Kapitel 1: Die Unbekannte

D'Artagnan und seine drei Freunde - die "Unzertrennlichen" - zogen wie sooft durch die Straßen. Nur war es ungewöhnlich, dass d'Artagnan – im Gegensatz zu seinen Freunden – den Kopf gesenkt hielt und eher schlecht als recht aufrecht stand. Porthos, der größte und auch kräftigste der Freunde, konnte sich ein süffisantes Schmunzeln nicht verkneifen.

"Ich hab Euch doch gesagt, dass Ihr gegen mich beim Trinken den Kürzeren zieht" sagte er nicht ohne Stolz und er schien noch um ein paar Zentimeter zu wachsen.

"Ihr habt ja auch geschummelt, Porthos …" fügte Aramis, nicht ohne Porthos dafür strafend anzusehen, hinzu und freute sich insgeheim über Porthos empörtes Schnauben.

"Bitte, schweigt doch endlich, meine Freunde, mir zerbricht der Schädel" unterbrach d'Artagnan die offenbar aufkeimende Diskussion, die sich wohl zwischen den beiden Musketieren entwickeln würde. Aramis schien kurz verführt, nachzusetzen und zu erwidern, D'Artagnan sei selbst Schuld an seiner misslichen Lage, doch dann gewann der Gedanke, dass es ganz und gar nicht mit der christlichen Nächstenliebe vereinbar war, seinen armen Freund so aufzuziehen.

So gingen die vier schweigend weiter, und D'Artagnan sprach die Befürchtung aus, die sie alle – besonders Porthos – insgeheim hatten.

"Ich fürchte, wir haben bald gar nichts mehr zu tun. Das wird ein ebenso monotoner Tag wie die letzten 7, meine Freunde."

Porthos nickte zustimmend.

"Entweder der Kardinal hat keine Lust mehr, sich mit uns herumschlagen zu müssen … oder … " ein leichtes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.

"Oder was" fragte Aramis, der schon ahnte was Porthos sagen wollte.

Statt einer Antwort räusperte sich Porthos auf eine Art und Weise, die ziemlich deutlich machten, dass er den ab und an auftauchenden Gerüchten, der Kardinal würde das Zölibat nicht ganz so ernst nehmen, durchaus glaubte.

"Ich glaube Seine Eminenz hat besseres zu tun, Porthos" warf Athos ein, und sein Tonfall verriet, dass ihn dieses Tratschen über das Privatleben des Kardinals langweilte.

"Ach, gibt's den was besseres als den Tag mit schönen Damen zu verbringen" fragte Porthos entrüstet und stemmte die Hände in die Hüften.

Bevor ihm jemand darauf eine Antwort geben konnte, wurde die Aufmerksamkeit der Vier abgelenkt.

"Verzeihung, Messieurs, könntet Ihr mir wohl weiterhelfen?"

Eine samtige, weiche Frauenstimme war hinter ihrem Rücken zu hören, und sie klang so bezaubernd, dass einem unserer vier Freunde das Herz beinahe stehen blieb, und er sich Mühe geben musste, nicht wie vom Teufel gejagt herumzudrehen und als Retter in der Not der Dame beizustehen. So der drehte er sich, genau wie seine drei Freunde um und betrachtete die junge Frau, die, auf dem Rücken einer weißen Stute sitzend, zu ihnen gesprochen hatte. Sie trug ein langes rotes Kleid, das jedoch zum Teil unter einem schwarzen Kapuzenmantel versteckt war. Ihr Gesicht war nicht sehr gut zu erkennen, aber was unser Musketier (seinen Namen werde ich dem werten Leser noch nicht mitteilen, der Spannung wegen) sehen konnte, bestätigte nur seine Annahme. Ihre blasse Haut war wunderschön, und unter der Kapuze waren ein scheues Lächeln und eine feine Stupsnase zu erkennen.

"Madame, wie können wir Euch zu Diensten sein" fragte Athos in seinem gewohnt höflichen Tonfall, und zog dabei seinen Hut. Seine Freunde die es ihm gleichtaten, blickten ebenfalls neugierig zu der Dame hinauf.

"Ich war so lange nicht mehr in Paris, und ich fürchte, ich habe mich verlaufen." Ihre Stimme klang unschuldig, jedoch keineswegs naiv oder einfältig.

"Wohin dürfen wir Euch geleiten" fragte Aramis, mit einer leichten Verneigung.

Die junge Frau sah sich um, und zog dann die Kapuze etwas aus dem Gesicht, so dass man sie auch im Flüsterton verstand.

"Messieurs, würdet Ihr mir bitte sagen, wie ich zum Palais Seiner Eminenz komme?"

