Die Farben der Musik

Prolog – Piano im Dunkeln

Erik
Wie so oft saß ich in völliger Dunkelheit an meinem Konzertflügel. Lustlos klimperten die Finger meiner rechten Hand über die Tasten. In die Linke stützte ich mein unmaskiertes Gesicht. Ein unerfreuliches Gespräch lag hinter mir. Ich wußte ja, dass Ida Recht hatte, denn langsam wurde es allerhöchste Zeit, dass ich mich um einen Erben kümmerte. Schließlich standen mein Vermögen und mein guter Name auf dem Spiel.
Vor einer halben Stunde hatte sie die Einladungen an die höher gestellten Familien der Stadt versandt. Nun, da der Stein erst einmal ins Rollen gebracht worden war, konnte ich nichts mehr tun als mich in mein Schicksal zu fügen. Ein leises Seufzen drang an mein Ohr - mein eigenes. Sehr bald schon würde ich heiraten müssen.
Auf wen meine Wahl fallen würde, war mir herzlich egal. Doch eines wußte ich mit Sicherheit: Diese unbekannte Frau würde Unruhe in mein Leben bringen und alte Wunden aufreißen. Ich hasste sie schon heute!

1.
Alea
Morgenlicht fiel durch mein Fenster. Als die Sonne meine Nase kitzelte, schlug ich ein Auge auf und streckte mich. Es war Sonntag - und der Sonntag galt in unserem Haus als heilig. Diese Stunden liebte im am meisten in der Woche. Wenn ich mich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, vor dem Frühstück und dem anschließenden Besuch der Messe noch einmal in meinen kuscheligen Decken umdrehen konnte.
So konnte ich noch ein wenig von dem schönen Unbekannten träumen, der mir heute Nacht im Schlaf begegnet war. Irgendwann würde ich ihn finden. Den Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte.
Hätte ich geahnt, wie dieser Tag mein Leben verändern würde, wäre ich erst gar nicht aufgestanden.
Eine halbe Stunde später jedoch zog ich meinen Morgenmantel über und machte mich auf den Weg zum Frühstück. Meine Eltern saßen bereits am Tisch, als ich in den Salon eintrat, und Mama begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln.
"Guten Morgen, Alea." Papas Gesicht war wie jeden Sonntag hinter der Zeitung verborgen. Er langte um sie herum, um von seinem Brötchen abzubeißen.
"Guten Morgen, Papa, guten Morgen, Mama!" Ich zog einen Stuhl zurück und setzte mich neben Mama. Sie reichte mir den Brotkorb.
"Hast du gut geschlafen?"
"Hervorragend!" Ich begann, ein Brötchen aufzuschneiden. Mama goss mir Kaffee ein.
"Ich habe eine Überraschung für dich, Alea!" sagte sie und zog einen weißen Briefumschlag unter ihrer Serviette hervor.
Meine Neugier war geweckt.
"Was ist das?" Ich versuchte ihr den Brief aus der Hand zu nehmen, doch sie zog ihn schnell aus meiner Reichweite. "Nicht so schnell, junge Dame!" neckte sie mich. "Erst einmal wird gefrühstückt."
"Das ist ungerecht. Erst machst du mich neugierig und dann muss ich warten."
Gespielt schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust.
"Los, iss. Sonst musst du noch länger warten."
Schneller als gewöhnlich schlang ich mein Frühstück herunter. Papa tauchte ab und zu hinter seiner Zeitung auf, um mir über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg einen merkwürdigen Blick zuzuwerfen.
Demonstrativ legte ich das Messer auf meinem Teller ab.
"Was gibt es denn nun so aufregendes?" Ich konnte nicht verhindern, dass ich unruhig auf meinem Stuhl hin- und herrutschte.
Ganz langsam, um meine Spannung noch zu steigern, entfaltete sie den Brief und las vor:

