Kapitel 6: Lügen
Wenn wir davon überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen und das Richtige zu tun, dann handeln wir aus tiefer Überzeugung. Wir halten fest an der Wahrheit, rücken nicht ab von dem was Recht ist und wiegen uns in Sicherheit.
Und auch, wenn das, was wir sehen Risse bekommt, halten wir daran fest, solange wir irgendwie können. Wir hegen und pflegen, was uns bekannt und vertraut ist und reden uns ein, dass es schon stimmen wird, weil es schließlich schon immer so war. Nur manchmal, nachts, wenn wir nicht in den Schlaf finden und die Gedanken sich auf eigene Weg machen, dann kommen Zweifel auf und wir flüstern die vertrauten Sätze wieder und wieder in die Dunkelheit, in der verzweifelten Hoffnung, das sie sich auf magische Weise in Wahrheiten verwandeln.
Mein lieber Sohn,
ich werde dafür sorgen, dass Du diese Briefe erst erhältst, wenn Du alt genug bist, um zu verstehen, was geschehen ist. Ich finde, das ist ein geringer Preis dafür, dass ich von nun an die ganze Wahrheit hier hinein schreibe. Meine Gefühle, meine Gedanken, beseelt von dem Wunsch, dass Du mich verstehst, dass Du mich respektierst, auch wenn ich das bald selber nicht mehr kann.
Severus, ich bleibe nur bei Deiner Mutter, weil ich Dich hier nicht alleine lassen will. Weil ich die Vorstellung nicht ertrage, dass Du ihr schutzlos ausgeliefert bist.
Himmel, was sage ich. Als könnte ich Dich schützen, als hätte ich je irgendetwas tun können, um Schaden von Dir abzuwenden.
Es wird zunehmend schlimmer mit Eileen. Immer öfter sagt sie, wie sehr sie mich hasst und dass Du ihr die Rückkehr in die Welt der Reinblüter verbaut hättest, weil Du sie zur Mutter eines Halbbluts gemacht hättest. Ich kann es fast nicht mehr ertragen und nur das Wissen, dass Du von diesen Dingen noch nichts verstehst, gibt mir die Hoffnung, dass Deine junge Seele nicht zu viel Schaden nimmt.
Aber Du bist nun drei Jahre alt und nicht mehr lange wird Dich Deine Unwissenheit schützen vor dem Schmerz der Erkenntnis, dass Worte wie Messer sein können.
Ihre Wutanfälle werden schlimmer und oft kann ich mich nur knapp dazwischen werfen, wenn sie Flüche auf Dich wirft.
Ich glaube langsam sie verliert den Verstand. Das Gift der Gedanken ihrer Familie ist dabei, ihr gütiges und liebevolles Wesen völlig zu zerstören und durch Wahnsinn zu ersetzen. Anders kann ich mit nicht erklären, was hier immer öfter passiert.
Ich habe sie gebeten, uns gehen zu lassen ich würde Dich liebend gerne mit mir nehmen und für Dich sorgen, aber sie hat nur gelacht und gesagt, ich könne gehen, aber Dich würde sie nicht hergeben. Natürlich ist das keine Option, ich werde Dich nicht alleine lassen, ich will versuchen, Dich zu beschütze, soweit ich das kann.
Leider sind meine Mittel gegen ihre Wut beschränkt, aber immerhin schaffe ich es meistens ihren lodernden Zorn auf mich zu lenken, wenn sie ihn vorher auf Dich gerichtet hatte. So kommst Du oft ungeschoren davon und ich kann nur hoffen, dass Du nicht allzu viel von alledem mitbekommst.
Vor einigen Tagen war es wieder einmal sehr schlimm. Sie war wütend auf Dich, weil Du bist, was Du bist und sie immer mehr Dich und mich als Ursache ihres Elends sieht. Mich alleine könnte sie verlassen, ihre Familie würde es ihr vielleicht sogar verzeihen, aber durch Dich ist sie Mutter eines Halbbluts und damit unrettbar für ihre verrückte Reinblüterwelt verloren.
Oh, wie ich dieses Gefüge in der Zaubererwelt hassen gelernt habe. Es ist verlogen bis in die tiefen Wurzeln des Denkens, snobistisch und menschenverachtend, aber es gibt nichts, was man dagegen tun kann.
In ihrer Wut versuchte sie wieder einmal einen Fluch auf Dich zu sprechen, ich war machtlos, konnte nicht mehr tun, als den ersten Fluch auf mich lenken, aber diesmal war es schlimmer als sonst. Sie wollte nicht von Dir ablassen und egal, was ich tat, ich konnte ihren Zorn nicht auf mich lenken.
Ich verlor die Beherrschung und brüllte sie an, wie ich noch nie im Leben jemanden angeschrieen habe. Ich muss mir alle Wut und alle Frustration von der Seele gebrüllt haben, denn ich weiß nicht mehr, wie lange ich sie anschrie, aber einige Minuten waren es bestimmt.
Sie war so erschrocken, dass sie tatsächlich aufhörte und fluchtartig den Raum verließ.
Ich war völlig perplex, aber dann sah ich, dass ich auch Dich erschreckt hatte, mein Sohn. Als ich mich umdrehte, um nach Dir zu sehen, hocktest Du zusammengekauert in der Ecke und weintest bitterlich. Ich wollte zu Dir und Dich trösten, aber Du wichst mit Angst in den Augen vor mir zurück.
