Kapitel 2: Verantwortung

Verantwortung. Manche tragen sie schon ein Leben lang. Einige glauben, sie wären nicht bereit dafür und scheuen sich. Viele denken, es ist besser, sie anderen zu überlassen und verkriechen sich. Und ein paar wenige verstehen, dass man sie nicht aufgedrängt bekommt, sondern sich erhebt und sie übernimmt. Mit aller Konsequenz und mit allen Mühen, die sie mit sich bringt.

Minerva McGonagall ging in ihrem Büro auf und ab. Es bereitete ihr Unbehagen, das Büro des Schulleiters von Hogwarts als „ihr Büro" zu sehen, aber sie war Realistin genug, um sich in die Gegebenheiten einzufügen.

Trotz Allem war es eine Situation die sie nie gewollt hatte und von der sie im Stillen gehofft hatte, sie würde niemals eintreten.

Sie schrak zusammen, als sie ein leises Hüsteln von einer der Wände hörte.

„Bitte, Albus, tun Sie das nicht, ich erschrecke mich jedes Mal zu Tode, wenn Sie so unvermutet auftauchen."

„Du meine Güte, Minerva. Fünf Tode in drei Tagen?", der ehemalige Schulleiter sah amüsiert aus, als er in seinem Ohrensessel Platz nahm. „Verzeihen Sie mir, ich hatte einiges zu erledigen und war viel zwischen meinen Portraits unterwegs", fügte er etwas ernster hinzu.

„Wenigstens habe ich hier ein gemütliches Bild." Er sah auf seinen früheren Schreibtisch herunter und sein Blick wurde verträumt.

„Könnten Sie bitte so gut sein, die Schale mit den Zitronenbrausebonbons wegzuräumen, Minerva? Jedes Mal, wenn ich sie sehe, muss ich daran denken, dass ich sie jetzt schon vermisse." Er seufzte theatralisch.

McGonagall schmunzelte trotz Allem, denn es war so typisch für ihn und ein wenig Heiterkeit würde niemandem schaden.

Sie nahm die Schale, stellte sie in einen der Schränke und wandte sich den Kisten zu, die die Sachen aus ihrem früheren Büro enthielten. Gezielt griff sie in eine hinein und zog eine Dose mit schottischem Karomuster heraus.

„Ingwerkekse?", Dumbledore lächelte in seinem Bild, als seine Nachfolgerin nickte und sich einen Keks nahm.

Sein Lächeln wurde breiter: „Es ist gut zu sehen, dass es selbst in unserer so turbulenten Welt voller schrecklicher Veränderungen noch Konstanten gibt. Das ist beruhigend und tröstlich."

Dann wurde sein Gesicht ernster.

„Minerva, wenn meine Vorbereitungen alle geklappt haben, dann werden Sie in den nächsten Minuten ein Päckchen erhalten. Es enthält eine Erinnerung von mir, in der ich den ganzen Plan mit Severus bespreche und ihm das Versprechen abnehme, zu tun, was ich von ihm verlange."

McGonagall sog scharf die Luft ein.

„Sie haben ihn mit einem Unbrechbaren Schwur gebunden?"

„Nein, natürlich nicht, das wäre grausam gewesen. Obwohl…", er unterbrach sich und sein Gesicht wurde traurig. „Vielleicht war es noch grausamer, dass ich ihn nur durch ein Versprechen basierend auf meinem Vertrauen in seine rückhaltlose Loyalität gebunden habe."

Minerva schwieg und ihre Miene war eine undurchdringliche Maske.

Nach einem Moment der Stille fuhr Dumbledore fort: „Wie dem auch sei. Ich möchte, dass sie die Erinnerung in meinem Denkarium ansehen. Es ist eminent wichtig, dass Sie über jedes Detail des Planes informiert sind.

Was aber noch wichtiger ist, Sie müssen zutiefst von Severus Unschuld und von seiner Loyalität überzeugt sein."

„Ihr Wort dafür genügt mir, Albus." Ihr Gesichtsausdruck war noch immer sehr angespannt.