Einladung zum Weihnachtsball

Graf Baranowitz erwartet Sie am kommenden Freitag um 19 Uhr in seinem Palais.
Um angemessene Kleidung wird gebeten.
In freudiger Erwartung verbleibend:

Graf Erik Baranowitz

Mit großen Augen sah ich Mama an.
"Das nenne ich eine kurze und bündige Einladung. Aber was ist daran so spektakulär?"
"Diese Frage kann dir dein Vater beantworten, Kind. Es steht bereits alles über dieses einmalige Ereignis in der Zeitung. Graf Baranowitz hat seit Jahren keinen Ball mehr veranstaltet!"
"Die Tatsache, dass nur Familien mit Töchtern im heiratsfähigen Alter eingeladen wurden, gibt Grund zu der Spekulation, dass der Graf auf diesem Ball seine zukünftige Frau auszusuchen gedenkt", zitierte Papa unsichtbar hinter der Zeitung den entsprechenden Artikel. „Der zurückgezogen lebende Graf gab keinen Kommentar zu den kursierenden Gerüchten ab."
Zu diesen Töchtern im heiratsfähigen Alter zählte mit meinen dreiundzwanzig Jahren auch ich. Aber Mama konnte doch nicht wirklich annehmen, dass ich einen völlig Fremden heiraten würde? Vorausgesetzt, seine Wahl würde auf mich fallen, was von vornherein sehr unwahrscheinlich war.
"Du willst mich also an irgendeinen Grafen verschachern", warf ich Mama halb im Scherz vor. Papa tauchte wieder hinter seiner Zeitung ab.
"Verschachern? Was für ein böses Wort, Alea! Aber ich muss gestehen, dass Graf Baranowitz eine Partie wäre, die mir für dich vorschwebt."
Mein Unterkiefer klappte herunter.
"Wie hoch – nein, wie tief stehen die Chancen, dass er eine Bürgerliche heiratet?" brachte ich ungläubig hervor. Mama wedelte mit dem Brief.
„Ist das eine Einladung oder nicht? Mit einem Adelstitel könntest du es weit bringen. Und Graf Baranowitz soll ein sehr charismatischer Mann sein."
"Woher willst du das wissen, Henriette? Man bekommt diesen Grafen doch niemals zu Gesicht", mischte sich Papa ein.
"Ach Gustav, du siehst es doch auch so, dass ein Titel das Beste wäre, das der Familie Lindeck passieren könnte."
Mehr als einmal hatte ich mit Mama über dieses Thema gestritten. Ich würde aus Liebe heiraten, Ende. Für Mama kam nur eine Heirat in Frage, die in erster Linie einem höheren Zweck diente, basta. Kein Wunder also, dass ihre Augen glänzten.
Papa brummte etwas Unverständliches und schwieg wieder.
Ich fand meine Stimme wieder. "Da hätte ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden!"
"Alea, sollte der Graf dich aus der Schar der Bewerberinnen aussuchen, könntest du dich glücklich schätzen!"
Sie strahlte, als wäre sie es, die gerade einen Heiratsantrag von einem Adeligen bekommen hätte. Mir allerdings wurde flau im Magen. Natürlich war die Chance gering, aber sie bestand. Wenn Mama sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie schwer wieder davon abzubringen. Nur mit ihrem Durchsetzungsvermögen hatte
unsere Familie ihren gesellschaftlichen Status erlangt. Im letzten Monat hatte die dritte Filiale von "Lindeck Stoffe" in Wien eröffnet. Die reichsten der Reichen kauften ihre Tuchwaren bei uns, wie Mama nicht müde wurde zu betonen.
Was unser Geschäft so erfolgreich machte, war, dass sie stets zielsicher den Geschmack der Zeit traf. Doch sie erstrebte noch mehr gesellschaftliche Höhenluft.
Ich fühlte mich hilflos. Doch schließlich gab es viele schöne Töchter in Wien - und ich war Mittelmaß.
"Dieser Graf Baranowitz", wandte ich mich schließlich mit erzwungener Ruhe an Papa. "Ist das dieser maskierte Komponist?"
"Und einer der reichsten Männer Wiens", flötete Mama dazwischen.
"Vielleicht bekommst du am Freitag die Gelegenheit, den Grafen mit deinem Klavierspiel zu beeindrucken. Dein Klavierlehrer behauptet ja immer, du hättest
Talent. Ich bin ja leider völlig unmusikalisch", seufzte sie theatralisch.
"Es kursieren die seltsamsten Gerüchte über diesen Grafen", fuhr ich fort, als hätte sie nichts gesagt. "Er sei lange Jahre auf Reisen in den entferntesten Ländern gewesen. Seine musikalischen Werke sollen wundervoll sein. Die, die ich kenne, sind es jedenfalls. Außerdem heißt es", ich warf Mama einen finsteren Blick zu, „dass er hinter seiner Maske eine schreckliche Entstellung verbirgt."
Papa lugte hinter seiner Zeitung hervor und schüttelte den Kopf.
"Ach, alles nur dummes Geschwätz. Er ist ein Mann von großer Bildung, die er sich vorwiegend im Ausland angeeignet hat. Was die Maske betrifft, so halte ich
das einfach für eine Marotte." Er wedelte vage mit dem Kaffeelöffel. "Um sich interessant zu machen!"
"Auf jeden Fall", wechselte Mama das Thema, "gibt es noch viel vorzubereiten. Du brauchst ein neues Kleid und eine neue Frisur. Außerdem solltest du ab jetzt täglich an deinem Klavierspiel arbeiten."

