Erwachen
Schweiß lief ihm über den ganzen Körper. Die Bilder der Nacht waren auch nach dem Aufwachen noch so intensiv wie zuvor im Traum. War es überhaupt ein Traum? Konnte ein Traum so real sein? War es gar etwas anderes? Eine... ihm fiel kein passenderes Wort ein, eine... Vision?
Ein Interkommruf unterbrach seinen Gedankengang.
„Herr Präsident. Entschuldigen sie, wenn ich sie störe, sie wollten darüber informiert werden, wenn unser Forschungsteam zum Bericht bereit steht. Sie erwarten sie in 30 Minuten auf Deck C4."
„Vielen Dank Kretal´. Ich werde so schnell wie möglich dort erscheinen, warten sie unbedingt auf mich!"
„Sehr wohl Herr Präsident!"
Das Gesicht Kretal´s wurde wieder ersetzt durch das Logo der Nekmet Galen Föderation. Urban II. versuchte seine morgendliche Prozedur zu beschleunigen, was ihm jedoch kaum gelang. Zu eng kreisten die Gedanken um die Geschehnisse der letzten Nacht.
Geschehnisse... Waren es wirklich Geschehnisse? Er rief sich zur Ordnung. ´Es war natürlich nur ein Traum´ sagte er sich wieder und wieder. Doch aus irgendeinem Grund wollte die Vernunft sich nicht durchsetzen. Die Stimme hallte noch so eindringlich in seinem Kopf wider, als wenn die Worte gerade erst zu ihm gesprochen worden wären. Er versuchte sie zur Seite zu wischen, und sich auf die anstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Als er die Augen wieder aufschlug stand ein besorgt aussehender Kretal´ vor ihm, neben sich das Team von Forschern, welche ihn ebenso verwundert ansahen.
„Herr Präsident? Ist alles in Ordnung mit ihnen?"
In diesem Moment wurde Urban klar, dass er bereits am Ziel angekommen sein musste. Ohne es zu merken hatte er sich gewaschen, angezogen und war bis hierher gelaufen. Beiläufig sah er an sich herunter, seine Kleidung saß perfekt, ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass seit dem Kommgespräch 45 Minuten vergangen waren. Er richtete den Blick auf Kretal´: „Danke, mir geht es bestens. Sprechen wir also über die Ergebnisse der Forschungsmission." Er ließ den Blick über die versammelten Menschen und Vasudaner wandern und bemühte sich um einen abgeklärten und souveränen Gesichtsausdruck.
Ein älterer Vasudaner trat vor. „Herr Präsident ich bin Groshkel´ Clan Kimbernak. Ich bin der Leiter dieser Forschungsgruppe. Wenn ich ihnen nun meine geschätzten Mitarbeiter und Kollegen vorstellen darf." Er zählte die einzelnen Mitglieder auf, jeweils mit Namen, Rang und ihrer Funktion innerhalb der Forschungsgruppe. Urban ließ es über sich ergehen, da er die Zeit nutzen wollte um seine Gedanken zu ordnen, welche sich noch immer in den Nebeln der vorangegangenen Nacht verliefen. Es gelang ihm schließlich rechtzeitig, als Goshkel´ zum Wesentlichen überging. „Wie sie wissen hatte unsere Forschungsgruppe den Auftrag Experimente in den Nebelfeldern durchzuführen, darunter Verfahren zur besseren Verarbeitung von Deuterium, großangelegte Awacs- und Waffentests und die Sammlung von Gesteinsproben zur Analyse."
„Das ist mir bekannt. Was haben sie also herausgefunden?"
„Nun Herr Präsident, lassen sie mich voranstellen, dass sowohl die Waffen-, als auch die Awacstests absolut zufriedenstellend verlaufen sind, in beiden Sektoren konnten Verbesserungen erzielt werden. Die Verarbeitung von Deuterium bereitet nach wie vor Schwierigkeiten, wir brauchen noch mehr Forschungsgelder. Als wir jedoch Gesteinsproben nahmen, machten wir eine interessante Entdeckung..."
„Was für eine Entdeckung?"
„Sir, wir dachten sie wollten sich das vielleicht selbst ansehen."
