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Nervensägen und andere Teamangelegenheiten
Reis POV
„Du, Kai?" Fragend sah Takao zu mir herüber. Im ersten Moment ignorierte ich seinen Blick, war der Name, mit dem er mich gerade ansprach, immer noch ungewohnt für mich. Ein kleiner Tritt an mein Schienbein seitens Kai ließ mich jedoch aufblicken. „Was?" zischte ich und warf dem Russen einen bösen Blick zu, welchen er allerdings nur mit einem leichten Kopfnicken Richtung Takao bedachte. Genervt drehte ich mich zu diesem herum.
„Was?" wiederholte ich noch einmal. Man konnte es fast mit ansehen, wie Takao mindestens zehn Zentimeter kleiner wurde und regelrecht in seinem Stuhl zusammensackte, als ich zu ihm schaute. Scheinbar kam ich langsam doch recht überzeugend als Kai rüber.
„Äh... Kai..." begann er stammelnd, stoppte jedoch sofort wieder, als müsse er erst einmal neuen Mut schöpfen, um weitersprechen zu können. Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf der Tischplatte und sah ihn fragend an. „Also... Ich wollte wissen... Ich mein, nicht, dass es mich gestört hat..." Murrend verdrehte ich die Augen. „Jetzt sag schon. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Ich fress dich schon nicht." Jedoch strafte mein Ton meine Worte Lügen.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, warum wir heute länger schlafen durften und ob du heute kein Training geplant hast." Jetzt war es heraus. Takao kniff ängstlich die Augen zusammen und duckte sich unweigerlich noch ein Stückchen weiter. Max hatte sich komplett herausgehalten und versteckte sich hinter seiner Müslischale, während Kyouju plötzlich unglaubliches Interesse an der Tageszeitung hatte.
„Ob ich heute Training geplant habe? Du willst wissen, ob wir heute trainieren?" wollte ich mit leiser Stimme wissen, während ich langsam aufstand. „Ich... Ich mein ja nur..." nuschelte Takao vor sich hin und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Du kannst es wohl nicht abwarten, was? Da ist man einmal so nett und gönnt euch ein paar Stunden Schlaf, und schon nehmt ihr an, dass ihr einen freien Tag bekommt. Nein, mein Lieber. So haben wir nicht gewettet."
Mit diesen Worten nahm ich den Teller, der vor seiner Nase stand, und trug ihn zur Spüle. „Na los. Damit du nicht auf falsche Gedanken kommst, kannst du gleich mit den Training anfangen. Ein paar Runden zum Aufwärmen und Nachdenken über deine blöde Frage werden dir sicher gut tun. Und Max, den kannst du gleich mitnehmen."
„Aber... Aber mein Frühstück..." begann Takao und schaute sehnsüchtig seinem Brötchen hinterher, welches noch auf dem Teller gelegen hatte, jetzt allerdings direkt in die Mülltonne wanderte. „Ich habe doch gar nichts gesagt..." setzte Max an, verstummte jedoch sofort, als ihn mein strafender Blick traf.
„Nichts da. Entweder ihr wollt trainieren oder frühstücken? Was ist dir lieber?" Durchdringend sah ich Takao an, machte ihm so klar, dass es im Grunde nur eine einzige richtige Antwort gab, die er mir jetzt besser liefern sollte.
„Trainieren," nuschelte er und stand seufzend auf, „komm, Max. Lass uns gehen." Gemeinsam verließen sie den Raum. Von draußen hörte ich nur noch ein kurzes leises Meckern seitens Takao, das verdächtig wie „Miesepeter" und „Diktator" klang. Gerade so konnte ich mir noch das Grinsen verkneifen, welches sich auf mein Gesicht schleichen wollte. Energisch drehte ich mich nun zu Kyouju um, dessen Kopf immer noch hinter der Zeitung verborgen war. „Und du, du kannst gleich mal hinter den beiden her. Schließlich brauchen wir genügend Daten, damit die beiden endlich besser werden." Wortlos sprang Kyouju auf, warf mir noch einen letzten Blick zu, und dann war auch er aus der Küche verschwunden.
Ich war mit Kai alleine.