Die nächste Woche verging wie im Flug. In Wien redete man von nichts anderem als dem großen Ball im Hause Baranowitz. Es wurde darüber spekuliert, wer eingeladen war, welche Schneider für die Anfertigung der Kleider beauftragt wurden und vor allem darüber, wer Chancen auf des Grafen Hand hatte. Der Sonntagmorgen, an dem ich mit einem so guten Gefühl erwacht war, schien unendlich lange her zu sein.

Als ich achtzehn Jahre alt wurde, sah Mama meine schulischen Pflichten als abgeschlossen an. Seitdem arbeitete ich im Geschäft meiner Eltern, dessen Hauptsitz sich direkt neben unserem Wohnhaus befand. Ich erledigte Botengänge, lieferte Stoffe aus und beriet Kunden, wenn zu wenige Angestellte in den Filialen unseres Geschäfts verfügbar waren. Ich mochte meine Arbeit und war gerne in der Stadt unterwegs. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort als in Wien zu leben. Wenn ich nicht damit beschäftigt war, Mama zur Hand zu gehen, las ich oder malte. Aber am liebsten spielte ich Klavier.

In dieser Woche kam ich allerdings zu keiner Tätigkeit, der ich gerne nachging.
Mama schaffte es sogar, mir den Spaß am Klavierspielen zu verderben. Bei jeder Gelegenheit forderte sie mich auf, die schwierigsten Stücke zu üben, die ich kannte. Ich versuchte, ihr auszuweichen, wo es ging, was nicht einfach war, da
ich ihr bei der Erfüllung meiner täglichen Pflichten ständig über den Weg lief.
Im Stundentakt kamen andere vollkommen fremde Menschen in unser Haus, um mich zu vermessen, neue Frisuren an mir auszuprobieren oder mich die Umgangsformen während eines Balles abzufragen. Ich kam mir vor wie eine alberne Kleiderpuppe ohne Seele und Verstand. Mir war, als würde mir mein Leben aus der Hand genommen. Düstere Gedanken verfolgten mich bei jedem meiner Schritte.

