Kapitel 1: Schuld

Wenn wir geboren werden, liegt das Leben wie ein weißes Blatt Papier vor uns und harrt der Entscheidungen, die wir fällen werden und die unseren Weg definieren werden. Manche Entscheidung treffen wir nach reiflicher Überlegung, bei einigen Abzweigungen entscheiden wir spontan. Manche halten uns fast ewig in Überlegungen gefangen und vor manchen fürchten wir uns so sehr, dass wir sie fast nicht treffen können. Aber mit jeder Entscheidung, die wir treffen und den Folgen, die sie für uns und unsere Umgebung hat, lernen wir, dass jede dieser Entscheidungen neben einem Lohn auch immer einen Preis hat.

Und während wir unaufhaltsam den Weg unseres Lebens gehen und an jeder Abzweigung neu abwägen, beginnen wir zu begreifen, dass vielleicht nicht immer ein gutes Preis- / Lohnverhältnis auch eine gute Entscheidung definiert.

Zweige von Büschen streiften sein Gesicht, aber der Mann in schwarzer Kleidung schien das nicht zu merken. Sein Gesichtsausdruck war abwesend und von einem tief sitzenden Schmerz gezeichnet. Als hätte etwas eine Wunde verursacht, die niemals heilen könnte, an deren fortwährenden Schmerz er sich nur langsam gewöhnte.

Zu wenig Zeit war vergangen seit seiner Tat, seit er dieses Gelände das letzte Mal betreten hatte. Er erreichte sein Ziel, die dichten Büsche lichteten sich ein wenig und gaben den Blick frei auf eine Fläche nahe dem See. Er konnte die Teilnehmer der Beerdigung deutlich erkennen und auch, wenn er wusste, es gab niemanden, der weniger willkommen war, als er, nichts auf der Welt hätte ihn abhalten können, hierher zu kommen und dem Direktor die letzte Ehre zu erweisen.

Der lähmende Kummer, der von den Trauergästen ausging war fast körperlich fühlbar und gerade in diesem Moment flammte der Sarg auf und ein merkwürdiger weißer Rauch stieg auf.

Als der Pfeilregen der Zentauren, diese eigenartige Form des Saluts, vor den Teilnehmern der Beerdigung niederprasselte und einige erschrocken aufschrieen, wusste er, dass es höchste Zeit war, zu verschwinden. Er hastete zurück auf dem Weg, auf dem er gekommen war, ungesehen durch das vertraute Unterholz über die Trampelpfade auf einem Gelände, dass den größten Teil seines Lebens das war, was einem Zuhause am nächsten gekommen war.

Er warf keinen Blick zurück, der Verlust schmerzte zu sehr, denn nicht nur die Vaterfigur, der Mentor, auch das Zuhause waren unwiederbringlich aus seinem Leben gerissen worden und er wollte nicht einen einzigen Blick mehr auf diese Vergangenheit werfen, aus der jeder Gedanke ein Dolchstoss in sein Herz war.

Auch wenn viele Menschen, die ihn flüchtig zu kennen geglaubt hatten annahmen, er hätte kein Herz, so war diese Annahme grundlegend falsch. Es war gerade dieses Herz, das er so angestrengt zu verstecken versuchte, zu schützen und zu verbergen, das ihm die meisten Probleme in seinem Leben machte. Ohne Herz wäre er niemals zu verletzen gewesen, ohne Herz hätte er niemals diesen grausamen Schmerz fühlen müssen, der nun, nachdem er getan hatte, was er niemals hatte tun wollen, wie ein glühendes Messer seine Seele zerschnitt.

Vieles wäre so viel leichter gewesen ohne ein Herz, aber auch wenn er sich bemühte, seines keinem zu zeigen, war es doch vorhanden und im Moment war es eine einzige Wunde, deren Schmerz langsam die Grenze des Erträglichen überschritt.

Er eilte weiter, lief schneller und schneller, verließ schließlich das Gelände der Schule und verschwand.

Severus Snape erreichte atemlos sein Haus in Spinners End. Er sah sich suchend um, doch die Strasse lag verlassen da, einzig einige Nebelschwaden zogen träge über den Boden, als wollten sie die völlige Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Drama zeigen, dass gerade erst seine Welt erschüttert hatte.

Ein müder Schwung mit dem Zauberstab, ein gemurmeltes Wort und die Tür öffnete sich lautlos. Er schlüpfte hinein und verschloss sie hinter sich. Nach Atem ringend verharrte er einen Moment im Flur und versuchte seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Nach einigen Minuten wurde er wieder ruhiger und machte sich zuerst auf die Suche nach seinem ungeliebten Mitbewohner. Erst, als er jede Ecke des Hauses, jeden geheimen Winkel und jedes verborgene Versteck gründlich durchforstet hatte war er sicher, alleine zu sein, Aus welchen Gründen auch immer, Peter Pettigrew hatte sein Haus verlassen und er war darüber nicht traurig.

Er schützte das Haus mir verschiedenen Schutz- und Alarmzaubern, um jedes unerwünschte Eindringen zu verhindern und zog sich dann in sein Wohnzimmer zurück.