Kais POV
Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte ich soeben verfolgt, wie Rei, ganz in typischer Kai – Manier, Takao und Max zum Training gescheucht hatte. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dass er den beiden gegenüber so hart sein konnte. Denn das war ja normalerweise mein Part. Rei war doch eigentlich der Nettere von uns beiden.
Aber nun gut, da ich ja nun Rei war, musste ich wohl diesem Teil übernehmen. Allerdings konnte ich nicht umhin, ihm einen anerkennenden Blick zuzuwerfen, als er sich wieder mir zuwandte. „Alle Achtung, Rei. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich glatt mit mir verwechseln." Mit diesen Worten stand ich auf und schob meinen Stuhl zurecht.
„Kai, hast du nicht irgend etwas Wichtiges vergessen?" Ich wollte gerade aus der Tür heraus und unseren Teamkollegen folgen, als mich Reis Frage stoppen ließ. „Was denn?" Skeptisch sah ich ihn an. „Na, das ist doch ganz einfach. Schau dich mal bitte um." forderte er mich auf. Mein Blick wanderte sogleich durch den Raum, jedoch konnte ich nichts Bemerkenswertes feststellen. Was wollte Rei von mir? Es sah doch aus wie immer. Oder?
Fragend sah ich ihn nochmals an, woraufhin ich nur ein nicht zu deutendes Grinsen von seiner Seite erntete. Einen Moment schwiegen wir uns an, bis ich die Stille unterbrach. „Was ist?" schnaubte ich genervt. Meinte Rei jetzt etwa, ich könne Gedanken lesen? Soweit waren wir nicht. Wir hatten zwar die Körper getauscht, doch dass ich jetzt deshalb wusste, was er dachte? Nein, soweit war es noch nicht. Wie sollte das auch funktionieren?
„Na, dann sieh doch mal genauer hin. Oder denkst du, die Spülmaschine räumt sich von alleine ein? Und die Unordnung, die hier herrscht. Ohne etwas Zutun deinerseits wird sie wohl nicht so ohne weiteres verschwinden." kam es vom ihm, während er sich lässig an den Türrahmen lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Langsam machte er mir ein wenig Angst, war er doch zu sehr schon zu mir geworden.
„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?" Entsetzt schaute ich mein Gegenüber an. Wollte er jetzt wirklich, dass ich hier die Putzfee spielte und mit Eimer und Lappen durch die Gegend huschte? Bei aller Freundschaft. Das würde ich sicher nicht machen. Dafür war ich schließlich nicht zuständig, noch nie gewesen. Das war normalerweise...
Und in diesem Moment dämmerte es mir. Das war normalerweise Reis Zutun, dass es, wenn wir alle vom Training zurückkamen, ordentlich in der Wohnung war. Er räumte die Küche nach jeder Mahlzeit wieder auf, damit wir nicht irgendwann im Chaos versanken. „Kai, das ist mein voller Ernst. Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen? Oder was denkst du, warum ich immer etwas später zum Training komme? Sicher nicht, um noch einmal eine Runde zu schlafen. Nein, ich räume das Geschirr und Essen weg, damit es hier sauber ist. Von euch macht ja schließlich keiner etwas."
„Schon gut, schon gut. Ich hab's kapiert. Ich tue es ja." Genervt verdrehte ich die Augen und begann die Teller in die Spülmaschine zu räumen. „Okay, dann beeil dich aber. Schließlich sind wir heute mit dem Training schon spät genug dran." Bevor ich allerdings darauf etwas erwidern konnte, wie zum Beispiel, wer denn Schuld an dieser Verspätung hatte, war Rei auch schon mit einem Grinsen aus der Küche verschwunden.
Und in diesem Moment wurde ich irgendwie das Gefühl nicht los, dass es Rei langsam aber sicher Spaß machte, in meine Rolle geschlüpft zu sein.
Nun ja, wer konnte es ihm auch verdenken? Endlich einmal nicht derjenige sein, der Kochen und Putzen musste. Endlich hörten die andern beiden Chaoten einmal auf ihn und taten das, was er von ihnen verlangte. Auch wenn sie in dem Sinne dies nur taten, weil sie der Meinung waren, eigentlich mir gegenüber zu stehen.