Was, wenn der Graf, aus welchem Grund auch immer, Gefallen an mir fand? Ich würde mich in den Willen meiner Eltern fügen müssen. Bei diesem Gedanken graute mir und ich wollte am liebsten fortlaufen. Wie albern. Wohin sollte ich denn gehen? Ich kannte nichts außer Wien. Außerdem liebte ich meine Eltern trotz allem. Ich wollte sie doch nicht ernsthaft verlassen.
Sollte ich aber zu des Grafen Braut erkoren werden, musste ich dann nicht genau das tun?
Das Gedankenkarussell fand kein Ende. Jede Nacht suchten mich schauerliche Träume heim, in denen ein gesichtsloser Fremder die Hand nach mir ausstreckte.

„Küß die Hand, gnä´ Fräulein. Haben Sie auch Wollstoffe von schwarzen Schafen?"
Trotz aller Unbilden der letzten Tage grinste ich breit. „Gnä´ Fräulein, alles, was Sie bei uns kaufen, kommt von schwarzen Schafen", erwiderte ich, als ich mich umdrehte und meiner Freundin Eva um den Hals fiel. Es war Donnerstagmittag, ein Tag vor dem Großereignis.
„Es ist so schön, dich zu sehen! Ich dachte schon, es wäre zum sechsten Mal die Schneiderin. Hier sind alle verrückt geworden. Oder bin ich es?"
Eva lachte herzlich, zog die Nadel aus ihrem Hut und warf ihn auf einen Sessel.
„Nicht euer Haus, sondern die ganze Stadt ist verrückt geworden. Jeder redet nur noch von dem großen Ball. Glaubst du wirklich, dass deine Mutter dich an diesen unbekannten Grafen verheiraten will?"
Ich nickte heftig.
„Sie kann sich nichts Schöneres vorstellen. Mich erfreut dieser Umstand allerdings überhaupt nicht! Setz´ dich. Ich werde Johanna bitten, uns Tee zu machen."
„Gerne. Ich bin halb erfroren. Sicher dauert es nicht mehr lange bis zum ersten Schnee." Sie klapperte mit den Zähnen, als wolle sie das Haus zum Einsturz bringen.

Ich lief nach unten, um dem Hausmädchen bescheid zu geben. Natürlich hätte ich nach dem Tee läuten können, doch diese Art, die Dienstboten zu rufen, war mir zuwider - sehr zum Missfallen meiner Mama. Ihrer Meinung nach durfte sich eine junge Frau aus besserem Hause nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten.
Mir dagegen gefiel es, ab und an in der Küche zu sitzen und zuzusehen, wie das Mittagessen zubereitet wurde. Die Angestellten mochten mich und ich fühlte mich wohl bei ihnen.
Zum Glück war Mama heute damit beschäftigt, Schuhe zu meinem neuen Kleid aufzutreiben.
Ich hastete wieder hinauf in mein Zimmer. Vollkommen außer Atem kam ich dort an.
„Du musst dich doch wegen mir nicht so hetzen! Obwohl", Eva grinste breit, „wenn nicht wegen mir, wegen wem sonst?"
Meine trüben Gedanken waren wie fortgewischt, als ich mit meiner Freundin über meine Befürchtungen sprechen konnte. Eva tat nichts weiter als mir zuzuhören, während sie ab und zu am Tee nippte.
Alles, was um mich herum geschah, kam mir so unwirklich vor.
„Ich meine, was erwartet Mama von mir?" schloss ich meinen Redeschwall.
Eva stellte Tasse und Untertasse ab.
„Offensichtlich Begeisterung über die Aussicht, einen fremden Exzentriker zu ehelichen, der beinahe doppelt so alt ist wie du. Doch wie du schon sagtest, ist die Chance, dass die Wahl des Grafen ausgerechnet auf dich fällt, gering. Du
weißt genau, wie ich das meine!" schnaubte sie, als ich ein Sofakissen nach ihr warf. „Es laufen genug ledige Adelstöchter in Wien herum, damit Baranowitz nicht auf Bürgerliche ausweichen muss. Deine Mutter will nur das Beste für dich, aber hier hat sie sich verkalkuliert. Das Leben verläuft nicht wie in den Romanen, die wir so gerne lesen."
„Du hast gut reden, schließlich bist du bereits vergeben."
„Dafür habe ich keine Einladung zum Ball bekommen." Sie zuckte die Achseln. „Mit Laszlo hatte ich ein Riesenglück. Und mehr als alles in der Welt wünsche ich dir, dass du auch ein solches Glück findest. Es ist herrlich, den Menschen gefunden zu haben, mit dem man sein Leben teilen will." Ihre Wangen fingen an zu glühen.
Vor einem Monat hatten wir ihre Verlobung gefeiert. Ihr ungarischer Erwählter hatte rotbraunes Haar, die Statur eines Mannes, der auf Pferderücken aufgewachsen ist, und den trockensten Humor des Kaiserreichs. Ich freute mich
von ganzem Herzen für die beiden. Doch ein klein wenig beneidete ich sie auch.
Eva wusste, was vor ihr lag. Mein Weg lag völlig im Dunkeln.
„Mach dir nicht zu viele Sorgen, Alea." Sie drückte meine Hände und lächelte.
„Vielleicht kommt alles ganz anders als du denkst."

