Wahre Freunde
Erschrocken klammerte sich Harry an seinem Bett fest. Nur mühsam wachte sein schlaftrunkener Verstand wieder auf. Er wusste nicht mehr, was er eben geträumt hatte, nur dass er plötzlich das Gefühl hatte zu fallen.
Sein Griff löste sich wieder, als er feststellte, dass er immer noch im Krankenflügel war und ihm keinerlei Gefahr drohte.
„Guten Morgen!" ertönte da eine freundliche Stimme.
Harry tastete nach seiner Brille und setzte sie auf seine Nase. Das Gesicht von Professor Dumbledore wurde nun vollends klar.
„Professor?" brummte Harry und setzte sich auf.
„Wie geht es dir heute?"
„Keine Ahnung. Gestern wollte ich fliegen, aber man hat mich nicht lassen."
„Ich habe davon gehört."
„Ich weiß inzwischen, warum ich mich nicht umbringen kann!" sagte Harry schließlich.
Professor Dumbledore zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Die Prophezeiung! Ich muss im Kampf gegen Voldemort sterben. Ich darf mein Leben nicht einfach beenden. Ich hasse die Prophezeiung! Ich hasse es, dass alles irgendwo niedergeschrieben ist und so geschehen muss."
„Nirgends steht, dass du sterben musst, Harry!" bemerkte Dumbledore.
Der Junge ließ den Kopf hängen. Dumbledore warf ihm einen traurigen Blick zu. Nach einer kurzen Denkpause fuhr der Direktor fort: „Harry, erinnere dich an das, was dich aus dem Koma aufwachen ließ. Du hast entschieden weiter zu leben, warum?"
Nach einer langen Pause antwortet Harry schlicht „Ginny!"
Dumbledore nickte. „Ja, die Liebe ist eine starke Macht. Du solltest lernen ihr zu vertrauen."
„Wie soll ich das anstellen? Alle die ich liebe, müssen sterben!" rief Harry nun gereizt.
„Wenn dem so wäre, warum denkst du, hast du immer noch Menschen, die sich um dich Sorgen und dich lieben?"
„Weil sie alle zu dumm sind zu bemerken, dass ich gefährlich bin!"
„Oh, verstehe. Ginny, Ron und Hermine sind dumm?"
„Nein!"
„Ich bin dumm?"
„Nein!"
„Professor Snape ist dumm?"
„Nein!"
„Was nun?"
„… Ach… Sie verstehen das nicht."
„Da hast du Recht. Ich weiß, es sind Menschen von uns gegangen, die dir viel bedeutet haben. Aber es ist Krieg. Es sind tausende von Menschen bereits gestorben. Viele haben jemanden verloren, den sie geliebt haben. Du bist nicht der einzige Harry. Aber du gehörst zu jenen, die noch Freunde haben, die sich um dich Sorgen machen. Du solltest ihnen nicht den Rücken zukehren. Vor allem nicht Ginny."
Harry starrte Löcher in seine Bettdecke. Ginnys geschocktes Gesicht vom Vortag kam ihm wieder in Erinnerung. Schuldbewusst schloss er kurz die Augen.
„Ich wollte niemand wehtun, ich hatte nur irgendwie Angst bekommen. Angst, dass meine neue kleine Welt wieder einstürzen würde wie ein Kartenhaus. Die Alpträume sind wieder gekommen. Was wenn das ganze Leid auch wieder zurück kommt? Ich will nicht, dass noch jemand meinetwegen stirbt." gestand der Junge traurig.
Dumbledore nickte verstehend. Dann schien ihm plötzlich etwas einzufallen und ein Schmunzeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Was?" fragte Harry.
Doch Dumbledore antwortete nicht. Er verließ Harry ohne weitere Erklärung.
„Dann eben nicht." nuschelte Harry ein wenig beleidigt.
ooo
Ginny bekam vom Direktor eine Freistellung vom Unterricht. Sie sollte sich mit Harry aussprechen. Was sie auch tat. Mit Tränen in den Augen betrat sie den Krankensaal. Und einige Erklärungen später lag sie immer noch schniefend in Harrys Armen.
„Ich werde dich nicht verlassen. Ich bin mir bewusst, welche Gefahr meine Liebe zu dir bedeutet, aber soll ich deswegen auf dich verzichten? Ich liebe dich. Und jeder Augenblick mit dir, ist das schönste in meinen Leben. Und wenn einer von uns doch sterben sollte, dann haben wir uns wenigstens geliebt. Wer geliebt hat, hat das wichtigste Ziel in diesem Leben erreicht. Wir wissen nicht, was danach kommt, also sollten wir das Schönste, was dieses Leben zu bieten hat, in vollen Zügen genießen, findest du nicht?"
