Kapitel 3: Vertrauen
In einer Welt, die von Misstrauen, Furcht und Paranoia geprägt ist, sind es letztendlich nur Freunde, die uns vor dem Zusammenbruch unserer Seele, vor dem Verlust unserer Integrität bewahren und uns den Halt geben, auf unserem Weg zu bleiben. Dem Weg, den wir einmal für gut befunden haben und dem wir uns geschworen haben zu folgen. Aber was, wenn wir plötzlich merken, dass wir niemanden mehr haben, dem wir unser Vertrauen schenken können, niemanden, der uns als Freund betrachtet. Wohin können wir dann noch gehen, ohne zu fallen, ohne die dünne Schutzschicht zu verlieren, die uns vom Schmerz trennt.
Minutenlang stand Snape bewegungslos da, starrte auf die Briefe in seiner Hand, auf seinen Namen und rang mit sich, sein Vorhaben zu Ende zu bringen.
Schließlich gab er sich einen Ruck, schloss das Geheimversteck und verließ den Raum.
Er ging zurück in den Wohnraum und setzte sich in seinen Lehnstuhl aus altem, schon leicht brüchigem Leder. Die Hand mit den Briefen lag in seinem Schoß, als gehöre sie nicht zu ihm, sein Blick war in die Ferne gerichtet.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er dieses Geheimversteck, nachdem er es durch einen dummen Zufall entdeckt hatte, wohl hundert Mal geöffnet und die Briefe in die Hand genommen. Aber immer hatte er sie voller Verachtung, voller Hass, aber eigentlich, wenn er endlich ehrlich zu sich selber war, voller Furcht vor dem was sie enthalten könnten zurückgelegt.
Schließlich, nach einer schier endlosen Zeit nickte er, als habe er einen Entschluss gefasst und sah auf die Briefe in seiner Hand.
Er legte den Stapel sorgfältig auf ein Lesetischchen neben seinem Sessel, strich mit der Hand über den obersten und nahm ihn dann vorsichtig herunter.
Wieder sah er einen langen Augenblick auf die klaren Linien, die seinen Namen darstellten, dann zog er seinen Zauberstab und richtete ihn auf den Brief. Er hielt inne, ein Lächeln stahl sich auf seine finsteren Züge und er steckte den Zauberstab wieder weg. Aus einer Schublade zog er einen altmodischen Brieföffner, der ihm aus irgendeinem Grunde passender erschien. Diese Briefe waren ohne Magie geschrieben worden, sie wurden ohne Magie verwahrt und versteckt und nun sollten sie auch ohne Magie geöffnet werden.
Welche Ironie.
Er setzte sich wieder, dann starrte er wieder auf die Handschrift. Er kannte sie zu gut, er hasste sie, seit er denken konnte, sie stand für alles, was er verabscheute, aber dennoch übte sie auch nach all den Jahren eine eigenartige Faszination auf ihn aus.
Er schlitzte das Kuvert sauber auf, zog die Blätter daraus hervor und legte Brieföffner und Umschlag auf den Tisch neben sich.
Noch einmal atmete er tief ein, als müsse er sich überwinden, die Buchstaben auf den Blättern zu entziffern, dann begann er zu lesen.
Mein lieber Sohn,
einer alten Muggeltradition folgend beginne ich, Dir Briefe zu schreiben, die Du lesen sollst, wenn Du älter bist. Sie sollen Dir beschreiben, wie sich die Welt und Deine Familie entwickelt haben, während Du noch zu klein warst, um das bewusst zu verstehen. Sie sollen Dir schildern, was ich empfinde in einem Leben, das nun völlig verändert ist, in dem Du nun eine Hauptrolle für mich spielst.
Du bist nun seit zwei Tagen auf der Welt und schon beginne ich, die Welt anders zu sehen. Ich frage mich, was werden wird, wohin Dein Weg Dich führen wird, was ich tun kann, um Dein Leben zu etwas zu machen, das für uns Beide etwas sein kann, worauf wir stolz sein werden.
Ich weiß nicht, wohin uns das Leben bringen wird, ich weiß nicht, ob es Glück oder Trauer für uns bereithält, ob es Schmerz oder Liebe bringt, aber was auch immer werden wird, ich möchte, dass Du verstehst, wer ich war, als Du jung warst und wer ich wurde, während Du heranwuchsest.
Ich kann nur hoffen, dass ich eine Person für Dich sein werde, der Du vertraust, die Du als Deinen Freund siehst.
Ich bin so voller Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft, dass ich es kaum zu Papier bringen kann.
Was immer die Zukunft auch bringen wird, ich möchte, dass Du eines weißt und niemals vergisst, mein Sohn:
Ich war noch niemals in meinem Leben so glücklich, habe noch niemals im Leben zwei Menschen so sehr geliebt wie Deine Mutter und Dich, als ich Dich das erste Mal in ihren Armen sah.
Mir fehlen die Worte, dieses vollkommene Glück zu beschreiben und ich kann nur hoffen, dass ich dieses Gefühl mit in die Zukunft nehmen kann, um Euch beide damit für alle Zeiten zu umschließen.
In Liebe
Dein Vater
Severus starrte das Papier voller Unglauben, voller Entsetzen an. Er hatte so Vieles befürchtet, erwartet oder gedacht, aber nicht so etwas.
Er las den Brief wieder und wieder, aber die Worte schafften es nicht, ihren Weg von seinem Geist in sein Herz zu finden, das sich mehr und mehr wie ein eisiger, schmerzhafter Klumpen anfühlte.
Zu tief war der Graben zwischen dem, was er dort las und dem, was er erinnerte und es war ihm unmöglich, eine Verbindung dazwischen zu finden.
Erschütterung, tiefe Verunsicherung und Wut mischten sich in seinen Gesichtszügen, doch er merkte nicht einmal, dass er nun endgültig die Kontrolle über seine Gefühle verloren hatte.
Viele Stunden saß er nur da, das Papier des Briefes in seiner verkrampften Hand war zerknittert, aber er schien in einer eigenen Welt voller widersprüchlicher Emotionen gefangen.
Endlich regte er sich, legte den Brief zur Seite und fuhr sich mit einer zitternden Hand durch das Haar. Nur zögerlich wurde ihm klar, dass es nur eine einzige Chance gab, herauszufinden, was geschehen war, um den Mann, der diesen Brief geschrieben hatte in den Vater, an den er sich erinnerte zu verwandeln.
Diese Briefe waren die einzige Verbindung zur Vergangenheit und so tief der Schock auch saß, so erschüttert auch alles war, was er bisher geglaubt und als wahr angenommen hatte, seine Neugier war geweckt.
Vorsichtig griff er nach dem nächsten Brief auf dem Stapel.
Wie gut, dass wir manchmal gezwungen sind, den Blick in die Vergangenheit zu werfen, denn dort können wir Menschen finden, die wir ohne die Suche nach einem Freund niemals gefunden hätten. Und manchmal finden unter diesen Menschen jemanden, den wir dort nie vermutet hätten.
