Kapitel 10: Mut

Wir alle fürchten uns. Wir haben Angst vor der Dunkelheit und vor dem, was wir nicht kennen. Wir haben Angst davor, was die Zukunft und bringen könnte und davor, uns den Herausforderungen des kommenden Tages zu stellen.

Wir bewundern Menschen, die scheinbar keine Angst haben. Wir bewundern ihre aufrechte Haltung, der Gefahr zum Trotz, sich ohne zu zögern dem Sturm entgegen zu stellen. Wir bewundern die Sicherheit, mit der sie dem Schicksal entgegensehen, auch wenn sie wissen, dass es kein gutes Ende geben kann. All dem zum trotz gehen sie voran, unbeirrt und ohne einen Blick zurück auf die Sicherheit, die sie aufgegeben haben. Unbeirrbar gehen sie auf das unausweichliche Ende zu, als würden sie keine Angst kennen.

Lange stand Severus Snape mit geschlossenen Augen da, bis er seine Empfindungen wieder unter Kontrolle hatte. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick sofort wieder auf den Stapel der Briefe.

Er starrte auf die letzten beiden Briefe, die er ohne eine Pause hintereinander weg gelesen hatte. Gefühle, Gedanken und Bilder aus seiner Kindheit stürmten auf ihn ein.

Gerade diese beiden letzten Briefe stammten aus einer Zeit, an die er sich sehr gut erinnerte.

Und dennoch…

Waren seine Erinnerungen so verfälscht? Hatte er wirklich ein solch anderes Bild der Wirklichkeit aufgebaut?

Und wenn ja, wann? War es ihm von Anfang an so vorgekommen, wie er es erinnerte? Oder hatte sich sein Bild von den Vorfällen erst im Laufe der Zeit gewandelt?

Ein leises Stöhnen kam aus seiner Kehle, aber er schien es nicht zu merken. Er senkte den Kopf, stützte die Stirn in seine Handflächen und versuchte nachzudenken.

Es stimmte, seine Mutter war eine harte Frau gewesen, streng und unbeugsam, aber er hatte sie bewundert für ihre Fähigkeiten, für ihr Können. Sie war kein Mensch, von dem man Liebe oder Herzlichkeit erwarten würde, aber er hatte sie trotzdem geliebt und verehrt.

Seinen Vater aber hatte er verachtet, gehasst hatte er ihn für seine Schwäche, dafür, dass er niemals ein Vater gewesen war.

Er erinnerte sich wie aus heiterem Himmel wieder an die schlimmsten Momente seiner Kindheit. Es hatte sich so sehr gewünscht, sein Vater würde ihn beschützen vor der unbändigen Wut seiner Mutter. Aber der lag nur am Boden, wie ein Wurm und wand sich unter irgendwelchen Flüchen, die sie immer wieder auf ihn anwendete. Ein wirklicher Vater hätte wäre aufgestanden und hätte sich gewehrt.

Ein wirklicher Vater hätte sich und seinen Sohn verteidigt.

Ein wahrer Vater wäre für ihn da gewesen.

Er dachte an die Momente, wenn seine Großeltern den Mann ihrer Tochter erniedrigten und er es mit gesenktem Kopf ertrug. Ein Mann wäre aufgestanden und hätte sich gewehrt, aber der Wurm tat nichts.

Langsam tauchten diese lange verdrängten Bilder und die Gefühle von Furcht, Abscheu und Einsamkeit wieder auf und sein Hals fühlte sich an, als würde ein riesiger unzerkauter Brocken darin stecken.

Trotzdem ließ er es zu, wie all diese Bilder, Szenen und Gefühle an die Oberfläche schwemmten und er ließ zu, wie sie sich entfalteten und ihre eigene Geschichte erzählten. Seine Sicht, seine Geschichte.

Die Gefühle eines Kindes, das nicht verstehen kann, warum seine eigene Machtlosigkeit sich auch in seinem Vater widerspiegelte, warum die Welt ihm keinen Vater gegeben hatte, der stark und mächtig war.