Harry strich sanft die Tränen von Ginnys Wange. „So habe ich es noch nie betrachtet." Dann seufzte er und sagte „Ginny, es tut mir Leid. Ich bin so ein Idiot!"
Das Mädchen blickte zu Harry auf, „Du musst mir was versprechen!"
„Das wäre?"
„Dass du so was wie gestern, nie wieder machst. Wenn du Zweifel hast, dann besprich es mit mir, okay?"
Harry sah in die wunderschönen braunen Augen von Ginny und nickte. „Es ist nur so schwer, wenn unter dir der Boden weggerissen wird, nicht den Halt zu verlieren!"
Ginny nickte verstehend: „Aber du hast so viele Hände, die dir entgegen gestreckt werden. Du musst sie nur ergreifen!"
„Ich weiß, aber ich hab Angst, dass ich jemanden mitreißen würde."
„Du solltest dir nicht zu viele Gedanken um die anderen machen, Harry. Wenn sie dir die Hand hinstrecken, dann wissen sie, dass es sie mitreißen könnte, doch sie sind bereit das Risiko einzugehen, wenn es dein Leben retten kann" gab Ginny weise von sich.
„Ich verstehe nur nicht, warum so viele bereit sind, für mich ein Risiko einzugehen."
„Weil du für sie dasselbe tun würdest!" war die schlichte Antwort.
Harry sah etwas gequält drein, wohl wissend, dass sie Recht hatte.
„Denkst du, du bist der Einzige, der das Recht hat, sein Leben für andere einzusetzen?" fragte Ginny nun provokant.
„Nein!" verteidigte sich Harry schnell und ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht.
Ginny bemerkte es zufrieden und erwiderte das Lächeln erleichtert.
„Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?" erkundigte sich Harry.
„Heute noch nicht!"
„Ähm, nun… Ich liebe dich!"
„Oh, Harry!" rief Ginny und fiel dem Jungen um den Hals. „Ich liebe dich auch!" flüsterte sie in sein Ohr und gab ihm zärtliche Küsse in den Nacken und auf die Wange.
Ein Kribbeln lief durch Harrys Körper. „Ginny!" flüsterte er unsicher.
„Schschsch!" machte das Mädchen und verschloss Harrys Mund mit einem intensiveren Kuss.
Während sich ihre Zungen stürmisch begegneten, verschwand die Umgebung um die Beiden. Harry sah nur mehr das Mädchen seiner Begierde vor sich. Das Gehirn hatte sich abgeschaltet und die Gefühle übernahmen seinen Körper.
ooo
„Hm kmm!" erklang es bereits zum dritten Mal, ehe die Teens es bemerkten.
Erschrocken riss Harry die Augen auf und stieß sich leicht von Ginny ab, als er den Mann im schwarzen Umhang bemerkte.
„Professor!" rief er schockiert und lief rot an.
Ginny lief ebenfalls rot an und es war schwer zu sagen, wer einen satteren Farbton schaffte.
„Miss Weasley. Ich muss sie doch nicht darauf aufmerksam machen, dass es verboten ist, über die Patienten herzufallen. Vor allem wenn sie vergessen, zuvor den Vorhang um das Bett zu ziehen!"
„Nein, Sir!" sagte Ginny und grinste verlegen.
„Gut! Das Mittagessen ist in der großen Halle serviert. Sie sollten vielleicht ihre Reserven auftanken!" schlug der Professor vor.
Rasch hauchte Ginny Harry einen Abschiedskuss auf und schon war sie verschwunden. Harry blickte ihr hinterher, ehe Professor Snape die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf sich lenkte.
„Und Potter. Wie sieht die Sache mit dem Giftmix jetzt aus?"
Harry sah verlegen zu Boden: „Na ja, sie können ihn ja schon mal bereitstellen. Ich muss ihn ja nicht sofort trinken."
„Na schön. Bist du bereit?"
„Bereit wofür?"
„Für deinen ersten Ausgang!"
„Meinen was?" fragte Harry unsicher.
„Na ja. Du hast gestern die ganze Strecke zum Fenster alleine geschafft. Also denke ich sind wir so weit, den Krankenflügel einmal zu verlassen!" erklärte Professor Snape.
„Verlassen?" Harry sah ein wenig panisch zur Tür, durch die eben Ginny verschwunden war.
