Kapitel 9: Aufbruch

Es ist möglich, dass wir eine Entscheidung treffen, die nicht nur für uns selber einen neuen Weg bedeutet, sondern die Andere ebenso auf den Weg bringen muss. Nicht alles können wir alleine erreichen, aber wir sind immer alleine damit, die Menschen, deren Unterstützung wir brauchen zu erreichen. Sie zu bewegen, uns zu folgen, oder gar uns voran zu gehen kann der schwerste Teil einer Aufgabe sein, aber es kann auch der Teil sein, der für alle am Lohnenswertesten ist.

Nicht immer kennen wir unsere Mitstreiter und manchmal glauben wir nur, sie zu kennen, aber wir lernen zu erkennen, dass sich ein zweiter Blick oft lohnt, denn manchmal verbergen sich ganz erstaunliche Menschen hinter den gewöhnlichsten Fassaden.

Minerva McGonagall saß an ihrem Schreibtisch und tippte mit der trockenen Feder auf ein leeres Stück Pergament. Ihr Blick war hochkonzentriert, ihre Miene streng und sie schien nicht zu merken, dass das Tippen der Feder einem unhörbaren Rhythmus folgte.

Ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu der Erinnerung in dem Denkarium. Sie war zutiefst erschüttert über das, was sie dort gesehen hatte. Die Intensität, die schmerzhafte Verzweiflung der Interaktion dieser beiden Männer hatte sie bis in ihr Innerstes berührt. Sie hatte sich die Erinnerung wieder und wieder angesehen, solange, bis sie eine erneute Wiederholung nicht mehr ertragen hätte.

Es war ein tiefes Verstehen gewesen, was sie aus dieser Szene erfahren hatte und dieses Verstehen hatte einen schrecklichen Schmerz in ihr ausgelöst. Es war fast nicht vorstellbar, was die Beiden ertragen hatten, was der eine noch ertragen musste und doch hatte man weder dem einen noch dem anderen je etwas davon angemerkt.

Zum ersten Mal in ihrem von Wissen und Lehre geprägten Leben begann sie den Sinn des Satzes „Zu viel Wissen kann auch belasten" zu begreifen. Sie wünschte sich aus tiefstem Herzen, es hätte einen leichteren und weniger schmerzvollen Weg für sie alle gegeben, diese Lektion zu lernen.

Aber nun war es, wie es war und es galt, das Beste daraus zu machen. Sie straffte sich und betrachtete das Muster aus winzigen Löchern, das die Feder auf dem Pergament hinterlassen hatte. Sorgfältig zerriss sie es und zog ein neues hervor, auf dem sie zu schreiben begann.

Werter Professor Snape,

Sie stockte, dann schüttelte sie leicht den Kopf. Er war kein Lehrer mehr an dieser Schule und diese Anrede könnte von ihm als höhnische Stichelei gewertet werden. Es wäre fatal, wenn er dadurch von vorneherein in eine ablehnende oder defensive Haltung gedrängt würde, denn das, was sie ihm schreiben wollte, war ohnehin schwer genug für ihn anzunehmen.

Sie legte das Pergament zur Seite, nahm ein neues zur Hand und begann wieder.

Lieber Severus,

Sie hielt inne und starrte auf die Worte, die Feder schwebte nur Zentimeter über dem Blatt.

Wie sollte sie es ihm begreiflich machen, wie konnte sie einerseits sein Vertrauen erlangen und ihn andererseits auch bewegen weiter zu machen. Weiter zu machen, da, wo jeder andere Mensch schon längst aufgegeben hätte, wo jeder andere Mensch wahrscheinlich zusammengebrochen wäre.

Wie konnte man von ihm verlangen alles zu ertragen, nur um am Ende die Verachtung und den Hass seiner Mitmenschen zu ernten.

Sie schüttelte den Kopf, zerknüllte das Pergament und begann erneut.

Nach einer halben Seite verharrte sie wieder. Es schien nicht passender zu werden, nur weil sie es umformulierte und so begann sie wieder zu überlegen.

Langsam legte sie die Feder beiseite und griff nach ihrem Zauberstab. Mit ruhigen, konzentrierten Bewegungen verwandelte sie eines der filigranen Instrumente aus Dumbledores Nachlass in eine Teetasse. Mit einem Seufzen musterte sie die Tasse, dann wiederholte sie den Vorgang mit einem anderen Instrument.

Wieder atmete sie tief ein, als sie versonnen das Royal Worcester Muster auf der Tasse betrachtet. Verwandlungen waren so enorm entspannend.

Sie fuhr fort und nach neunzehn weiteren Tassen hatte sie ihren Geist geordnet und ihre Gedanken gesammelt.

Sie warf einen letzten, leicht bedauernden Blick auf das Tassensortiment, in dem nun so gut wie jedes klassische Teeservice-Design vertreten war und mit ein paar zielgenauen Bewegungen ihres Zauberstabs brachte sie alles in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

Dann wandte sie sich mit neuer Energie ihrer Aufgabe zu.

Ihre Feder in der rechten Hand, rückte sie das Pergament zurecht und dachte nach.

Sie kannte diesen Mann die längste Zeit seines Lebens, sie hatte den mürrischen und verschlossenen Jungen gesehen, den brillanten, aber zynischen jungen Mann und den verbitterten und zornigen Erwachsenen. Aber all diese Personen verband der gleiche Geist, die gleiche Seele und die musste sie erreichen.

Sie musste ihm Freundschaft und Vertrauen anbieten und sie musste es so schaffen, dass er es annehmen konnte. Und genau da sah sie das Problem, denn so, wie sie ihren Kollegen kannte, waren das zwei Dinge, die er nicht von Jedermann annehmen würde.

Andererseits war sie nicht Jedermann und schon gar nicht mehr, nachdem sie nun Dumbledores Augenzeugin geworden war. Sie musste nur noch einen Weg finden, ihm das zu vermitteln, aber je mehr sie darüber nachdachte, je mehr sie versuchte, sich auf ihn einzustellen, desto klarer wurde ihre Vorstellung von dem, was ihn bewegen konnte.

Sie holte tief Luft und begann erneut zu schreiben. Diesmal pausierte sie nicht, sie schrieb ohne Unterbrechung Seite um Seite, Blatt um Blatt, bis sie schließlich die Feder beiseite legte, den gesamten Text noch einmal las und dann alle Blätter sorgfältig in ein Kuvert schob.

Und so schwer es auch sein mag, einen Anderen mit sich zu nehmen, so bewahrt es uns doch vor dem, was wir am meisten fürchten: der Einsamkeit auf unseren Wegen. Und dafür sind wir bereit ungeheure Leistungen zu erbringen.