Der nächste Tag jedenfalls kam für meinen Geschmack viel zu schnell.
Ich hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Mama rügte mich furchtbar beim Frühstück, dabei konnte ich für mein Schlafverhalten beim besten Willen nichts.
Papa murmelte Dinge wie: „Lass das Kind doch in Ruhe frühstücken." Doch als sie ihm zweimal über den Mund gefahren war, verkniff er sich jeglichen weiteren Kommentar.

Johanna ließ mir ein Bad ein und versetzte das Badewasser mit einigen Litern Milch. Ein Tablett mit duftenden Essenzen stand auf dem Badewannenrand. Rosenblätter schwammen auf dem Wasser.
„Was bedeutet dieser ganze Zauber?" fragte ich belustigt.
„Dös san die geheimen Schönheitsrezepte der Kaiserin. Sie ist schließlich die schönste Frau unserer Zeit. Ihre Mittelchen müssen also wirken!" Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.
„Meine Nichte arbeitet am Hof des Kaisers. Und manchmal plaudert´s ein wenig aus dem Nähkästchen."
Während ich das heiße Wasser genoss, wusch und parfümierte sie mein Haar und kämmte es ordentlich aus.
„Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf: gnä´ Fräulein sind mindestens genau so schön wie die Kaiserin in Eahm Alter."
„Schmeichlerin."
Ich kniff mir in die Wangen. Die Fülle rabenschwarzen Haares ließ mich blass wirken. Meine Augen erschienen noch größer als sie es ohnehin waren.
„Ich dad's nicht sagen, wenn ich's nicht meinte!" Sie strich eine letzte Strähne glatt und wickelte meine Haare in ein Handtuch. „Der Herr Graf müsst´ blind sein, wenn er Sie nicht vom Fleck weg heiraten wollte."
Sie meinte es gut, doch mein Magen krampfte sich zusammen.