Sein Hass und seine Verachtung waren gewachsen, er konnte nicht den Zeitpunkt benennen, an dem er aufgehört hatte, anders über seinen Vater zu denken. Es war etwas Deprimierendes in dieser Erkenntnis, dass er nicht einmal wusste, wann der Punkt ohne Wiederkehr gewesen war.

Eine namenlose Trauer erfasste ihn, als er den Verlust seines Vaters begriff, eines Vaters, den er nicht gekannt hatte und den er niemals hatte kennen wollen.

Aber sein brillanter Verstand erkannte trotz aller Verwirrung und Trauer die tiefe Ironie seiner Situation. Er hatte vor langer Zeit seinen Vater verloren, durch seinen eigenen Willen, weil er ihn nie kennen lernen wollte, weil er niemals hinterfragen wollte, wer sein Vater wirklich war.

Dann war eine neue Vaterfigur in sein Leben getreten, ein Mentor, dessen Weisheit, Humor und Freundlichkeit, aber auch Strenge und Fairness all das verkörperte, was man sich von einem Vater wünschen konnte. Auch ihn verlor er durch seine eigene Hand.

Und nun war sein eigener Vater wieder in sein Leben getreten, gerade, als der Verlust des Mentors unerträglich zu werden schien. Wenn auch nicht als Person, so doch auf eine Art, mit der er niemals gerechnet hätte.

Noch einmal sah er auf den letzten Brief, in dem sein Vater all seinen Hoffnungen für die Zukunft seines Sohnes Ausdruck verliehen hatte und er spürte einen krampfhaften Schmerz in seiner Brust. Falscher hätte Tobias nicht liegen können mit seinen Vorraussagen.

Und trotzdem, da war noch mehr in diesem letzten Brief. Er hatte so viele Fragen in ihm aufgeworfen.

Es kam ihm fast vor, als wäre sein ganzes Leben nur noch eine einzige Frage.

Und ein Gedanke formte sich aus all diesen Fragen heraus. Albus Dumbledore war auch so ein Mensch gewesen, der daran geglaubt hatte, dass das Leben immer neue Chancen bot und dass man sich mit jeder neuen Entscheidung, die man angesichts einer neuen Chance traf, immer wieder neu definierte. Er hatte es dem Jungen Severus oft genug gesagt, wenn es wieder einmal Ärger gegeben hatte, weil der verfluchte Haufen Gryffindors es wieder einmal geschaffte hatte ihn und seine Kameraden als Schuldige eines Vorfalls aussehen zu lassen.

Er starrte auf den Brief in seiner Hand und seine Gedanken wanderte zurück zu der Zeit, als er die Schule, die für ihn zum größten Teil ein dauernder Alptraum aus Kämpfen und Demütigungen gewesen war, verlassen hatte.

Am Ende seiner Schulzeit, nach den Abschlussprüfungen hatte man ihm angeboten, seinen Namen zu ändern, den Namen der Familie seiner Mutter anzunehmen. Sein Vater galt offiziell als tot und er hatte einen Brief des Ministeriums bekommen, in dem ihm erklärt wurde, diese Tatsache und seine Volljährigkeit gäben ihm nun das Recht, zu entscheiden, welchen Namen er in Zukunft tragen würde. Das Formular für den Antrag auf Änderung des Familiennamens war beigelegt, als hätte irgendjemand den Vorgang schon eingeleitet. Er hatte das Angebot lange erwogen, aber er hatte es niemals angenommen, nicht einmal wirklich abgelehnt, er hatte einfach die Papiere weggelegt und unbewusst die Entscheidung darüber vor sich her geschoben.

Als hätte er unbewusst verhindern wollen, diese Wahl überhaupt treffen zu müssen. Und so schob er es vor sich her, bis er es eines Tages vergessen hatte.

Jetzt erinnerte er sich wieder und nun fühlte er ein eigenartiges Gefühl, wie leichten Triumph in seinem Bauch. Es war nur ein kurzer Moment, aber es war, als hätte er einmal etwas richtig gemacht.

Ein leises Pochen am Fenster ließ ihn auffahren. Ein brauner Waldkauz saß auf dem Fenstersims und starrte herein. Snape ging zum Fenster, öffnete es und ließ den Vogel herein. Er hopste auf die Fensterbank und streckte ihm ein Bein entgegen. Snape nahm den Brief und ließ den Vogel wieder hinaus.