„Du kannst den Rest deines Lebens nicht hier drinnen verbringen" bemerkte Professor Snape stirnrunzelnd. „So wie es aussieht, kannst du nach Weihnachten wieder in den Unterricht!"
„In den Unterricht?" nun konnte Harry die aufsteigende Panik nicht mehr unterdrücken.
„Ja. Professor Dumbledore, Madam Pomfrey und ich sind uns einig, dass es das Beste für dich ist, wenn du dich wieder unter deine Klassenkameraden begibst. Das Schuljahr wirst du wahrscheinlich wiederholen müssen, aber bis dahin hast du Zeit dich wieder in den täglichen Ablauf als Schüler einzufügen."
„Ich weiß nicht, ob ich das will!" gestand Harry.
„Harry, es wird Zeit, dass du wieder Anschluss findest. Du bist hier oben vollkommen isoliert. Du musst zurück ins Leben! Deine kleine Welt hier ist nicht gut für dich!"
„Wieso wissen immer alle anderen, was gut für mich ist?" fragte Harry trotzig.
„Weil wir groß und schlau sind!" konterte Snape grinsend.
„Hmpf!" grummelnd verschränkte Harry die Arme vor sich.
„Na komm schon. Schmollen ist was für Fünfjährige!" bemerkte der Professor amüsiert und zog an Harrys Arm, um ihn zum Aufstehen zu motivieren.
Mit den Augen rollend ließ sich der Junge aus dem Bett ziehen. Seine Beine waren in der Tat nun schon relativ kräftig. Jedenfalls zitterten sie nicht mehr und Harry brauchte auch keine Hilfe, um sein Gleichgewicht zu stabilisieren.
Professor Snape hielt schließlich auf die Tür des Krankenflügels zu und Harry folgte ihm, doch als der Professor die Tür öffnete, blieb Harry wie angewurzelt stehen. Snape drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch.
„Da sind sicher tausende Schüler, da draußen. Die werden alle gaffen!" meinte Harry verzweifelt.
Der Professor schüttelte ungläubig den Kopf. Dann packte er Harry am Arm und zog ihn einfach hinter sich aus der Tür. „Erstens, sind die meisten in der großen Halle, weil gerade Mittag ist und zweitens, machst du dich gerade ziemlich lächerlich, Potter!"
Als die Krankenflügeltür zurück ins Schloss sprang, drehte sich Harry panisch um. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist!" sagte er.
„Aber ich weiß es. Du musst begreifen, dass die Welt außerhalb des Krankenflügels auch noch existiert und du nach wie vor ein Teil davon bist!"
Unsicher sah Harry seinen Professor an. „Und wo gehen wir jetzt hin?"
„Wohin du willst!" Doch bei Harrys Blick zum Krankenflügel fügte er noch schnell hinzu, „Außer da hin!"
So spazierten Harry und Professor Snape zuerst wahllos im Schloss umher. Doch schließlich fanden sich die beiden vor einem Bild wieder, das eine Obstschüssel zeigte.
Professor Snape zog eine Augenbraue hoch. „Die Küche? Hast du Hunger?"
„Nein!" sagte Harry und kitzelte die Banane. Diese kicherte und krümmte sich und dann ging die Tür auf. Harry streckte seine Nase hinein. Die Hauselfen waren alle ziemlich beschäftigt, den Nachtisch vorzubereiten.
„Ich denke nicht, dass es günstig ist, sie jetzt zu stören!" gab der Professor zu bedenken. Doch Harry ignorierte ihn und betrat die Küche nun vollständig.
„Brauchen sie etwas?" piepste eine Elfenstimme. Harry sah hinab und meinte. „Nein, danke. Ich wollte nur sehen ob - !"
„HARRY POTTER!" dröhnte plötzlich eine entzückte Elfenstimme quer durch den Raum. Und wenige Sekunden später wurden Harrys Beine von dünnen Ärmchen umschlossen. Ein wenig nach Gleichgewicht ringend stützte sich Harry an der Wand ab.
„Dobby hat alles mitbekommen. Dobby hat nächtelang nicht schlafen können. Dobby hat sich solche Sorgen gemacht. Und jetzt steht Harry Potter hier. Er ist extra gekommen, um Dobby zu sehen!" piepste Dobby gerührt und dicke Tränen kullerten ihm aus den riesigen Augen.
„Ist schon gut Dobby!" versuchte Harry den aufgebrachten Elfen zu beruhigen.
„Harry Potter ist viel zu gut! Dobby will sich revanchieren! Was kann Dobby tun? Will Harry Potter was von dem Cremedessert?"