Aber nun gut. Wenn Rei meinte, meine Autorität ein wenig ausnutzen zu müssen, um selbst mich herumzudiktieren... Dann sollte er einmal sehen, wie weit er damit kommen würde.
Ich für meine Teil würde seinen „Job" auf alle Fälle erledigen. Es wäre ja gelacht, wenn ich es nicht schaffen würde, hier noch schnell ein wenig aufzuräumen, um dann zum Training zu gehen.
Allerdings stellte es sich als ein großer Irrtum heraus.
Denn etwa zwanzig Minuten, zehn russische Flüche und drei zerbrochene Gläser später stapfte ich wütend nach draußen. Wer konnte denn bitte auch ahnen, dass so wenig Zeug auf dem Tisch so viel Arbeit machen konnte?
Wieso um alles in der Welt brauchte Takao auch drei verschiedene Brotaufstriche? Reichte ihm denn nicht einer, den er selbst wieder zurück ins Regal stellte, nachdem er fertig war? Wäre auf alle Fälle eine große Zeitersparnis.
Und was war das überhaupt für ekliges Zeug, was er da aß? Da sah meine Eierpampe vom Vortag ja appetitlicher aus. Musste das Zeug denn so kleben, damit man wie ein Wilder mit dem Spültusch über den Tisch rubbeln musste, um die Kleckse zu entfernen, die er beim Schmieren des Brötchens auf dem Tisch hinterlassen hatte?
Dieses Klebzeug war fast genauso schlimm, wie das, was Max da hinterließ. Konnte der Junge sein Müsli denn nicht ganz aufessen? Nein, er zog es wohl vor, diese Pampe, die sich nach längerem Stehen bildete, als eine Art Denkmal in seiner Schüssel zu drapieren und nicht aufzuessen, so dass ich mich jetzt mit diesem Müslibrei herumschlagen durfte, um ihn einigermaßen aus der Schüssel zu bekommen, ohne die halbe Milch über dem Küchenboden zu verteilen.
Einzig Kyouju war vorbildlich. Er hatte einen fast sauberen Platz hinterlassen, auf dem lediglich ein paar Krümel seines Toastes gelegen hatten, die mit einem Handgriff weggewischt gewesen waren.
Mit einem leisen Grummeln schloss ich die Haustür hinter mir und machte mich auf den Weg zu unserem Trainingsplatz, da ich die anderen vorm Haus nicht mehr entdecken konnte, wo wir normalerweise unsere Aufwärmübungen machten.
Gott, wie ich es jetzt schon hasste, in nächster Zeit diese Arbeit für Rei zu erledigen. Langsam begann ich, es nachzuvollziehen, warum er so verärgert gewesen war. Aber trotz allem. Ich hoffte erst einmal, dass es bald dazu kommen würde, dass wir wieder in unsere eigenen Körper zurückkehren konnten.
Nur wenige Augenblicke später erreichte ich den Trainingsplatz. Ein wenig verwundert blieb ich am Rande der drei Arenen stehen. Wieso war es hier so still? Weshalb trainierten die anderen nicht, sondern standen geschlossen an der Sitzbank neben Kyouju? Mit schiefergelegtem Kopf näherte ich mich ihnen langsam, konnte so noch Max' letzten Satz vernehmen.
„...wie, du weißt das nicht, Kai?" Skeptisch sah der Blonde den vermeintlichen Kai an, der ein wenig verlegen auf den Blade in Takaos Hand starrte. „Ich..." begann Rei zögerlich. „Was macht ihr denn da?" mischte ich mich ein, woraufhin Rei sich abrupt zu mir herumdrehte. „K...Rei, da bist du ja endlich." Man konnte die Erleichterung, die mit seinen Worten einherging, regelrecht hören. „Ja, da bin ich." Ich warf einen Blick auf Dragoon, der immer noch still auf Takaos Handfläche lag.