Er ging einige Schritte in den Raum zurück, den Brief in der Hand, ohne ihn anzusehen. Fast schien es, als fürchte er sich davor. Aber schließlich sah er auf das Papier.

Erstaunen machte sich in seinem Gesicht breit, er wusste zwar nicht, womit er eigentlich gerechnet hatte, aber die bekannte Schrift von Minerva McGonagall war sicherlich am weitesten davon entfernt, was er sich vorgestellt hatte.

Er überlegte einen Moment, was konnte die Schulleiterin von ihm wollen?

Unterrichten sollte er sicher nicht wieder, ein bitteres Lachen, das mehr wie ein Schnauben klang, kam über seine Lippen.

Oder wollte sie ihn anklagen? Ihn auffordern, sich dem Ministerium zu stellen und seiner Verurteilung als Mörder entgegen zu treten?

Er starrte weiter auf den Brief und war sich nicht einmal sicher, ob er ihn überhaupt öffnen wollte.

Eine lange Zeit stand er einfach nur da, sah auf den Brief und rang mit sich. Es würde nichts ändern, wenn er ihn einfach ins Feuer warf. Es würde ohnehin keine Vorwürfe geben, die er sich noch nicht selber gemacht hatte, es könnte auch keine Bestrafung härter sein als die, die er sich selber auferlegte.

Und plötzlich, wie aus einem abgelegenen Teil seines Geistes kam ihm ein Gedanke.

Hatte er nicht eben gerade schmerzlich gelernt, dass die Dinge nicht immer so waren, wie man es annahm? War ihm nicht eben erst bewusst geworden, was geschehen konnte, wenn man die Stimmen der anderen ignorierte?

Hatte er nicht gerade Briefe gelesen, die er auch eigentlich hatte vernichten wollen? War er nicht all die Jahre sicher gewesen, zu wissen, was in ihnen stand, dass sie voller Hohn, Abscheu und Verachtung sein müssten? Dass sie eine Geschichte erzählen würden, die er zu kennen glaubte?

Er sah wieder auf den Brief von McGonagall. War es nicht vielleicht endlich an der Zeit aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?

Er nahm wieder den Brieföffner zur Hand, öffnete den Umschlag und begann zu lesen. Sein Gesicht konnte nicht mehr Unglauben und Verwunderung ausdrücken, als schon zuvor bei dem Stapel der Briefe.

Er las den Brief genau vier Mal, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich mit jedem Durchgang. Am Ende glomm Furcht und Trauer in seinen Augen auf, aber sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Entschlossenheit.

Er legte ihren Brief zur Seite, nahm des Stapel der alten, vergilbten Briefe, legte sie sorgsam zusammen und ging mit ihnen zurück in den ersten Stock des Hauses.

Im Arbeitszimmer seines Vaters packte er sie zurück in das Geheimversteck und verschloss es.

Es würde lange dauern, bis er lernen würde, mit dieser neuen Geschichte zu leben, bis er diesen unbekannten Vater einen Teil seiner Vergangenheit werden lassen könnte, aber das musste warten.

Jetzt gab es erst einmal Wichtigeres zu tun.

Severus Snape machte sich auf dem Weg das zu tun, was er schon immer hatte tun müssen und was er immer wieder tun würde, solange, wie es nötig war.

Aber wenn wir sehr genau hinsehen, erkennen wir, dass es nicht die Abwesenheit von Angst ist, die diese Menschen auszeichnet, sondern vielmehr die Erkenntnis, was richtig ist, trotz aller Angst. Sie haben erkannt, dass es ein Schicksal für sie gibt und vor ihrem Weg liegt die Akzeptanz dieser Bestimmung. Und erst, wenn sie die erreicht haben, gewinnen sie die aufrechte Haltung und den unbeirrbaren Mut zu tun, was zu tun ist.

Und das ist etwas, das jeder von uns könnte…

Ja, wir bewundern die Mutigen, denn ganz tief in uns drinnen hoffen wir, dass auch wir irgendwann diese Kraft finden werden, die es möglich macht, die Angst zu überwinden und jeden Weg zu gehen, der nötig ist.