Wie aus dem Nichts tauchte in Dobbys Hand eine Schüssel mit Vanillecreme auf, die gespickt mit Erdbeeren und mit Schlagsahne verziert war.
Fragend sah sich Harry nach Professor Snape um. Dieser stand mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt und zuckte nur kurz mit den Schultern.
„Danke, Dobby!" Harry nahm das Dessert entgegen und nahm auf einen der niedrigen Küchentische Platz.
„Möchte Professor Snape, Sir, auch ein Dessert?" fragte Dobby höflich.
„Nein, danke!" lehnte Snape ab und gesellte sich stumm an Harrys Seite. Es war ihm scheinbar unangenehm hier zu sein.
„Sollen wir gehen?" fragte Harry unsicher.
„Nein. Iss dein Dessert!" war Snapes knappe Antwort.
Dobby und Harry unterhielten sich noch eine Weile, während Harry aß. Das hieß, Dobby erzählte die Highlights der Ereignisse aus hauselfischer Sicht und betonte immer wieder, was für Sorgen er sich wegen Harry gemacht hatte und wie sehr er sich freute, dass es ihm wieder gut ging.
Nach einiger Zeit meinte der Professor schließlich. „Wenn du wieder halbwegs unentdeckt zurück möchtest, sollten wir langsam aufbrechen!"
Harry nickte, verabschiedete sich von Dobby und verließ die Küche nach Professor Snape. Relativ stumm gingen die beiden neben einander. Bei den Treppen brauchte Harry schließlich doch ein wenig Hilfe.
„Ist alles in Ordnung, Professor?" fragte Harry beunruhigt.
„Ja. Ich wundere mich nur über dich!" gestand der Professor.
„Warum?"
„Warum? Unter allen Plätzen in Hogwarts, wählst du die Küche? Und scheinbar hast du auch noch Freunde dort!" stellte der Professor fest.
„Dobby kenne ich schon seit meinem zweiten Schuljahr. Allerdings war er da noch der Hauself der Malfoys!" erinnerte sich Harry.
„Eben, er war Malfoys Hauself. Wie bist du in Kontakt mit ihm gekommen?"
Harry grinste gequält, als er an sein erstes Zusammentreffen mit Dobby dachte.
„Er hat mich bei den Dursleys aufgesucht und wollte verhindern, dass ich nach Hogwarts komme."
Professor Snape runzelte die Stirn. „Wieso das denn?"
„Wegen der Kammer des Schreckens. Er hat wohl gewusst, dass sie geöffnet werden soll. Er hatte Angst, dass es zu gefährlich für mich werden könnte. Er hat damals die Absperrung beim Kings Cross blockiert, sodass Ron und ich den Zug verpassten."
„Oh ja, ich erinnere mich. Eure Anreise mit dem fliegenden Auto. Das war ohne Zweifel einer der dümmsten Aktionen, die ihr euch geleistet habt!" bemerkte Snape.
„Wir waren zwölf und uns schien es die einzige Chance zu sein, nach Hogwarts zu kommen!" rechtfertigte sich Harry.
Eine Weile war es still. Schließlich erreichten sie den Krankenflügel. Professor Snape hatte Harry den restlichen Weg gestützt, da dieser es noch nicht gewohnt war, so lange auf den Beinen zu sein.
Als Harry sich mit einem Seufzer der Erleichterung in sein Bett kuschelte, blieb Professor Snape, immer noch die Stirne runzelnd, daneben stehen.
„Wenn Dobby versucht hat, dich von Hogwarts fern zu halten, wieso seid ihr dann jetzt Freunde?"
Harry grinste wieder. „Das ist eine gute Frage. Vor allem wenn man bedenkt, was er sonst noch so alles getan hat."
„Sonst noch?" fragte Snape und nahm schließlich Platz, als er erkannte, dass die Geschichte noch länger dauern könnte.
So erzählte Harry alles über Dobby und seine riskanten Versuche, Harrys Leben zu retten. Und auch davon, dass Mr Malfoy Ginny das Tagebuch von Tom Riddle untergejubelt hatte. Womit der ganze Ärger mit der Kammer des Schreckens begonnen hatte.
„Woher wusstet ihr eigentlich, dass der Eingang zur Kammer des Schreckens im Mädchenklo war?" fragte der Professor interessiert.
Harry lief rot an, „Na ja wir haben Myrthe kennen gelernt und sie ist am Klo gestorben, das hat uns Aragok erzählt, eine andere lange Geschichte."
„Myrthe?" fragte Snape.