So wie es aussah, hatte sich wohl der Attack Ring ein wenig verformt und beeinflusste so das Gleichgewicht des Blades. Dies war scheinbar Takaos Problem, weshalb sein Blade nicht so lief, wie er sollte. Und nun erhoffte er sich Rat bei seinem Teamchef, bei Kai.
Nur, dass Kai in Wirklichkeit Rei war, der von der Technik, die hinter den Blades steckte, nicht die für solche Probleme ausreichende Erfahrung hatte. Gut, wenn es um Driger ging, dann wusste Rei schon ausreichend Bescheid, konnte kleinere Schwierigkeiten schon lösen. Aber wenn es um andere Blades ging... Da kam er schnell an seine Wissensgrenzen.
Unwillkürlich musste ich grinsen. Von wegen, ich stehe sowieso immer nur in der Gegend herum und geben Anweisungen. Dass ich mich neben Kyouju auch noch um die Blades und deren Probleme kümmere, nach Fehlern schaue und so weiter. Das hat Rei wohl nicht bedacht.
Und, als hätte er meine Gedanken gelesen, wandelte sich Reis Blick. Die Erleichterung, die zu Anfang zu sehen gewesen war, wandelte sich in etwas wie Trotz, als wolle er mir beweisen, dass auch er Hilfe geben konnte bei den technischen Fragen. „Rei, lauf dich schon einmal ein paar Runden und mach dich warm. Immerhin hast du schon einiges verpasst, weil du so lange in der Küche gebraucht hast." kam es spitz von Rei, während er sich ruckartig wieder zu Takao umdrehte und dessen Blade in die Hand nahm, um ihn zu begutachten.
Immer noch grinsend begann ich, meine Runden zu laufen. Vielleicht würde dieser Tag ein wenig besser werden als der letzte...
Reis POV
Was bildete sich Kai nur ein? Meinte er wirklich, nur er habe die Weisheit über Blades mit Löffeln gefressen? War er wirklich der Ansicht, ich wüsste nicht, was ich da tue? – Gut, er hatte Recht. Aber musste er mir das so zeigen? Schließlich war ich jetzt er. Und er hatte Ahnung von Blades und deren Technik. Wenn ich doch nur jedes Mal, wenn Kyouju etwas über die technischen Details erzählt hatte, besser zugehört hätte.
Immer noch ratlos starrte ich auf das Metallding in meiner Hand, drehte und wendete es und schaute es auf allen Seiten an. Ich wusste, Kai hätte die Lösung sicher in nur wenigen Augenblicken parat. Doch ihn danach fragen? Nein, das wäre unmöglich. Zum einen wollte ich mir vor ihm nicht die Blöße geben, zum anderen hätte es nicht zu ihm gepasst, dass er auf einmal Rei um Hilfe bat.
Also hieß es, weiter versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Takaos fragender Blick half dem ganzen jedoch überhaupt nicht. „Was?" zischte ich und starrte mein Gegenüber zornig an. „Äh... Brauchst du noch lange?" fragte der Japaner vorsichtig und ging einen Schritt zurück. „Und wenn schon... Anstatt hier dumm herum zu stehen, könntest du etwas für deine Kondition tun und ein wenig laufen oder etwas in der Art tun." fauchte ich ihn an.
Entschuldigend hob er die Arme und drehte sich wortlos um. Max folgte ihm mit Draciel, den er neben Kyouju auf die Bank gelegt hatte. Mit einem Seufzen ließ ich mich auf diese fallen und starrte immer noch ratlos auf das Ding in meiner Hand.
„Es ist der Attack Ring." kam es plötzlich von links. Verwundert drehte ich mich in die Richtung und sah in Kyoujus leicht lächelndes Gesicht. „Er hat sich verbogen. Deshalb funktioniert das Gleichgewicht nicht so, wie es sollte." gab der Braunhaarige von sich, während er mir Dragoon aus der Hand nahm. „Das weiß ich doch." Meine Reaktion kam ein wenig spät, woraufhin Kyouju mich nur mit hochgezogener Augenbraue anstarrte.