Die Forschergruppe führte den Präsidenten und seinen Berater in einen hermetisch abgeriegelten Forschungskomplex, welcher sich unter dem offiziellen Von-Galen-Forschungszentrum befand. Nachdem sie die Sicherheitsschleusen passiert, und die Schutzanzüge angelegt hatten, begaben sie sich in das Innere des Forschungszentrums. Die Wände waren konkav gewölbt und das Licht in einem dämmrigen Blauorange gehalten. Die Türen waren beinahe übergangslos in die Wände eingefaßt und nur durch eine leichte Eindellung und dezent aufgebrachte Nummern auszumachen. Selbst Kretal´ wußte nicht, was sich hinter den meisten dieser Türen verbarg, und an welchen Projekten dort geforscht wurde. Er war sich sicher, dass die einzige Person, die über alles einen Überblick hatte, der Präsident selbst war, und bei genauerem Betrachten des düsteren Ganges wollte Kretal´ auch gar keinen näheren Einblick in die meisten seiner Geheimnisse bekommen.
Sie gingen den Korridor fast bis zum Ende, und blieben dort vor einer Tür stehen, welche durch die römische Ziffer XXIII gekennzeichnet war. Groshkel´ gab den Türcode ein und führte sie in den dahinter liegenden Raum. Dieser war oval angelegt, die Decke wölbte sich zu einer gleichmäßigen Kuppel und in die bläulich schimmernden Wände waren Monitore und Bedientafeln eingelassen, vor denen eine kleine Gruppe Forscher stand, welche die Werte überwachte. Den eigentlichen Mittelpunkt des Interesses bildeten jedoch zwei im hinteren Teil des Raumes aufgebaute Röhren, in denen zwei Wesen in einer Nährflüssigkeit schwammen. Urban spürte eine Anziehung, welche von den seltsamen Kreaturen ausging, er ging auf sie zu.
„Herr Präsident, diese Wesen fanden wir auf unserer Expedition. Wir fanden sie in...". Mehr verstand Urban nicht von den Worten des führenden Wissenschaftlers, seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf die Wesen. Schritt für Schritt näherte er sich den Nährbehältern.
„Nutze sie!"
Die Stimme, sie war wieder in seinen Gedanken.
„Wie soll ich sie nutzen?"
„Du weißt es bereits!"
Er setzte seinen Weg zu den Röhren fort, und schaute sich seine neuen Schützlinge an. Sie waren perfekt. Ihre Körper wirkten grazil und gleichzeitig kraftvoll. Ihre sehnigen Arme und Beine glichen entfernt denen von Menschen, jedoch liefen ihre Hände in sechs feingliedrige Finger mit stilettartigen Klauenenden aus. Ihre Füße waren schlanker und länger gestaltet als bei Terranern, und ihre blässlich-schimmernde Hautfarbe entrückte sie dem Betrachter und ließ beide wie ein vollendetes Kunstwerk erscheinen. Sie waren weder vasudanisch noch menschlich und glichen nichts was er bisher gesehen hatte, und doch erschienen sie Urban nicht als Fremdkörper, sondern als etwas, was seinen Platz hier hatte, und schon immer hierhin gehörte. Es war offenkundig, dass sie nicht dasselbe Geschlecht hatten, dieses entfremdete sie jedoch nicht voneinander, im Gegenteil, sie wirkten wie perfekt aufeinander abgestimmt, als könnte keiner von beiden ohne den anderen existieren. Sie schliefen, aber obwohl ihre Augenlider geschlossen waren wirkte es, als könnten sich die Wesen jederzeit aus der Röhre befreien. Es gelang dem Präsidenten sich von dem atemberaubenden Anblick loszureißen, und alsbald wandte er sich den Konsolen zu, welche die Lebenserhaltung der Schläfer überwachten. Er drückte die Knöpfe in der Reihenfolge, die ihm logisch erschien. Er hatte keinerlei Zweifel an seinem Tun. Proteste von Außen drangen schwach in seinen Geist, sie wollten ihn abhalten, das Richtige zu tun, er wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, und setzte seine Arbeit fort. Als er fertig war bemerkte er, dass er nicht allein war, um ihn herum standen die Forscher, sowie sein Assistent Kretal´ und guckten ihn ungläubig an. Als er auf die Wesen zurückschaute war er zufrieden mit sich.
Sie waren erwacht.
