Kapitel 7: Macht
Es ist etwas Merkwürdiges an der Macht. Wir verbringen viel Zeit damit, nach ihr zu streben, uns etwas aufzubauen, das uns Macht über andere verleiht. Wir streben danach, andere zu beherrschen, ihnen unsere Ideen und Gedanken aufzuzwingen und sie so unter unsere Kontrolle zu bringen. Viele unserer Handlungen sind von dem Ziel bestimmt, unsere Macht zu erweitern, unseren Einfluss auszudehnen.
Und dabei verachten wir alles, was in unseren Augen machtlos aussieht als Schwäche.
Mein lieber Sohn,
Du wirst immer verschlossener, als würdest Du eine undurchdringliche Mauer um dich aufbauen. Wahrscheinlich versuchst Du Dich gegen Verletzungen zu schützen und das verstehe ich sehr gut, denn davon gibt es zu viele in Deinem Leben.
Ich vermisse Dein Lachen, das ich so an Dir geliebt habe, als Du ein kleiner Junge warst. Aber ich werde nichts tun, um Deinen Panzer zu durchbrechen, wenn er es ist, der Dich schützt.
Letzte Woche hast Du Deinen achten Geburtstag gefeiert. Ich konnte froh sein, noch dabei sein zu dürfen, aber ich glaube, der zerbrechliche Frieden hält nicht mehr lange.
Die Feier fand bei Deinen Großeltern statt und es waren einige Kinder aus mit ihnen befreundeten Familien eingeladen. Du kanntest diese Kinder nicht, aber man erwartete von Dir, mit ihnen zu spielen und ich konnte spüren, wie sehr Dir das widerstrebte. Du hast es Dir nicht anmerken lassen und tapfer gute Miene zum bösen Spiel gemacht, bis der Zwischenfall mit dem Besen passierte.
Deine Großeltern haben Dir einen Kinderbesen geschenkt und unter den Anfeuerungsrufen der anderen Kinder versuchtest Du, mit ihm zu fliegen. Das dumme Ding hat gebockt wie ein Esel und Du fielst unsanft auf den Boden. Eines der Mädchen lachte Dich voller Spott aus und ich konnte den Schmerz in Deinen Augen erkennen. Du sahst so verletzlich aus in diesem Moment, es brach mir schier das Herz. Ich wollte zu Dir laufen, Dich trösten und dem dummen Gör sagen, es solle sich zum Teufel scheren, aber das hätte es noch schlimmer gemacht, soviel habe ich inzwischen gelernt.
In meiner Welt bringen Väter ihren Söhnen das Fahrradfahren bei, in Eurer Welt lehren sie sie wohl das Fliegen. Wieder etwas, wobei ich Dir nicht der Vater sein kann, den Du verdienst.
Glaube mir, ich würde alles hergeben, was jemals Bedeutung hatte für mich, wenn ich nur einmal ein wirklicher Vater für Dich sein könnte.
Ich habe einen ganzen Monat nicht mehr weiter geschrieben an diesem Brief, zu sehr hat mich Dein Geburtstag beschäftigt. Aber nun hat der Alltag uns wieder und das Leben nimmt seinen gewohnten, schrecklichen Lauf.
Sie vergiften Dich. Deine Mutter und Deine Großeltern lassen ihr Gift langsam und stetig in Dein Herz und Deinen Verstand träufeln und ich merke an den Blicken, die Du mir zuwirfst, dass ihre Saat langsam aufgeht.
Meine Verzweiflung wächst, aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben und ich will Dich nicht alleine mit diesen Leuten lassen, solange ich noch die Kraft habe.
Sie können mich nicht zwingen, von Dir fernzubleiben, denn auch ihre Gesetze geben mir als Deinem Vater bestimmte Rechte.
Aber sie stopfen Deinen jungen Verstand voll mit all dem dunklen Zeug, mit diesen schrecklichen Flüchen und Zaubern, die nur dazu dienen, anderen zu schaden. Sie nennen es die dunklen Künste, aber ich kann darin keine Kunst sehen.
Du lernst es willig und erfreust Dich an der Macht, die Dir dieses Wissen verleiht. Und soviel ich auch versuche, an Dich heran zu kommen, Du lachst nur über mich, Deine Verachtung für mich ist kaum noch zu ertragen, aber ich will Dich trotzdem nicht verlassen.
Ich werde nicht aufhören, darum zu kämpfen, dass Du aufhörst, diese dunkeln Zauber zu üben und anzuwenden. Ich weiß durch die frühe Zeit mit Deiner Mutter, wie nützlich Zauberei sein kann, wie schön, aufregend und produktiv. Aber das, was Du nun lernst ist scheußlich. Siehst Du denn nicht, dass es genau die Flüche sind, die Deine Mutter benutzt hat, um Dich zu bestrafen, um mich zu quälen?
Ist es egal, dass sie der Verletzung und Erniedrigung dienen, wenn sie Dir nur Macht geben?
Ich bin entsetzt, wenn ich Dich beobachte, wie Du diese Dinge im Garten an Tieren ausprobierst, um sie zu üben. Mir wird übel, wen ich an den Glanz in den Augen Deines Großvaters sehe, wenn er von den dunklen Künsten spricht und mir wird elend vor Angst bei der Vorstellung, diesen Glanz eines Tages auch in Deinen Augen zu sehen.
Diese Angst gibt mir die Kraft, immer wieder zu versuchen, mit Dir zu sprechen, an die Menschlichkeit in Dir zu appellieren. Du bist ein Kind, Du solltest solche schrecklichen Dinge noch gar nicht kennen, Du solltest noch nicht einmal ahnen, dass es etwas anderes als Spiel und Freude im Leben gibt.
Verdammt, ich wünschte, ich könnte Dir vermitteln, was eine glückliche Kindheit ist, so, wie ich sie hatte. Ich wünschte, ich könnte all die Schmerzen, die Angst und den Kummer deines jungen Lebens nehmen und sie tauschen gegen meine Kindheit.
Glaube mir, wenn ich es könnte, ich würde alles von Deinen schmalen Schultern nehmen und es selber tragen. Wenn Du nur noch einmal unbeschwert und glücklich lachen würdest.
Und wieder werde ich heute Abend versuchen, nach dem Abendessen, wenn Deine Mutter sich mit ihren Büchern zurückgezogen hat, mit Dir zu reden. Vielleicht wirst Du mich heute nicht fortschicken mit diesem verächtlichen Kräuseln Deiner Lippen, für das Du noch viel zu jung bist.
Vielleicht gibt es noch eine Chance, Dich zu erreichen, auch wenn ich die Hoffnung dafür fast aufgegeben habe.
Aber Dich, Dich werde ich niemals aufgeben
Dein Vater
Aber manchmal müssen wir erkennen, dass gerade in der vermeintlichen Schwäche große Macht liegt und dass in der Aufrichtigkeit das Potenzial ruht, die Mächtigen zu stürzen.