Für einen Moment schwiegen wir beide. Mein Blick wanderte zu den drei Jungen, die inzwischen dicht gedrängt nebeneinander liefen. Ich konnte sehen, wie Takao etwas sagte und dann plötzlich lachen musste, woraufhin Max und kurz darauf sogar Kai einfielen, nachdem sie alle einen vielsagenden Blick in meine Richtung geworfen hatte.
Machten sie sich etwa gerade über mich lustig? Das würden sie doch nicht wagen, oder? Immerhin war ich momentan Kai... Nachdenklich starrte ich die drei an, wie sie nun stoppten und zu Sit-ups übergegangen waren. Aber vielleicht hatte Takao doch etwas über mich gesagt. Wenn ich genauer überlegte... Eigentlich ließ der Blauhaarige des öfteren einen Spruch ab, wenn Kai nicht in Hörweite war. Und diese waren nicht immer die nettesten.
In diesem Moment fühlte ich mich ein wenig verloren. Die drei schienen regelrecht eine Einheit zu bilden. Und ich, nein vielmehr Kai stand irgendwie außen vor. Trotz der langen Zeit, die wir alle miteinander verbracht hatten, schien es, als sei er nur ein Außenstehender, der zufällig immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie wir war. Aber Takao, Max, Kyouju und ich, wir vier gehörten als Team zusammen, waren Freunde. Nicht so Kai. Kai war einfach nur... ja, Kai eben. Ein Einzelgänger.
„Kai?" holte mich Kyoujus Stimme wieder in die Gegenwart zurück. „Was ist?" fragte ich und versuchte die trübseligen Gedanken erst einmal in die hinterste Ecke meines Kopfes zu verdrängen. „Hier, ich habe Dragoon repariert, den Attack Ring habe ich ausgetauscht. Das heißt, ihr könnt endlich mit eurem Match anfangen." Mit diesen Worten drückte er mir Dragoon in die Hand.
Schwerfällig stand ich auf. Match? Das hieß, wir würden bladen. Was wiederum bedeutete, dass unsere Bitbeasts auftauchen würden. Oder, wie in meinem und Kais Fall, eben auch nicht. Seufzend steckte ich mir Dragoon und Draciel in die Tasche und ging auf die anderen zu. Sofort merkte ich, dass sie ihr Gespräch abrupt beendeten, als ich in ihre Reichweite kam. Jedoch versuchte ich es, so gut es ging zu ignorieren.
„Hier, Takao. Dein Blade." Ohne viele Worte zu verlieren drückte ich ihm Dragoon in die Hand. Auch Max gab ich seinen Draciel und bedeutete den beiden, dass sie sich am Tableau aufstellen sollten. „Ihr beiden werdet erst einmal ein normales Match machen. Danach, wenn einer von euch gewonnen hat, werdet ihr die Blades tauschen." Verwirrt blickten mich drei Augenpaare an.
Diese Idee war mir gekommen, als ich zum Trainingsplatz gegangen war. Wir würden einfach alle mit Absicht einen anderen Blade nehmen. So würde es nicht auffallen, wenn ich plötzlich mit Driger und Kai mit Dranzer gut umgehen konnte. Das wäre wohl vorerst die beste Lösung für das Problem bezüglich der Bitbeasts.
„Aber Kai, ich soll Draciel nehmen? Das geht doch nicht. Draciel gehört doch Max." kam es verwundert von Takao. „Danke für diese Information, das habe ich noch gar nicht gewusst," antwortete ich ihm mit einem sarkastischen Unterton, „das ist der Sinn der Sache. Unsere eigenen Bitbeasts können wir inzwischen recht gut kontrollieren. Allerdings... Wenn wir es schaffen, auch ein anderes kontrollieren zu können, werden wir sicher auch bei den eigenen um einiges besser."
Und damit ließ ich keine weiteren Diskussionen zu. Missmutig stapfte Takao an den Rand des Tableaus, wollte er seinen Dragoon doch nicht so einfach hergeben. Auch Max warf mir noch einen skeptischen Blick zu, startete dann jedoch wortlos seinen Blade, um sich auf das Match mit Takao zu konzentrieren.