Der Nachmittag raubte mir den letzten Nerv. Mama hatte mir jegliches Essen versagt, damit ich am Abend besonders eng in mein Korsett geschnürt werden konnte. Eine speziell engagierte Friseuse riss mir stundenlang mehr Haar aus als sie hochsteckte, wenn ich auch gestehen musste, dass mir das Ergebnis gefiel.
Mit meinem Kleid verhielt es sich ähnlich. Es war ein wahrer Traum aus türkisfarbener Seide mit Fransenborten und glitzernden Glassteinen. Am Dekolleté hatte die Schneiderin Stoff gespart, der sich dafür an der Schleppe umso aufwendiger türmte. Ein mehrlagiger Unterrock verlieh dem Kleid ein unglaubliches Volumen. Ich musste Mama ihren unübertrefflichen Geschmack zugestehen.
Wenn mir auch der Anlass nicht gefiel, fühlte ich mich doch schön, als ich schließlich die Treppe hinunter schritt.
„Das soll mein Bazi sein?" flüsterte Papa, während Mama ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß und begeistert in die Hände klatschte.
Sie bedeutete mir, mich einmal um mich selbst zu drehen.
„Perfekt. Einfach perfekt!"
„Sollte es besser auch sein. Ich kann kaum atmen." Hörbar schnappte ich nach Luft. Papa lächelte und bot mir galant den Arm an.
„Wollen wir, meine Schöne?"

Die Fahrt zum Palais des Grafen Baranowitz verbrachte ich schweigend. Er wohnte am Rande Wiens, in der Nähe von Kaiserin Elisabeths Sommersitz, der Hermes-Villa. Wir brauchten eine gute halbe Stunde mit der Droschke. Mama nutzte die Zeit, um mich mit Ratschlägen zu überschütten. Doch alles zog an mir vorbei wie die Nacht am Fenster der Droschke. Trotz des warmen Umhangs fror ich.
Ein Rucken verkündete, dass wir die Auffahrt erreicht hatten. Die Räder knirschten im Kies des Weges. An beiden Seiten waren große Fackeln aufgestellt worden. Von weitem drang gedämpfte Musik an mein Ohr. Wir schienen nicht die ersten zu sein Irgendwie hatte ich das Gefühl, meinem Schicksal entgegenzurollen.

Ein Page in roter Uniform öffnete die Kutschentür und half Mama und mir beim Aussteigen. Sein heimlicher Blick entging mir nicht. Meine Schuhe knirschten auf dem weißen Kies und mein Atem bildete kleine Wölkchen, die dem Himmel entgegenstiegen.
Wie gerne hätte ich es ihnen gleich getan. Doch ich schaffte es, die Schultern zu straffen und die marmornen Stufen zum Eingang lächelnd zu überwinden. Warmes Kerzenlicht flutete mir entgegen. Als ich die Eingangshalle betrat, wurde ich
ruhiger. Ich war angenehm überrascht. Dies war nicht das Zuhause eines kauzigen alten Junggesellen.

Die Halle glänzte in den Farben Weiß und Gold. Auch der große Saal, dessen Flügeltüren weit offen standen, schien in diesen Farben gehalten zu sein. Eine prächtige Freitreppe beherrschte die Eingangshalle. Große Statuen, zumeist
Engel, schmückten die Räume und sahen mit gütigen Augen auf mich herab als wollten sie sagen: „Tritt beruhigt ein."
Man half mir aus meinem Umhang und die wohlig warme Luft ließ eine Gänsehaut über meinen Körper laufen. Ich schüttelte mich unmerklich.
„Alea!" unterbrach Mama meine Betrachtungen. „Kommst du bitte?"
Papa führte Mama am Arm. Einige Schritte hinter ihnen betrat ich den Ballsaal, in dem sich viele junge Damen mit ihren Eltern tummelten.