„Ja, der Geist des Mädchenklos!"
„Aber was habt ihr, vor allem Ron und du im Mädchenklo getan?"
Sofern das ging, lief Harry noch röter an. „Na ja, wir wussten, dass dort niemand hinkommt. Wir haben dort…"
„Ja?" das Interesse von Professor Snape war nun voll auf den Jungen gerichtet.
„Vielsafttrank gebraut!" beendete Harry hastig den Satz.
„Ihr habt WAS?" Professor Snape war nun aufgesprungen.
Harry schrumpfte ein paar Zentimeter in seinem Bett. „Na ja, Hermine meinte, es wäre die einzige Möglichkeit, um die Slytherins auszuhorchen. Wir hatten damals geglaubt, Draco wäre der Erbe Slytherins"
Langsam setzte sich der Professor wieder, „Ihr habt mit zwölf einen Vielsafttrank gebraut?"
„Hermine hat ihn gebraut! Wir habe ihr nur geholfen!"
„Woher hattet ihr die Zutaten?"
Harry setzte ein verzweifelte Miene auf, sollte er das wirklich sagen?
„Lass mich raten!" setzte Snape fort, „Mein Vorratsschrank! War ja nicht das letzte Mal gewesen, dass du dich da vergriffen hast!"
„Ich hab mich noch nie da vergriffen!" verteidigte sich Harry, „Außerdem habe ich damals nur für die Ablenkung gesorgt!"
„Noch nie? Und was war dann im vierten Schuljahr?"
„Die Zutaten zum Vielsafttrank hat der falsche Moody gestohlen, wie sie eigentlich inzwischen wissen sollten" erinnerte Harry.
„Und das Dianthuskraut?"
„Das war Dobby!" grinste Harry unschuldig.
„Ah ja." Damit wurde es wieder für eine Weile ruhig. Schließlich fragte Snape: „Ist euer Vielsafttrank dann eigentlich etwas geworden?"
„Ja! Ron und Ich haben uns in Grabbe und Goyle verwandelt!" berichtete Harry nun wieder etwas stolz.
„Und Miss Granger?"
„Öhm… reden wir lieber nicht davon. Ihr Haar war kein menschliches!"
„Oh… das war damals der Grund, warum sie wie eine Katze ausgesehen hat."
„Sie wussten davon?"
„Sie war wochenlang nicht im Unterricht, klar wusste ich davon!"
„Natürlich!" sagte Harry und schlug sich auf die Stirn.
„Ist schon interessant, deine Abenteuer mal aus dieser Perspektive zu hören. Wann hattest du eigentlich im zweiten Schuljahr Zeit für die Schule, deine Hausaufgaben und dergleichen?"
Harry grinste. Er war froh, dass Professor Snape nicht sauer war, wegen dem Vielsafttrank. „Na ja. Die Hausaufgaben machten wir immer am letzten Drücker"
„Vielleicht sollte ich mir das noch mal überlegen, ob ich dich wieder aus dem Krankenflügel raus lasse! Ich kann mir denken, dass in deinen anderen Schuljahren, ähnliche Geschichten dahinter stecken."
„Natürlich. Ich bin Harry Potter!"
„Ah ja, hätte ich beinahe vergessen!"
Professor Snape und Harry grinsten sich an. Es war irgendwie eigenartig, wo sie sich noch vor einen Jahr am liebsten gegenseitig umgebracht hätten. Aber es hat sich so vieles geändert. Professor Snape hatte festgestellt, dass er absolut gar nichts über Harry wusste und dass dieser beim genauen Hinsehen nicht soviel mit James gleich hatte, als er ursprünglich versucht hatte sich einzureden. Aber Harry hatte sich auch ziemlich verändert. Seine zynische fast schon slytherin'sche Art erinnerte Snape sehr stark an sich selbst und das hatte seine Neugierde an dem Jungen wohl geweckt.
„Professor?"
„Ja?"
„Ihr Sohn konnte sich glücklich schätzen, sie als Vater gehabt zu haben!"
Schockiert blickte Snape zu Harry.
„Hab ich etwas Falsches gesagt?" fragte Harry verunsichert.
„Nein!" war Snapes knappe Antwort und wenige Augenblicke später verschwand Professor Snape aus dem Krankenflügel.
Harry wünschte sich nun, er hätte das nicht gesagt. Offensichtlich hatte er einen wunden Punkt erwischt.