„Nein, Minerva. Mein Wort reicht in diesem Falle nicht. Die Vorwürfe gegen Severus sind so schrecklich, die Vorbehalte gegen ihn werden so unüberwindbar sein, dass es eines eindeutigen Beweises bedarf, ihn zu entlasten. Und nur ein Augenzeuge kann ein eindeutiger Beweis sein. Ich bitte Sie, seien Sie mein Augenzeuge.

Sie haben eine schwere Aufgabe vor sich, ich bitte Sie, den Orden von der Wahrheit zu überzeugen. Aber noch schwieriger wird es sein, an Severus heran zu kommen. Achten Sie auf ihn, er muss in einem schrecklichen Zustand sein. Sie müssen dafür sorgen, dass er nicht aufgibt, dass er nicht zerbricht.

Finden Sie ihn, überzeugen Sie ihn davon, dass auch Sie ihm vertrauen und bringen Sie ihn zurück zum Orden. Ich weiß, er ist stark, aber bin mir nicht sicher, ob er das aushalten kann, was er getan hat… was er tun musste. Vielleicht habe ich ihn überschätzt.

Aber wie auch immer, wir brauchen ihn und auf eine Art und Weise braucht auch er uns."

Dumbledore verstummte und sah von seinem Portrait auf McGonagall herunter.

Sie sah ihn zweifelnd an.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das will, Albus." Ihre Stimme klang rau, als hätte sie etwas im Hals, was sie nicht schlucken konnte.

„Ich bin mir sicher, Sie schaffen das, meine Liebe. Ich habe volle Vertrauen in ihre Fähigkeiten und in ihren Gerechtigkeitssinn."

Sie setzte sich in ihren Schreibtischsessel und schwieg wieder. Ihr Gesicht war nachdenklich und man konnte den inneren Kampf sehen, den sie mich sich auszufechten hatte.

Sanft erklang nach einer langen Pause wieder Dumbledores Stimme: „Ich über lasse diese Entscheidung ganz Ihnen, Minerva. Welchen Weg Sie auch wählen, ich werde Ihre Entscheidung respektieren und nie wieder darauf zu sprechen kommen. Ich kann nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass der schwere Weg ihnen nicht zu schwer erscheint und Sie die Aufgabe übernehmen."

Er seufzte und verstummte dann.

Die Schulleiterin rührte sich nicht, sie starrte auf ihre Teetasse und nun war auch nichts mehr aus ihrem Gesicht abzulesen. Sie hatte die Entscheidungsfindung tief in ihr Inneres verlegt und niemand würde je erfahren, welche Kämpfe ihrer Entscheidung zugrunde lagen, wenn sie sich entschieden hätte.

Ein leises Pochen an einem der Fenster ließ sie aufschrecken. Ein brauner Waldkauz saß auf dem Fensterbrett und starrte zu ihr herein.

Sie erhob sich, öffnete das Fenster und löste das kleine, unscheinbare Päckchen von seinem Bein. Er flog davon, noch ehe sie ihm einen Keks oder etwas anderes hätte geben können und so schloss sie mit gerunzelter Stirn das Fenster wieder.

Mit langsamen Bewegungen wickelte sie das Päckchen aus und hielt eine kleine Phiole in den Händen. Eine silbrige Flüssigkeit war darin zu erkennen und sie musste nicht nachfragen, was das war.

Minutenlang stand sie bewegungslos da, noch immer war nicht ersichtlich, welche Entscheidung sie fällen würde, dann blickte sie kurz zu dem Portrait Dumbledores und drehte sich um. Sie ging zu dem Schrank, in dem er sein Denkarium verwahrt hatte, öffnete ihn und hob es heraus.

Sie stellte es auf den Schreibtisch, musterte das winzige Fläschchen in ihrer Hand noch einmal sehr genau, dann öffnete sie es und schüttete seinen Inhalt in die steinerne Schale.

Ihr Weg hatte begonnen.

Und am Ende erkennt derjenige, dass er gar nicht hätte aufstehen brauchen, denn er trug sie schon immer, wenn auch im Schatten, so doch nicht minder konsequent.