Welche Pracht! So viele elegante, schöne Frauen auf einem Fleck hatte Wien schon lange nicht mehr gesehen. Mit einem Mal kam ich mir klein und unbedeutend vor.
Auch wenn ich mir nicht wünschte, die zukünftige Gräfin Baranowitz zu werden, so glaubte ich nun, dass ich gegen die Anwesenden keine Chance hätte.
Ein kleines Orchester spielte auf und die Musik vermochte meine trüben Gedanken zeitweise zu verscheuchen. Ich begutachtete die Kleider der Anwesenden, die Frisuren und den Schmuck. Ich versuchte, ihre Gesten und Mimik zu deuten, was in dem allgemeinen Durcheinander reichlich schwer fiel.
Aber meine Augen suchten noch nach etwas anderem: Nach dem maskierten Grafen, dem wir diese Einladung zu verdanken hatten. Der Graf, dessen Ruf ihm meilenweit vorauseilte.
Seit zwei Stunden waren wir schon hier und unser geheimnisvoller Gastgeber hatte sich immer noch nicht blicken lassen.
Mir war langweilig. Ich ignorierte das prächtige Buffet mit solcher Macht, dass ich meinte, es müsse sich jeden Moment in Luft auflösen. Getanzt wurde allenfalls von den Eltern und auch das nur spärlich.
Meine Eltern waren seit geraumer Zeit in ein Gespräch mit einigen Geschäftspartnern vertieft. Ich packte die Gelegenheit beim Schopfe, spazierte durch den Saal und grüßte hier und da bekannte Gesichter, bis ich mich in der Eingangshalle wiederfand. Wie angenehm ruhig es hier war. Die Musik des Orchesters drang bei geschlossenen Türen nur schwach bis hierher vor. Niemand war zu sehen, als ich die
Engelstatuen umkreiste und mit den Fingern über den Marmor fuhr. Dann hörte ich etwas, das meine Aufmerksamkeit weckte.
Ganz leise waren aus dem oberen Stockwerk Klavierklänge zu hören.

Ich ging hinüber zur Treppe und lauschte. Die Melodie gefiel mir. Sie war schwermütig, aber von der Art Schwermut, die man gerne ertrug. Ohne es zu bemerken, folgte ich den Stufen. Vom Treppenabsatz leitete ein Flur zu weiteren Stufen. Ich ging der Musik nach und wunderte mich, dass mir auf meinem Weg niemand begegnete. Dieser Teil des Hauses lag in völliger Dunkelheit. Eine geschlossene Tür in der Mitte des Korridors war das Ziel. Hinter dieser Tür
spielte jemand meisterlich Klavier. Die Musik zog mich in ihren Bann. Noch bevor sich mein Verstand einschalten konnte, hatte ich die Klinke heruntergedrückt.
Sofort verstummte die Musik.
„Wer ist da?" herrschte mich eine tiefe Stimme an. Ich erstarrte.
„Es tut mir leid!" stammelte ich. Meine Augen hatten sich noch nicht soweit an die Finsternis gewöhnt, dass ich etwas sehen konnte.
„Was wollen Sie hier?" Mit einem Mal klang die Stimme resigniert und müde. Mir fiel jedoch ihre warme und volle Melodik auf. Ich gewann einen Teil meiner Fassung zurück.
„Verzeihen Sie mir. Ihr Klavierspiel hat mich dermaßen fasziniert, dass ich ihm gefolgt bin. Ich wollte nicht stören."
Ich vernahm ein leises Geräusch, als würde ein Gegenstand über eine glatte Fläche gezogen und dann aufgenommen.
„Sie verstehen also etwas von Musik, Mademoiselle." Der Spott entging mir nicht.
„Das würde ich mir niemals anmaßen zu behaupten. Ich liebe die Musik und mir hat gefallen, was ich hörte."
Der Hocker des Klaviers kratzte über den Boden und er tat ein paar Schritte auf mich zu.
„Mit wem habe ich das Vergnügen?" Ich zuckte zusammen. Ich hätte nicht sagen können, wie nah er bei mir stand. Seine Stimme erklang jedenfalls direkt neben meinem Ohr.
„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Mein Name ist Alea Lindeck." Wie man es mir beigebracht hatte, deutete ich in willkürlicher Richtung einen Knicks an. Ich fühlte, wie meine Hand ergriffen wurde und wusste, dass er das Gesicht
darüber beugte.
„Hocherfreut, Mademoiselle Lindeck. Ich heiße Sie herzlich in meinem Haus willkommen."
Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Vor mir, von der Dunkelheit verborgen, stand Graf Erik Baranowitz.