Niemand würde ihn hier vermuten, keiner außer wenigen ausgesuchten Todessern kannten diesen Ort und vor ihnen musste er sich nicht verbergen. Es lag nicht in ihrer Art Höflichkeitsbesuche abzustatten und so konnte er sicher sein, hier ungestört zu sein.

Um den Orden des Phoenix machte er sich keine Sorgen. Niemand von ihnen wusste auch nur im Entferntesten von der Existenz dieses Hauses und so sehr sich die meisten von ihnen wohl wünschen würden, ihn in die Finger zu kriegen, sie würden dazu keine Chance erhalten, solange er sich hier aufhielt.

Er blieb vor dem Regal mit den alten Gläsern stehen, die einst seine Mutter aus dem Haus Ihrer Eltern mitgebracht hatte und die ein verschnörkeltes „P" in das edle Kristall eingraviert hatten. Seine Hand hob sich wie von selbst und strich zart über das zerbrechliche, filigrane Glas.

Wie erstaunlich, dass etwas so feines, so zerbrechliches die Stürme seiner Kindheit überstanden hatte, dass es nicht, wie so vieles andere zu Bruch gegangen war. Wie eigentlich alles, an das er sich erinnerte, wenn er ehrlich war. Die Geschichte seines Lebens vor Hogwarts war ein Trümmerhaufen voller zerborstener Träume, verlorener Wünsche und zertretener Pläne.

So vieles war zerbrochen, aber so vieles war auch einfach unentdeckt, verborgen durch Gleichgültigkeit vor der zerstörerischen Wut des Hasses.

Oder verborgen durch die kategorische Ablehnung einer Person, die er so gerne aus seinem Leben, seiner Geschichte, seiner Familie gestrichen hätte. Die aber doch unentfernbar mit ihm verbunden war, auch wenn er sich noch so sehr dagegen sträubte.

Heute hatte er alles verloren, was jemals in seinem Leben von Bedeutung gewesen war, alles, was er sich aufgebaut und was er verteidigt hatte.

Verloren.

Aufgegeben für ein Versprechen, für das Geschenk unabdingbarer Loyalität.

Vielleicht war es endlich an der Zeit, zu akzeptieren, dass alles im Leben vergänglich ist, dass nichts konserviert werden kann, weder Vertrauen, noch Zuneigung.

Nicht einmal Hass.

Nicht einmal der Hass, den er sein Leben lang mit sich herum getragen hatte war noch von Bedeutung.

Vielleicht war es an der Zeit, loszulassen, was nicht mehr festzuhalten war. Loszulassen, was scheinbar nur noch ein Schatten des einst so überwältigend starken Gefühls war.

Vielleicht war es Zeit, nun, da die Gegenwart verloren war, endlich die Stimmen aus der Vergangenheit anzuhören.

Er seufzte und ging langsamen Schrittes die Treppe hoch in den ersten Stock. Ohne nachzudenken wich er der knarrenden Stelle auf der achten Stufe aus, so wie er es immer getan hatte, wenn er ungehört durch das Haus geschlichen war.

Er erreichte den ersten Stock, der Korridor lag dunkel vor ihm und er starrte einen Moment unbeweglich auf die letzte Tür auf der linken Seite, jener Tür, die seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden war, die er seit ewigen Zeiten zu ignorieren versuchte.

Noch einmal atmete er tief ein, festigte seinen Entschluss, nun, da er keine Zukunft mehr hatte, sich der Vergangenheit zu stellen und ging auf die Tür zu.

Er betrat einen kleinen, muffigen Raum, der von Bücherregalen und einem Teakholzschreibtisch beherrscht wurde.

Eine Bewegung des Zauberstabes ließ die Fensterläden aufspringen und mattes Licht durchflutete den Raum, aber er brauchte es nicht, um zu finden, weswegen er gekommen war.

Obwohl er so lange die Existenz dieses Raumes und seines Geheimnisses vor sich selber geleugnet hatte, fanden seine Finger sofort die kleine Mulde in einer der Seitenwände der riesigen Bücherwand. Er presste den Finger in die Mulde und ein leises „klack" ertönte.

Snape verzog angewidert das Gesicht. Seine Lippen kräuselten sich verächtlich, als er dachte, wie typisch dieses Muggelversteck war, völlig ohne jede Magie, die es schützte und vielleicht gerade deshalb sicher vor allen Zauberern, die niemals mit so etwas gerechnet hätten.

Er schob ein paar Bücher zu Seite und griff in das Fach in der Rückwand, das sich mit dem Klicken geöffnet hatte.

Heraus zog er einen Packen Briefe. Sie waren allesamt ungeöffnet und auf jedem stand in sorgfältigen Buchstaben geschrieben sein Name in einer Schrift, die er unter Tausenden erkannt hätte.

Der Preis für manche Entscheidung ist so hoch, dass es fast unvorstellbar ist, dass diese Entscheidung gut und richtig gewesen sein soll. Und doch sind es vielleicht auch gerade diese Dinge, die richtiger sind als jene, die einfach und billig gewesen wären.