Kapitel 4: Verstehen

Wir alle suchen etwas. Manche suchen nach Antworten. Manche suchen nach der Wahrheit. Manche suchen Glück und Erfüllung. Und manche suchen Vergebung. Wir suchen einerseits Verständnis, andererseits Verstehen. Und so sehr unsere Seele das Verständnis braucht, so sehr schreit unser Verstand nach dem Verstehen, auch wenn wir manchmal sehr, sehr lange brauchen, um dieses Bedürfnis zu begreifen. Bisweilen haben wir Angst vor dem, was wir finden könnten, aber eine unnennbare Kraft zwingt uns immer weiter zu suchen. Aber uns alle verbindet der Drang zu suchen, die Suche selber, die unsere Wege definiert.

Mein lieber Sohn,

nun sind es schon sechs Monate, die Du bei uns bist und ich kann es immer noch nicht fassen, dass dieses wundervolle kleine Wesen mein Sohn ist. Immer, wenn ich vor Deinem Bettchen stehe und Dich ansehe, während Du friedlich schläfst, werde ich erfüllt von Dankbarkeit.

Wie oft habe ich schon in Dein kleines Gesichtchen gesehen und gebetet, dass Du nicht meine Nase geerbt haben mögest.

Sechs Monate sind wir nun eine Familie, aber die Dinge verändern sich, schleichend und langsam, aber ich merke es in den Blicken deiner Mutter.

Ich habe lange überlegt, ob das in diesen Briefen erwähnt werden sollte, aber ich glaube, Du hast ein Recht darauf zu erfahren, wie die Dinge sich entwickeln, wie sie sich verändern.

Aber zuerst musst Du erfahren, wer wir sind, deine Mutter und ich, wie wir einander kennen gelernt haben und wie wir wurden, was wir nun sind.

Wir trafen uns auf einer Fähre nach Irland. Ich wusste nichts von der Zauberwelt und sah nur eine Frau an der Reling der Fähre stehen und auf das Wasser starren. Ich stellte mich zu ihr, weil sie so verloren wirkte gegen die raue See und wir kamen ins Gespräch. Wir sprachen die ganz Fahrt über und wir fanden beide Gefallen daran. Sie war aufmerksam, intelligent, blitzschnell im Denken und ihr trockener Humor traf genau meinen Geschmack.

Später sagte sie immer wieder, sie wisse nicht, warum sie an dem Tag die Fähre genommen hätte, es war einfach der Wunsch, eine Weile auf das Wasser zu sehen und das Gesicht in den Wind zu halten.

Wir trafen uns in Irland mehrmals und legten unsere Rückreise so, dass wir wieder die Fähre zusammen nehmen konnten.

Sie beschwor mich, unsere Freundschaft geheim zu halten und ich war bereit, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Ich war schon längst in dieses zauberhafte Wesen verliebt, auch wenn ich es noch nicht zugegeben hätte.

Wir schrieben uns regelmäßig und manchmal schafften wir es auch, uns zu treffen und irgendwann erzählte sie mir von der Zaubererwelt. Du kannst Dir kaum vorstellen, wie das für mich war, aber ich liebte sie und es war mir egal, dass sie aus einer eigentlich für mich völlig fremden und dabei so überlegenen Kultur kam. Zumindest glaubte ich damals an diese Überlegenheit. Und das ist sie im Grunde auch, wenn man als Muggel in diese Welt eintritt und sie zur eigenen Heimat macht.

Nun ja, ich schweife ab.

Wir hatten viele Gespräche darüber, waren uns aber einig, dass es einem liebenden Paar nicht im Wege stehen würde, aus unterschiedlichen Kulturen zu kommen, immerhin praktizieren die Menschen solche Mischehen seit Jahrtausenden in allen Kulturen und Religionen.

Allerdings lernte ich auch einiges über die Ausdrücke Reinblüter, Halbblüter und Schlammblüter. Ihre Familie war seit vielen Generationen reinblütig und sie war in dem Glauben erzogen worden, das sei das Maß aller Dinge.

Sie wurde durch unsere Liebe eines Besseren belehrt und so war ein Konflikt mit ihrer Familie vorprogrammiert.

Aber wir waren jung, wir glaubten an die Kraft der Liebe und dass sie alles überwinden könne, was sich uns in den Weg stellen würde.

Aber trotz unserer Liebe fürchtete Eileen das Gespräch mit ihren Eltern und eigentlich wusste sie auch, dass es sinnlos wäre. Sie würde mich niemals akzeptieren, also überlegten wir fortzulaufen.

Doch wie das Schicksal es so will, meistens kommt es anders, als man plant und so erreichte mich eines Abends eine Eule (ich habe recht lange gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, dass diese wunderbaren Vögel Postboten sind), in der sie mich um ein sofortiges Treffen bat.