„Gute Lösung, Rei." flüsterte Kai, während er sich neben mich stellte und zu den beiden Jungen sah. „Danke." antwortete ich knapp und ging wieder zurück zu Kyouju, woraufhin Kai mir verwirrt hinterher sah. Doch dann zuckte er nur mit den Schultern und begann alleine in einem Tableau Dranzer kreiseln zu lassen.
So ging es etwa eine halbe Stunde lang. Kai trainierte für sich, während Takao und Max große Probleme hatten, ihre Bitbeasts unter Kontrolle zu halten. Mehr als einmal verdrehte ich die Augen und hätte mir am liebsten die Haare gerauft, wenn ich mir die beiden auf dem Tableau so ansehen musste.
Takao war inzwischen vollkommen durchnässt. Draciel schien es wohl nicht einzusehen, dass er auf einmal gegen seinen eigentlichen Besitzer kämpfen sollte, so dass seine Wasserattacken jedes Mal Takao selbst und nicht Max trafen.
Und auch Max war am Rande seiner Kräfte, da er inzwischen so an die zwanzig Mal von Dragoons Windattacken vom Tableau gefegt worden war. Ich wollte nicht wissen, wie viele blaue Flecken der Gute inzwischen hatte.
„Kai, können wir nicht endlich eine Pause machen?" jammerte Takao, nachdem er erneut eine Ladung Wasser abbekommen hatte. „Ich friere, mir ist kalt, und ich habe Hunger." „Ich könnte auch eine Pause vertragen." kam es von Max, der sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken hielt.
„Nein, ich sagte doch schon vor fünf Minuten, dass es keine Pause gibt. Wir trainieren, bis ich sage, dass wir fertig sind. Und? Habt ihr mich gehört, wie ich etwas in der Richtung gesagt habe? Nein? Also. Aus. Ende. Keine weitere Diskussion." Es war schwer, nicht vollkommen auszurasten. Mit vor Zorn geballten Händen stand ich neben Kyouju, der sich in aller Ruhe mal wieder seine Brille putzte.
Waren die beiden denn immer so schlimm beim Training? Ich wusste nicht, wie oft sie mich nun um eine Pause angefleht hatten. Nach dem zehnten Mal hatte ich aufgehört mitzuzählen. So faul und quengelig waren sie doch sonst nicht, oder? Ständig hieß es „Pause" hier, „Hunger" da. Wollten sie denn nicht trainieren? Wie sollte man so ein gescheites Team auf die Beine stellen, wenn die Teammitglieder keine Kondition und kein ernsthaftes Interesse zeigten? So konnte das ja nichts mit dem nächsten Turnier, mit dem nächsten Titelgewinn werden.
Und dann war da noch Kyouju. Also wirklich. Hatte der Junge auch noch ein anderes Gesprächsthema außer seinen bescheuerten Laptop? Konnte er auch noch über etwas anderes reden als Zahlen, Fakten und Daten? Das Leben bestand doch bei weitem aus mehr Dingen.
„Ich denke wirklich, du solltest ihnen eine Pause gönnen, Kai," wenn man vom Teufel sprach, Kyouju mischte sich ein, „laut dem Computer ist ihre Kraft im Moment ziemlich niedrig, wie du an dieser Tabelle sehen kannst. Außerdem scheinen die Blades einen Störfaktor zu haben, den wir erst ausschalten müssen, bevor wir weiter trainieren können."
„Genau." stimmte Takao dem Braunhaarigen zu und gab Max seinen Draciel zurück, während er von diesem Dragoon in die Hand gedrückt bekam. „Wir sollten eine Pause machen und erst einmal durchschnaufen." Mit diesen Worten ging er hinüber zu Kyouju und ließ sich neben diesem auf die Bank fallen.
„Macht doch, was ihr wollt." zischte ich wütend. Was für eine Arbeitsmoral. Schon nach einer halben Stunde machten sie schlapp. Das durfte doch nicht wahr sein. So ein Kindergarten!
Energisch drehte ich mich um und ließ die anderen einfach stehen, verschwand im nahe gelegenen Wäldchen. Nach etwa fünf Minuten, als ich in meinen Augen weit genug vom Trainingsplatz entfernt war, blieb ich stehen und seufzte. „Warum?" flüsterte ich leise und ließ mich auf einem großen Stein nieder. Mit einer Hand massierte ich mir müde den Nacken und zog meine Knie an.