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Professor Snape tauchte den restlichen Tag nicht mehr auf. Was Harry darin bestätigte, dass er ein Thema angesprochen hatte, das er besser nicht erwähnt hätte. Dabei wollte er sich nur indirekt bei Professor Snape bedanken. Er war so froh, dass sich ihr Verhältnis geändert hatte. Er begann in der Tat in Snape eine Vaterfigur zu sehen. Etwas, das er sich gar nicht vorstellen konnte, als er erfuhr, dass Snape einen Sohn gehabt hatte.
Harry sah den Professor erst am nächsten Tag wieder. Doch Snape gab sich sehr verhalten und war wieder auf Distanz gegangen.
„Und Mr Potter, wo wollen sie heute hingehen?" fragte er sehr sachlich. Harry wusste nicht wieso, aber er fühlte sich zurückgestoßen. Verunsichert kaute er an seiner Unterlippe herum. Er wusste einfach nicht, wie er ein Gespräch anfangen sollte. Es kam ihm vor, als wenn plötzlich eine Mauer zwischen ihm und dem Professor war und es schmerzte ihn. Es schmerzte ihn so sehr, dass er bei ihrem stummen Spaziergang durchs Schloss, mehrmals ins Wanken kam. Der Professor stützte ihn, wie immer, aber absolut kein Wort kam über seine Lippen.
Als sie zurück im Krankenflügel waren, meinte Harry schließlich beleidigt: „Wenn Sie nicht mehr mit mir trainieren wollen, dann lassen Sie es. Sie sollen sich nicht gezwungen fühlen, mit mir Zeit zu verbringen." Harry wollte es eher gelassen klingen lassen. Doch er konnte es nicht verhindern das Bitterkeit in seiner Stimme mitschwang. Und er konnte auch nicht verhindern, dass sich eine Träne löste und langsam über seine Wange rollte.
„Es tut mir Leid, wenn ich Sie verletzt habe, Potter. Aber ich fürchte unser Verhältnis ist zu eng geworden. Ich bin immer noch ihr Lehrer."
„Zu eng?" wiederholte Harry fassungslos. „Ich wollte mich doch nur bedanken für ihre Hilfe und sie sind verschwunden, als wenn ich ihren Sohn ein weiteres Mal umgebracht hätte!" beklagte sich Harry.
Professor Snape starrte schweigend vor sich her.
„In gewisser Weise habe Sie es auch" sagte er schließlich.
„WAS?" Harry war schockiert.
„Ich habe angefangen Sie mit meinem Sohn zu verwechseln!"
Nun war Harry sprachlos. Professor Snape hatte ihn als seinen Sohn gesehen? Einige Minuten verstrichen, ohne, dass jemand etwas sagte, doch schließlich brach Harry die Stille: „Und was ist daran so schlimm?" fragte er vorsichtig.
Nun endlich sah Professor Snape Harry in die Augen: „Du bist nicht mein Sohn!"
„Leider!" seufzte Harry leise, doch Professor Snape hatte es gehört.
„Potter, hör dich nur an. Wir sind viel zu verschieden. Wir haben uns jahrelang gehasst. Wer weiß, wie lange wir noch miteinander auskommen? Früher oder später, wird es wieder aus sein."
Harry verschränkte die Arme vor sich und starrte nun seinerseits ins Leere. „Sie sagen es. Irgendwann wir es aus sein… mit mir!"
Snape seufzte. Er hatte befürchtet, dass Harry das sagen würde. Es war eindeutig, dass der Junge im Moment jemanden brauchte. Einen Erwachsenen, der ihm den Glauben ans Leben zurückgab. Doch Snape war so durcheinander, dass Harry ausgerechnet ihn dafür ausgesucht hatte. Sollte er sich darauf einlassen? Was wenn Harry beim Kampf mit Voldemort tatsächlich sterben würde, er wäre nicht fähig damit umzugehen.
„Harry, ich kann das nicht. Tut mir Leid!" sagte Professor Snape schließlich und stand auf um zu gehen. Er sah Harry nicht an, aber er wusste, dass dem Jungen weitere Tränen ins Gesicht stiegen.
Als Professor Snape tatsächlich nicht mehr am Morgen kam, um mit Harry zu trainieren, wurde der Junge immer deprimierter. Nicht einmal Ginny konnte Harry aufmuntern. Verzweifelt versuchte sie heraus zu finden, was Harry so betrübte, doch Harry hatte sich wieder in sich zurückgezogen.
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Es war kurz vor Weihnachten. In Hogsmead waren tausende kleine Lichter, die für Weihnachtliche Stimmung sorgten. Doch die dunkle Gestallt, die sich durch die Gassen schlich, war nicht in weihnachtlicher Stimmung. Angewidert blitze sie die Lichter an und beeilte sich voran.