Ich lebte damals in einem möblierten Zimmer in einem Vorort von Manchester und ging verschiedenen Arbeiten nach, die mir das Überleben sicherten, mir aber keinen Luxus erlaubten.

Nun, wie dem auch sei, ich schrieb ihr zurück, sie solle herkommen, meine Tür stünde ihr jederzeit offen und kurz danach stand sie auch schon vor der Tür.

Sie fiel weinend in meine Arme, ein früherer Mitschüler von ihr hatte von uns erfahren und dieses Wissen unverzüglich mit ihren Eltern geteilt. Ihre Eltern hatten nicht lange gefackelt und ihr angeboten, diese „Affäre" zu vergessen, wenn sie sie unverzügliche beenden würde und so etwas nie wieder vorkäme. Sie weigerte sich, versuchte mit ihren Eltern zu reden, aber diese kannten in so einem Fall kein Pardon, Eileen wurde der Familie verwiesen, ihre Sachen vor die Tür gestellt und sie wurde in Schimpf und Schande davon gejagt.

Ihr weinen war in Zorn umgeschlagen, sie bebte schier über die Untat ihrer Eltern.

Oh Gott, sie war so atemberaubend schön in diesem Augenblick, sie war so kraftvoll, als könne sie die Welt aus den Angeln heben und ich liebte sie mehr denn je für ihre Courage.

Natürlich wurde sie auch enterbt, aber das war kein Problem, denn sie hatte schon vorher ein wenig Geld von einer ihrer Großtanten geerbt und das sollte reichen, uns ein einfaches, aber unabhängiges Leben zu bieten. Dazu hatte ich Arbeit genug, damit wir uns eine Familie leisten könnten.

Wir heirateten, zogen hierher nach Spinners End und kurze Zeit später machte Eileens Schwangerschaft unser Glück perfekt.

Deine Geburt war das größte Glück in unserem Leben, aber Eileen wollte trotz der vorherigen Ablehnungen immer wieder versuchen, mit ihren Eltern zu reden.

Aber sie bleiben hart, wollten nichts von einem Enkelkind wissen. Halbblut und Bastard nannten sie Dich und sie verfluchten mich und meinen Einfluss auf ihre Tochter.

Deine Mutter wurde zunehmend unglücklicher. Ich konnte sie nicht mehr aufheitern, konnte ihr kaum noch vermitteln, wie sehr ich sie doch liebte und dass wir nun eine eigene Familie wären. Einzig Du konntest sie zum Lächeln bringen, man konnte spüren, dass sie in den Momenten, in denen sie Dich in ihren Armen hielt wusste, dass es all den Kummer wert war.

Ich bin sicher, wir werden darüber hinweg kommen, sie wird den Schmerz über die Ablehnung durch ihre Eltern überwinden und wir werden eine glückliche Zukunft haben.

So wird es sein müssen, denn wir tragen nun die Verantwortung für Dein Glück und das muss uns wichtiger und wertvoller sein, als alles andere, was uns bewegt.

In Liebe

Dein Vater

Mit einer seltsam steifen Bewegung legte Snape dem Brief zur Seite. Sein Gesicht war ausdruckslos, alleine in seinen dunklen Augen konnte man sehen, wie sehr ihn dieser Brief bewegt hatte.

War der erste Brief noch ein Schock gewesen, so versprach dieser plötzlich eine ganz neue Welt, eine Sicht auf seine eigene Geschichte, die er niemals vermutet hatte. Und, wenn er ganz ehrlich zu sich selber war, eine Sicht, die er niemals hatte zulassen wollen, an der er sich jedes Interesse strengstens verboten hatte.

Natürlich gab es viele Dinge in seinem Leben, die vor der Zeit lagen, an die er sich überhaupt erinnern konnte, aber auch der Rest lag in einem Nebel aus Wut, Hass und Finsternis. Als hätte sein Verstand irgendwann einmal beschlossen, dass es besser war, einige Dinge in der Dunkelheit des Vergessens versinken zu lassen.

Langsam sickerte die Erkenntnis in seine Gedanken, was für ein klassisches Drama er hier erlebte. Wie weit hatte er kommen müssen, was hatte er alles erleben müssen, um sich nun, vollkommen allein, von aller Welt als feiger Mörder verachtet und fast gebrochen endlich den Schatten seiner Vergangenheit stellen zu können.

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Er war Vieles. Aber er war kein Feigling und er würde sich diesen Schatten stellen, egal, was sie ihm zeigen würden.

Mit neu erwachter Kraft griff er nach dem nächsten Brief auf dem Stapel.

Und so suchen wir unermüdlich, beseelt von dem Wunsch unsere Suche eines Tages zu beenden oder die Suche selber zum Inhalt unseres Lebens zu machen. Und manchmal merken wir nicht, dass wir das, was wir so verzweifelt gesucht haben schon lange mit uns herum tragen.