Es war anstrengend gewesen. Obwohl ich nicht selbst ein Match bestritten hatte, fühlte ich mich, als ob mir der Schädel platzen würde, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir. Takaos Quengeln und Max' Nörgeleien, dazu noch Kyoujus ständiges technisches Gerede... Wie hielt Kai das aus? Wie schaffte er es, dass die anderen ihm nicht jedes Mal so dermaßen auf den Wecker gingen, dass er... Der Junge musste Nerven wie Drahtseile haben.
Es war wohl doch nicht so einfach, Teamchef zu sein. Zumindest nicht in unserem. Und vor allem dann nicht, wenn man irgendwie alleine auf einer Seite stand.
Ich erinnerte mich an die Blicke, die sie mir zugeworfen hatten. Sie waren eindeutig gewesen. In jedem stand das Gleiche. Du bist nur unser Teamchef. Mehr aber auch nicht.
Aber wollte Kai das auch? Wollte er nur der Einzelkämpfer sein, der immer wie das fünfte Rad am Wagen dabei war, der immer nur daneben stand? Ich seufzte erneut.
Da ließ mich ein Knacken im Unterholz aufhorchen.
Kais POV
Mit langsam Schritten trat ich neben Rei, der mich mit müden Augen ansah. Ich war ihm gefolgt, wie er wütend in den Wald gestapft war. Takao hatte ihm nur hinterhergesehen und etwas von „Typisch Kai, immer so ein Miesepeter." gemurmelt, woraufhin Max nur blöd gegrinst hatte.
Im ersten Moment war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich Rei wirklich folgen sollte. Immerhin hatte auch er mich am Morgen mit seinen Aufgaben alleine gelassen. Wieso sollte ich ihm also in irgendeiner Art und Weise beistehen, wenn er nun einmal den Alltag so erlebte, wie ich es tat?
Doch irgend etwas in mir sagte mir, dass ich das nicht tun sollte. Ich wusste, wie schwer ein Training mit Takao und Max war. Ich wusste wie schmerzhaft ihre Blicke sein konnten, die sie mir zuwarfen, wenn sie dachten, ich würde es nicht bemerken. Aber für Rei war dies Neuland.
Also warf ich meine Bedenken über Bord und lief ihm hinterher, ohne auf die verwunderten Blicke seitens der anderen zu achten.
„Kai? Was machst du hier?" Rei schaute zu mir, während ich mich neben ihn auf den Stein fallen ließ. „Ich wollte fragen, wie es dir geht?" Ich zögerte kurz, denn mit einem Mal kam ich mir doch seltsam vor, wie ich plötzlich Rei hinterherlief, um nach ihm zu sehen. „Den Umständen entsprechend." Mein Gegenüber schloss die Augen.
Für einen kurzen Moment schwiegen wir beide, bis Rei die Stille wieder unterbrach. „Sag mal, Kai. Ist das immer so?" Er drehte sich zu mir und sah mich fragend an. „Was?" wollte ich wissen. „Na, dass wir so anstrengend sind?" „Takao und Max können schon manchmal recht nervig sein, das stimmt." antwortete ich ihm. „Wie hältst du das aus? Ich hatte schon nach zwei Minuten das Bedürfnis mindestens einem von ihnen an den Hals zu gehen." grummelte Rei.
Ein leises Lachen kam aus meiner Kehle. „Du würdest ihnen echt was antun, Rei? Das hätte ich jetzt aber nicht gedacht." gluckste ich, während ich den anderen anlächelte. „Naja, nicht direkt. Aber sie sind einfach... ARGH! Sag jetzt bloß nicht, dass ich genauso bin." Fast schon ängstlich ruhte sein Blick auf mir, woraufhin ich den Kopf schüttelte. „Keine Sorge. Manchmal habe ich das Gefühl, du bist der einzige, der einigermaßen normal ist." „Was heißt hier einigermaßen?" Auch Rei grinste nun. „Wie soll ich sagen..." Ich zögerte und überlegte gespielt.
