. Also wenn ich's mir Recht überlege, hoffe ich, du isst nichts. Das ist lecker!"
Und sie nahm einen zweiten Löffel. Harrys Blick war immer noch auf sie gerichtet.
„Willst du auch?" fragte Ginny schließlich und führte den Löffel nun zu Harrys Mund.
Für einen kurzen Moment war es vollkommen still. Madam Pomfrey und Ginny hielten die Luft an und warteten was passieren würde. Ginny wollte schon fast mit dem Löffel wieder weg gehen, als sich Harrys Mund endlich öffnete. Er ließ sich den Löffel in den Mund schieben und schluckte langsam die darauf befindliche Suppe.
Danach fiel Harrys Blick auf den Suppenteller vor ihm. Es war als würde er erst jetzt bemerkten, dass er da stand. Dann sah er wieder zu Ginny.
„Mehr?" fragte das Mädchen grinsend.
Und auf diese Weise leerte sich langsam der Teller bis zu Hälfte.
„Ich denke, wir sollten es dabei belassen." meinte Madam Pomfrey erstaunt und doch zufrieden, als Harry den Kopf zur Seite drehte, „Sieht so aus, als würde Harry wieder in unsere Welt finden. Es wird noch dauern bis er es schafft, aber der Anfang ist gemacht!"
ooo
„He Ginny, wieso weinst du?" fragte Ron verwundert, als seine kleine Schwester in den Gemeinschaftraum der Gryffindors kam.
„Ich… bin nur… glücklich!" schniefte Ginny und strahlte ihren Bruder mit verweinten Augen an.
Ron und Hermine tauschten verwirrte Blicke, ehe sie wieder zu Ginny sahen.
„Er hat gegessen. Er hat mich angesehen und gegessen" flüsterte das rothaarige Mädchen.
Hermines Mund klappte nun auf, aber ihr fehlten die Worte, um etwas darauf zu sagen, daher schloss sie ihn wieder.
„Willst du zu ihm schauen, Mine?" fragte Ron.
„Er schläft jetzt. Madam Pomfrey hat gesagt, wir können ihn am Nachmittag wieder besuchen," erklärte Ginny.
ooo
„Es freut mich zu hören, dass es Harry besser geht" sagte Albus Dumbledore, als er von Poppy die Neuigkeiten erfahren hatte.
„Ja, diese Ginny Weasley hat vielleicht eine etwas unkonventionelle Art, aber Harry scheint darauf anzusprechen. Er nimmt seine Umgebung nun eindeutig wahr. Aber noch hat er kein Wort gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht kann, oder nicht will. Beim Untersuchen des Gehirns, konnte ich keinen Schaden entdecken, aber die Psyche der Menschen ist sehr kompliziert."
Dumbledore blickte geistesabwesend aus dem Fenster und nickte nur stumm beim letzten Satz.
Draußen hatte nun die Sonne endgültig den Kampf gewonnen und mit einem energischen Wind wurden die letzten Wolken vom Himmel gefegt. Die Vögel hatten es schwer ihren Kurs zu halten, aber sie ließen sich davon nicht abschrecken. Unermüdlich suchten sie sich ihren Weg über den Himmel.
oooooo
„Also du musst die alte Fledermaus ganz schön aus der Bahn geworfen haben. Hat er heute doch glatt Gryffindor zehn Punkte gegeben!" erzählte Ron Harry, als er nach dem Unterricht mit Hermine vorbeischaute.
Harrys Freunde haben Ginnys Strategie übernommen und behandelten Harrys so, als wenn er in Ordnung wäre. Und ab und zu ging ein leichtes Lächeln über die Lippen des Jungens.
Harry reagierte inzwischen auf alles. Aber es war wie bei einem Baby, das nicht sagen konnte, was es wollte. Und so blieben die Gespräche immer etwas einseitig. Harry sah den Menschen nun in die Augen. Er zeigte deutlich wie er sich fühlte, er aß wieder normal, aber kein Laut verließ seinen Mund.
Es war immer noch nicht ganz klar, was mit Harry wirklich passiert war, als er am Londoner Bahnhof angekommen war. Ob Vernon Dursley, oder wer anderes dafür verantwortlich war, dass Harry ins Koma gefallen war.
Das einzige was sicher war, war die Tatsache, dass Harry von seinem Onkel geschlagen wurde und kaum etwas zu essen bekommen hatte. Warum Harry seine Briefe verschlüsselt hatte und nicht direkt geschrieben hatte, was los war, blieb auch weiterhin ein Rätsel. Womöglich stand Onkel Vernon direkt hinter ihm, als Harry die Briefe verfasste.
Leider war es unmöglich Harry darauf anzusprechen, denn entweder konnte er sich an nichts mehr erinnern, oder er weigerte sich darüber Auskunft zu geben. Wann immer das Thema angeschnitten wurde, sah Harry einen nur mit blankem Geschichtsausdruck an.
oooooo
Mit einem lauten Schrei stieß sich die Eule vom Turm des Schlosses hinunter. Ihre Flügel rauschen im Wind, während sie in die Tiefe glitt. Die Maus, die sich ihren Weg durch das dichte Gras suchte, wusste noch nichts von der drohenden Gefahr von oben. Und in weniger als einer Sekunde war über Leben und Tod entschieden.