Schon hatte sie das Ziel erreicht und verschwand im Inneren des Pubs Eberkopf.
„Professor! Lang nicht mehr gesehen!" wurde der Neuankömmling begrüßt. Das Pub war relativ leer. So freute sich der Barbesitzer umso mehr. Doch der Professor brummte nur und ließ sich Gedankenversunken an der Bar nieder.
„Severus, alter Freund, was bedrückt dich?" wollte der Wirt wissen.
Ein weiteres Brummen entwich dem Professor, doch dann fragte er: „Hast du auch schon mal das Gefühl gehabt, dass dir deine Vergangenheit im Weg ist?"
„Oh, das klingt nach einer längeren Geschichte!" stellte der Wirt fest, zog eine Flasche Scotch und zwei Gläser hervor und nahm gegenüber von Professor Snape Platz. „Erzähl mal!"
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Harry konnte nicht schlafen. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er an Professor Snape dachte. Wieso hatte Snape ihn zurückgewiesen? Nur weil er seinen Sohn erwähnt hatte? Oder steckte da noch mehr dahinter? Hatte er nicht das Recht die ganze Wahrheit zu erfahren?
Nach langem hin und her hatte Harry einen Entschluss gefasst. Entschieden schlug er die Decke zurück.
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Gedanken verloren stapfte Professor Snape den Weg zurück ins Schloss. Der Wirt hatte Recht. Er musste mit Harry sprechen, der Junge hatte soviel durchgemacht, es war nicht fair von Snape gewesen, einfach so zu tun, als ob nichts geschehen war. Außerdem vermisste er die Zeit mit Harry. So verrückt das auch für ihn klang, aber er vermisste diesen Jungen wirklich!
Trübselig schlug er den Weg zu seinem Büro ein. Morgen würde er mir Harry reden. Morgen würde er… Snape blieb wie angewurzelt stehen. Da war jemand in seinem Gang. Langsam und geräuschlos ging er näher. Jemand kauerte vor seiner Tür. Gerade wollte er den ungebeten Gast zur Schnecke machen, als er den wuscheligen Kopf mit dem wirr stehenden schwarzen Haaren erkannte.
„Harry?"
Der Junge zuckte zusammen. Beinahe wäre er eingeschlafen. Langsam hob er den Kopf und sah zu Professor Snape auf, der nun direkt vor ihm stand.
„Was denkst du, was du hier machst? Du wirst dir noch eine Lungenentzündung holen, wenn du im Pyjama auf dem kalten Boden hockst."
„Ich wollte mit ihnen reden!" stammelte der Junge und versuchte aufzustehen. Professor half schließlich mit einem kräftigen Ruck nach.
„Es ist mitten in der Nacht. Wie lange hast du schon hier gesessen?"
„Weiß nicht" sagte Harry matt, „ne Weile!"
Professor Snape schüttelte den Kopf und schob Harry schließlich in sein Büro. Drinnen drückte er Harry auf einen Sessel und verschwand kurz in seine Privaträume, um wenig später mit einer Decke wieder zu kommen. Diese ließ er auf Harrys Schoß fallen.
„Danke!" nuschelte Harry und warf sich die Decke über die Schultern. Erst jetzt merkte er, wie kalt ihm war.
„Also, was musst du mir mitten in der Nacht erzählen?"
Diese Frage kam Harry derart überflüssig vor, dass er seine Fäuste ballte und nur mit Mühe den aufkommenden Zorn unterdrücken konnte.
„Sie haben mich abgestempelt vom ersten Moment, als Sie mich gesehen haben. Sie haben mich öffentlich im Unterricht gedemütigt und sind auf mir herumgetrampelt. Sie haben mich gehasst, weil ich bin, wer ich bin und ich habe Sie dafür gehasst. Ich habe Sie verachtet und mir mehr, als einmal gewünscht, dass Ihnen etwas zustößt, damit Sie aus meiner Welt verschwinden."
Stille folgte diesen Worten. Professor Snape war zwischen Ärger und Schuldgefühlen hin und her gerissen.
„Doch… diese Person gibt es nicht mehr. Diese Person ist aus meiner Welt verschwunden und hat Platz gemacht für jemanden, der mich besser versteht, als so manch anderer. Diese Person hat mir die Hoffnung gegeben, kein lästiges Insekt zu sein, das man zerquetschen kann." Harry sah nun auf und suchte den Blick des Professors: „SIE haben mir Hoffnung gegeben. Sie haben mir Mut gegeben, weiter zu machen. Und jetzt… wollen sie wieder verschwinden? Das kann ich nicht zulassen! Ich brauche sie! Ich…" Harry senkte schnell wieder seinen Blick. Er wollte jetzt nicht weinen. Doch er war so durcheinander, dass er nicht anders konnte.