„Kai! Das ist nicht nett. Erst muss ich diese Nervensägen ertragen, und jetzt bist du auch noch gemein zu mir." Bei diesem Satz piekste mich Rei leicht schmollend in die Seite, woraufhin ich erschrocken aufsprang. „Lass das." grummelte ich und drehte mich um. Allerdings konnte ich so nicht mehr sehen, wie Reis Grinsen wieder breiter wurde und er leise aufstand.
Reis POV
Unauffällig näherte ich mich Kai von hinten. Wollten wir doch einmal sehen, ob sich meine Vermutung bewahrheitete. Nur noch zwei Schritte, dann stand ich dicht hinter dem anderen. „Kai?" fragte ich unschuldig. „Hn?" Langsam drehte der Angesprochene sich um und schaute mir direkt ins Gesicht. „Stimmt es, dass du kitzlig bist? Und zwar... Hier." Beim letzten Wort hatten ich ihn fest in die Seite gezwickt. „Rei!" Kai versuchte, von mir wegzukommen, jedoch ließ ich ihm keine Gelegenheit dazu, denn mit der anderen Hand hatte ich ihn am Ärmel gepackt und hielt ihn so fest. „Oder vielleicht auch hier?" Und schon hatte kitzelte ich ihn auf der anderen Seite, woraufhin Kai unwillkürlich lachen musste. „Hör auf, Rei. Das ist nicht fair. Und außerdem bin ich nicht kitzlig." „Jaja, aber sicher doch." grinste ich zurück.
„Du bist gemein." Verzweifelt versuchte Kai sich zu wehren, was ihm jedoch nicht gelang, da ich durch unseren Körpertausch nun derjenige war, der größer und auch ein wenig kräftiger war. So konnte ich ihn mit einer Hand festhalten, während ihn meine andere immer und immer wieder neckte.
Was genau in mich gefahren war, warum ich das tat, das wusste ich nicht genau. Aber auf alle Fälle tat es gut. Es war schön, endlich unbeschwert lachen zu können. Vor allem nach diesem Vormittag, an dem wirklich so einiges schief gelaufen war.
Mit einem Ruck schaffte Kai es dann allerdings doch, sich loszureißen. Sofort ging er ein paar Schritte zurück. „Rei, wag es ja nicht, mir noch einmal zu nahe zu kommen." kam es schwer atmend von ihm. „Wieso?" kicherte ich und näherte mich ihm, während er einen weiteren Schritt nach hinten machte.
Den Erdhügel hinter ihm sah er allerdings nicht. Und so tat er noch einen Schritt, um aus meiner Reichweite zu kommen, stolperte über die Wölbung im Boden und saß wenige Augenblicke später ein wenig überrascht auf dem Boden.
Nun war es vollkommen aus. Ich konnte nicht mehr. Dieser Anblick war einfach zu komisch. Ich begann lauthals zu lachen, während Kai mir einen verärgerten Blick zuwarf. „Hör auf zu lachen. Das ist nicht lustig." grummelte er und versuchte aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelang, da sich sein Fuß in dem hohen Gras verfangen hatte. Wütend zischte er ein paar Flüche und zerrte an dem Gras. „Rei, hilf mir lieber, anstatt hier so blöd herumzustehen." Zornig schaute er zu mir auf. „Ist ja gut, Kai." Mit der linken Hand wischte ich mir eine Träne aus dem Auge. „Aber dieser Anblick ist einfach... göttlich." Ich kniete mich hin und befreite den anderen von dem Gestrüpp zu seinen Füßen. Dann reichte ich ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen.
Mit einem Ruck stand er, nur dicht vor mir. „Ich weiß, dass ich göttlich bin, Rei." kam es leise von ihm, während er mich angrinste. „Ach, bist du das, Kai?" grinste ich zurück.
„Das habe ich mir doch fast gedacht." kam es plötzlich aus dem Dickicht, woraufhin wir uns erschrocken umdrehten. Kyouju war zwischen den Bäumen aufgetaucht, seinen Laptop in den Händen. „Ich glaube, ihr zwei seid mir eine Erklärung schuldig."