Gütiger Gott, was habe ich nur angerichtet…
Ich habe mehr und mehr das Gefühl, meine Hilflosigkeit macht alles nur noch schlimmer, als würde ich ihre Wut noch anfachen, wenn ich mich nicht wehre. Aber wie sollte ich. Ihre Zauber und Flüche strecken mich in sekundenschnelle nieder. Sie begreift scheinbar nicht mehr, dass es nichts hilft, mich anzuschreien.
Aber wenigstens lässt sie Dich dann in Ruhe. Das scheint inzwischen alles zu sein, was ich noch zu Deinem Schutz tun kann.
Ich weiß nicht, an wie viel Du Dich erinnern wirst aus dieser Zeit, aber ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass Du mir verzeihen kannst, wenn Du eines Tages verstehst, was meine Motive waren.
Ich werde immer für Dich da sein, mein Sohn.
Dein Vater
Snape merkte nicht mehr, dass ihm das Blatt aus der Hand geglitten war und langsam zu Boden flatterte. Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen, während seine zitternde Hand noch immer das Blatt zu halten schien.
Langsam, als grabe sie sich einen Weg durch meterhohe Trümmerberge, schob sich eine Erinnerung in sein bewusstes Denken.
Er war noch sehr klein, ein kleiner, verängstigter Junge, der von seiner Mutter angeschrieen wurde.
Er verstand nicht, was sie meinte, er verstand nur die wiederkehrenden Worte „Du bist an Allem Schuld!"
Sie hob ihren Zauberstab und er wusste, es würde gleich wehtun, also rollte er sich zu einer kleinen Kugel zusammen und wünschte sich, unsichtbar zu sein.
Ein Fluch traf ihn, schleuderte ihn quer durch den Raum gegen eine Kommode.
Schmerz.
Er fühlte, dass seine Nase zu laufen begann und er wischte sie mit dem Handrücken ab. Als er auf seine Hand sah, war sie voller Blut.
„DADDY! HILF MIR!"
Die Tür flog auf, sein Vater rannte auf ihn zu, als seine Mutter sich umdrehte und mit einer Bewegung des Zauberstabs seinen Vater zu Boden warf. Er krümmte sich und stöhnte furchtbar.
Als er seinen Vater dort so liegen sah, wurde ihm bewusst, dass es von ihm keine Hilfe geben würde und er begann bitterlich zu weinen.
Warum half Daddy ihm nicht, liebte er ihn denn nicht? Daddy konnte doch immer alles, immer war er da, wenn Severus etwas weh tat und er hatte auch den Hund vertrieben, vor dem er letztens solche Angst gehabt hatte.
War es am Ende doch alles seine schuld, wenn Daddy ihn nicht liebte und nichts gegen die Wut der Mutter unternahm? War sie deshalb so wütend, weil er ein Junge war, den niemand lieben konnte?
Er weinte heftiger, Gefühle von Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit breiteten sich in ihm aus, er fühlte sie genau, auch wenn er sie natürlich noch nicht benennen konnte, aber nie hatte ein kleiner Junge sich elender gefühlt, als er in diesem Moment der Erkenntnis, dass es keine Rettung geben würde für ihn. Zumindest glaubte er das.
Mit einem Ruck sprang Snape auf die Beine und ging ein paar Schritte durch den Raum, als müsse er sich räumlich von der Erinnerung trennen. Er fühlte erst jetzt, dass nicht nur seine Hand zitterte, sondern er am ganzen Körper bebte. Das Bild aus seiner Vergangenheit hatte ihn zutiefst erschüttert.
Er hatte diese Erinnerungen und Bilder so tief vergraben, so tief waren sie verschüttet gewesen, dass es ihm ermöglicht wurde, an ein Leben ohne sie zu glauben.
Und nun waren sie hier, sie waren wahr und sie würden sich nicht wieder fort schicken lassen.
Er rang um Fassung und langsam beruhigte sich sein rasender Herzschlag wieder. Auf dem Weg zurück zum Sessel bückte er sich, hob den herunter gefallenen Brief auf und legte ihn mit scheinbar wieder gekehrter Ruhe auf den Stapel zurück.
Trotzdem dauerte es lange, bis er sich soweit fühlte, nach dem nächsten Brief zu greifen.
Wenn uns die Erkenntnis dämmert, dass es Lügen sind, auf die wir gebaut haben, werden wir dann die Kraft finden, uns von ihnen abzuwenden und in die Leere zu fallen?
Oder klammern wir uns an das zerbrechliche Gebilde der Lügen, weil es unsere einzige Sicherheit in einer Welt voller ungesagter Wahrheiten ist.
Manche Lügengebilde halten Jahrzehnte lang, manche ein ganzes Leben. Aber wenn sie einstürzen, dann lassen sie uns nicht nur schutzlos zurück, sondern auch ohne Orientierung und voller Furcht werden wir gezwungen einen Blick auf die Wahrheit zu werfen, die so lange verborgen geblieben ist.
Und dann ist es unsere eigene Entscheidung, mit der Wahrheit weiterzuleben, oder uns ein neues schützendes Lügengebilde zu bauen.