Die Eule erhob sich wieder in die Lüfte und suchte sich einen Platz zum Verzehr ihrer Beute. Elegant ließ sie sich auf einem Fenstersims nieder. Die Beute war fest in ihren Klauen. Ungestört dessen, was an der anderen Seite des Fensters vor sich ging, begann sie mit ihrem Mahl.
Auch auf der anderen Seite des Fensters, war jemand mit Essen beschäftigt. Harry Potter saß in seinem Bett und löffelte seine Suppe, während Ginny ihm Geschichten des Tages erzählte. Er bekam langsam wieder etwas Fleisch um seine Rippen, doch von wohlgenährt, konnte noch keine Rede sein.
Es wurde spät und Ginny musste am nächsten Tag eine Arbeit schreiben, daher plante sie etwas früher schlafen zu gehen. Mit einem Satz war sie von Harrys Bett gesprungen und meinte: „Ich muss dann. Ich will noch ein wenig büffeln für morgen."
Als sie sich umdrehte um zu gehen, spürte sie, dass sie festgehalten wurde. Die Tatsache alleine, dass Harrys anfing selber Einfluss auf seine Umgebung zu nehmen, in dem er Ginny festhielt, war schon überraschend genug, doch als er dann auch noch sagte „Geh nicht!" erstarrte Ginny erschrocken.
Verblüfft drehte sie sich wieder zu Harry um. Ihr Mund stand leicht offen. Und damit sie sich dessen sicher konnte, dass sie richtig gehört hatte, und es sich doch nicht nur eingebildet hatte, erklang Harrys Stimme erneut: „Geh nicht!"
Ginny brauchte eine Weile, bis sie die Fassung wieder fand. So lange war der Junge vor ihr einfach stumm gewesen, dass die Worte nun wie geschrieen wirkten. Die Stimme war etwas gebrochen und heißer, da sie so lange nicht benutz wurde, doch die Worte waren eindeutig.
„Du… du kannst ja reden!" platze es aus ihr heraus. Doch kaum ausgesprochen, kam ihr der Satz bescheuert vor.
Harry lächelte unsicher. Seine grünen Augen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen.
„Ähm… okay, ich bleibe noch ein Weilchen, wenn du möchtest!" sagte Ginny schließlich und nahm wieder auf Harrys Bett Platz.
„Danke!" hauchte Harry kaum hörbar.
„Wir… dachten schon, du würdest nie wieder… reden" sagte sie vorsichtig.
Harry schlug die Augen nieder: „Tut mir Leid. Ich… wollte nicht… ich hatte Angst, wenn… es… es ist so schwer."
„Ist schon gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen!" versicherte Ginny nun mit einem Lächeln.
Dann wurde es wieder still. Beide hatten so viel zu sagen und keiner wusste, wo er anfangen sollte.
„Kannst du dich an was erinnern?" fragte Ginny schließlich.
Harry nickte: „An alles!"
„Wie alles, auch an die Sache…"
Harry nickte erneut und schloss die Augen qualvoll.
„Einfach an alles. Selbst an das, was geschah, als ich im Koma lag. Wieso…" Harry schloss erneut kurz die Augen: „Wieso konnte ich nicht einfach sterben?" fragte Harry und sah dann traurig auf.
Ginny wusste nicht, was sie antworten sollte. Was musste ihr Gegenüber durchmachen, dass er sich den Tod wünschte?
„Weil" fing sie an und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals, „es Menschen gibt, die dich noch brauchen!"
„Ach ja, ich muss ja die Welt retten!" sagte Harry sarkastisch und seine Augen nahmen plötzlich einen grimmigen Ausdruck an.
„Ich… also… das hab ich nicht gemeint!" sagte Ginny verwirrt, „Was meinst du damit, du musst die Welt retten?"
Harry fing an zu grinsen. Doch es war ein unheimliches und unwirkliches Grinsen, das Ginny eine Gänsehaut einjagte.
„Er, oder ich. Einer stirbt durch die Hand des anderen!" erinnerte sich Harry deutlich an die Worte.
„Du redest von der Prophezeiung?" fragte Ginny der langsam ein Licht aufging. „Aber die ist doch kaputt gegangen!"
Harry nickte bestätigend: „Dumbledore hatte sie mir gesagt, nachdem wir aus dem Zaubereiministerium zurück gekommen waren."
„Oh!" war alles was Ginny heraus brachte, als sie das zornige Flackern in Harrys Augen sah.
Für eine Weile wurde es wieder still.
„Was hast du denn gemeint vorhin?" fragte Harry schließlich.
„Wie?" Ginny wusste nicht was Harry meinte.
„Du sagtest es gibt Menschen, die mich noch brauchen! Was hast du gemeint, wenn du nicht von der Prophezeiung geredet hast?" erinnerte Harry.
Ginny lief rot an und senkte den Blick.
Harrys Hand wanderte hoch und strich dem Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht.