„Harry… ich… werde nicht wieder verschwinden" brachte der Professor schließlich hervor.
Zweifelnd blickte der Junge hoch.
„Es tut mir Leid. Aber als ich begriffen hatte, dass ich bereit war, dich wie einen Sohn zu betrachten, bekam ich Angst. Ich bekam Angst, dass ich dich vielleicht auch verlieren würde."
„Sie haben mich aufgeben?" fragte der Junge schockiert.
„Nein. Das hab ich nicht. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt? Nein, ich habe dich nicht aufgegeben. Ich will mit dir kämpfen. Das ist mir heute Abend klar geworden. Ich will dich auf den Kampf vorbereiten. Mit meinem Wissen und deinem Talent in Verteidigung gegen die dunkeln Künste können wir es schaffen. Du wirst leben, das weiß ich jetzt!"
Noch bevor Harry darauf etwas antworten konnte, fand er sich in einer Umarmung wieder. Verwirrt und überwältigt hielt Harry starr inne. Niemand außer Ginny hatte ihn je so umarmt. Eine Weile schien die Zeit still zu stehen. Und wer weiß, wie lange er noch in Snapes Armen gewesen wäre, wenn nicht der Kamin des Professors plötzlich Flammen gespuckt hätte und Madam Pomfreys aufgeregte Stimme erklungen wäre.
„Professor? Severus? Sind sie hier?"
Snape löste seine Umarmung und ging zum Kamin, „Ja, ich bin hier. Was gibt es?"
„Mr Potter! Er… er ist verschwunden!" rief die Medihexe aufgelöst.
„Ja, ich weiß!" gab Professor Snape zurück.
„Sie wissen es? Woher…? Wie…? Seit wann? Wo ist er?" nun vollends verwirrt brachte Madam Pomfrey kaum einen Satz raus.
„Er ist hier. Bei mir. Sie können sich wieder beruhigen!" antwortete Snape.
„Beruhigen? Mein Patient verschwindet und ich soll mich beruhigen?"
„Jetzt wissen sie ja, wo er ist!"
„Ich beruhige mich erst, wenn er wieder hier ist und in seinem Bett liegt!"
„Ich werde mich umgehend darum kümmern!"
„Das will ich hoffen! Habe sie eine Ahnung wie spät es ist?"
„Ich hab den Jungen nicht gehen lassen!" verteidigte sich Professor Snape.
„Das hab ich auch nicht… ich… wie auch immer." Mit diesen Worten verschwand Madam Pomfreys Kopf wieder.
Professor Snape drehte sich um und blickte zu Harry hinüber. Dieser saß noch immer etwas verwirrt auf seinem Sessel und hielt die Decke um seinen Körper. Harrys Blick war voller Fragen.
„Ich denke, wir sollten verhindern, dass Madam Pomfrey einen Herzanfall bekommt!" sagte der Professor schließlich und grinste Harry an.
Nach einer Weile begann es um Harrys Mundwinkel zu zucken. Schließlich breitete sich ein Lächeln aus. Es war, als wenn die Sonne aufgegangen war. Harry hatte Snape verziehen. Er stand auf und umarmte nun den Professor. Die Decke fiel dabei zu Boden. Der Professor erwiderte die Umarmung und strich Harry beruhigend über den Rücken.
Nach einer Weile meinte er: „Wir sollten jetzt aber wirklich gehen!"
Harry nickte nur und kuschelte sich an Snapes Seite. Snape legte einen Arm um Harrys Schulter und so gingen sie zurück zum Krankenflügel. Harrys Augenlieder wurden plötzlich so schwer, dass er Mühe hatte, sie offen zu halten. Von Pomfreys Gezeter bekam er kaum etwas mit. Er fiel sofort in sein Bett und schloss die Augen. Plötzlich fühlte er etwas Warmes auf seiner Stirn. Als er ein halbes Auge riskierte, sah er, wie sich Professor Snape wieder aufrichtete. Konnte das wahr sein? Hatte der Professor Harry eben einen Gute-Nacht-Kuss gegeben?
Ein weiches Lächeln formte sich auf den Lippen des Professors. Harry lächelte so gut er konnte zurück, bevor ihn der Schlaf überrollte.