„Was machst du?" fragte Ginny überrascht, als Harrys Hand sanft ihre Wange streichelte.
Harry richtet sich weiter auf und rutschte ein Stück näher zu Ginny. Seine Augen bohrten sich in die des Mädchens und langsam beugte er sich vor. Ginny saß wie hypnotisiert da, unfähig sich zu bewegen. Sie starrte zurück in die unendlich grünen Augen, die nun immer näher kamen.
„Harry was…?" flüsterte Ginny, doch blieb ihr Satz unbeendet, als Harrys Lippen die ihren erreicht hatten.
Es waren warme, weiche Lippen die sich sanft auf ihre Lippen pressten. Gleichzeitig streifte heißer Atem über ihre Wange. Harrys Hand war hinter Ginnys Kopf gewandert und stützte das Mädchen.
Vorsichtig begann er mit seinen Lippen an den ihren zu saugen. Ginny erwachte endlich aus ihrer Starre und erwiderte den Kuss. Sie schlang ihre Arme um Harry und drückte den Jungen an sich. Die Wucht der Gefühle, die über sie einbrach war zu gewaltig, als dass sie die Träne hätte verhindern können, die über ihr Gesicht lief.
Sie hatte Harry vermisst. Sie hatte nie etwas gezeigt, alles gekonnt unterdrückt und immer versucht guter Laune zu sein, wenn sie Harry besucht hatte. Doch nun bemerkte sie, wie sehr das alles an ihr genagt hatte. Sie löste sich von Harrys Lippen und vergrub ihr Gesicht in seinen Schultern.
Harry strich ihr beruhigend über den Rücken. Er konnte Ginny verstehen. Sie hatte die ganze Zeit über an seiner Seite ausgeharrt und ihn nie aufgegeben. Sie hatte Harry damit geholfen seinen Lebenswillen wieder zu finden, den er für immer verloren geglaubt hatte. Ginnys unermüdliche Art, jeden Tag, das hatte etwas in ihm berührt. Es wurde immer zum schönsten Zeitpunkt des Tages. Und als Ginny plötzlich meinte, sie müsse gehen, weil sie noch lernen musste, da wollte er nicht, dass sie schon ging. Er hatte sich so an sie gewöhnt, dass er sie nicht missen wollte.
Die Sache mit dem Kuss kam einfach über ihn. Eigentlich wollte er sich bei ihr bedanken für alles, was sie getan hatte, aber nun tobte ein Wirbelsturm der Gefühle. Konnte es sein, dass er sich in Ginny verliebt hatte?
„Entschuldige!"
Diese Worte rissen Harry wieder zurück in die Realität.
„Bitte fang nicht du auch damit an!" stöhnte der Junge.
„Womit?"
„Dich zu entschuldigen. Ich… kann es schon nicht mehr hören" gestand Harry „Es tut mir Leid, Harry. Oh mein Gott, der arme Junge. Entschuldige. Ich… Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Die einen entschuldigen sich für Sachen, die sie nie gemacht haben. Die andern, für Sachen, die sie nicht verhindert konnten, und wieder andere, aus Mitleid. Aber die, die sich wirklich entschuldigen sollten, sehen schmerzgeplagt weg.
Ich hasse es, in schuldbewusste Gesichter zu sehen, denn es bringt absolut gar nichts, wenn sich irgendwer schuldig fühlt. Das bringt die Gestorbenen nicht zurück und es heilt keine Wunden. Schuld kann den Schmerz nicht rückgängig machen. Und wenn immer einer schuldbewusst drein schaut, erinnert er mich nur an den Schmerz, den ich durchmachen musste. Aber ich will mich nicht erinnern. Ich will vergessen.
Und wenn du da bist, kann ich es. Ich hab dir immer zugehört. Deine Stimme ist so angenehm. Und du hast mich nicht so behandelt, als wenn man mich bedauern müsste. Ich… ich will dir ‚Danke' sagen. Danke, dass du jeden Tag da warst und mein tristes Dasein für einen kurzen Augenblick erhellt hast. Du bedeutest mir sehr viel. Ich…"
Ginny beendete seine Rede vorzeitig. Sie küsste Harry stürmisch und ließ ihn spüren, was sie für ihn empfand. Harry festigte seine Arme um Ginny und ließ ebenfalls seinem Wirbelsturm der Gefühle freien Lauf.
ooo
Als sich Ginny letztendlich doch von Harry gelöst hatte, starrte er mit einen seltsamen Lächeln aus dem Fenster. Die Eule war schon längst weiter geflogen.
So leer Harrys Kopf in den vergangenen Wochen war, so voll war er jetzt. Er wusste, die Neuigkeit würde sich schnell herumsprechen. Er wusste, tausend Fragen würden über ihn hereinstürmen. Fragen die ihn zwingen würden, sich zu erinnern. Und er sah die Gesichter vor sich. Geschockt, ungläubig starr und mitleidig. Nein, er wollte sie nicht sehen.
Er wollte nur Ginny sehen. Und da war ihr Gesicht. Es strahlte in seinen Kopf heller, als jeder Sonnenschein. Mit diesen Gedanken schloss Harry seine Augen und schlief ein.