Unserem Musketier, dem die Stimme der Dame das Herz so erwärmte, war, als hätte man ihm einen Schlag in den Magen verpasst. Diese bezaubernde Dame im Palais des Kardinals! Zu gern hätte er gewusst, was sie dorthin führte, aber es wäre mehr als unhöflich gewesen., eine so indiskrete Frage zu stellen.

"Nun, Madame, unser Weg führt uns am Palais des Herzogs vorbei, Ihr könnt uns also gerne begleiten" sagte Athos und nickte der Dame zu.

"Messieurs, dafür bin ich Euch Dank schuldig, das werde ich Euch nicht vergessen" sagte sie in einem wirklich bezaubernden Tonfall und lächelte die vier nacheinander an. Wir können uns vorstellen, dass die Seele eines Musketiers Luftsprünge veranstaltete, als er ihr Lächeln sah. So rückten die vier Freunde ein wenig auseinander und ließen die Stute zwischen sich.

Begleitet von vier Edelleuten – zwei jeweils auf einer Seite – zog die junge Dame einige Blicke auf sich, und unsere Freunde wurden ständig von einem leisen Tuscheln und Flüstern begleitet.

"Ist es noch weit?" fragte die Dame, die durch den offenbar schon etwas langen Ritt etwas müde wirkte.

"Wollt Ihr erst rasten, Madame?" fragte Porthos fürsorglich.

Sie schüttelte dankbar den Kopf. "Nein, mein Besuch duldet keinen Aufschub."

Nach weiteren 10 Minuten verabschiedeten sich die 4 Herren von ihrer Begleitung, die ihn nochmals herzlich dankte und ihre Stute nun auf den Palais zutraben ließ, der sich groß vor ihr abzeichnete. Die vier Freunde sahen ihr noch eine Weile nach – einer etwas länger als seine drei Freunde – und gingen dann ihres Weges. Doch ihre vier Augenpaare waren nicht die einzige, die die Dame hinter den Toren des Palais verschwinden sahen, und da der beiläufige Beobachter jemand war, der nichts für sich behalten konnte, und seine Ehefrau noch schlimmer war, wusste bald halb Paris von der geheimnisvollen, halb verhüllten Frau, die offenbar Seiner Eminenz einen Besuch abstattete.

Die junge Unbekannte hatte derweil einem der Wache haltenden Gardisten einen Brief übergeben, mit dem Wunsch, diesen sofort dem Kardinal zuzustellen. Der Gardist runzelte zwar die Stirn, erfüllte der Dame aber dennoch ohne Zögern ihren Wunsch.

In seinem Arbeitszimmer hatte sich die Laune des Kardinals nicht verbessert. Seine Kopfschmerzen hatten sich nicht verzogen, und wenn er mit sich selbst nicht so streng gewesen wäre und sich selbst ab und an an seine Pflichten erinnert hätte, hätte er nur zu gerne Arbeit Arbeit sein lassen und Geist und Körper geschont.

Es klopfte an der Tür, und Richelieu war, als hätten diese Schläge nicht der Tür, sondern seinem Kopf gegolten. Er atmete einmal tief durch und nahm wieder die würdevolle, seelenruhige Miene an, die für ihn so charakteristisch war. Sie drohte jedoch ernsthaft, in sich zusammengefallen, als ihm der Gardist den Brief übergab und sagte, eine junge Dame hätten ihn abgegeben. Der Herzog war einen beiläufigen Blick auf den Umschlag und das Siegel, mit dem er verschlossen war. Das Symbol ließ ihn stutzen, und so öffnete er wortlos den Brief. Er hatte kaum die ersten Zeilen gelesen, als er aufblickte.

"Bringt die Dame her und sorgt dafür, dass ihr Pferd versorgt wird. Sofort."

Der Gardist ließ den Kardinal mit einer leichten Verneigung allein. Letzterer war aber bereits in den Brief vertieft. Seine Miene veränderte sich nicht weiter, und als es erneut klopfte und der Gardist die junge Dame einließ, saß der Kardinal aufrecht wie immer, und mit der selben regungslosen Miene hinter seinem Schreibtisch, die Augen auf seine Besucherin gerichtet. Sie drehte sich langsam um und zog die Kapuze aus dem Gesicht. Dem Kardinal sah ein Paar grüner Augen entgegen, das mit den Augen, die unsere vier Freunde von ihr kannten, nichts mehr gemein hatten. Sie strahlten eine natürliche Kühle aus, und wer sich die beiden Gegenüber nacheinander ansehen würde, würde feststellen, dass die Augen der Dame genauso streng forschend sein konnten wie die Seiner Eminenz. Eine Weile herrschte Stille zwischen den Beiden, und keiner schien das Schweigen brechen zu wollen.

"Es spricht für Euch dass Ihr euch noch wagt, mir unter die Augen zu treten. Oder sollte ich besser sagen, es zeugt von Eurer Unverschämtheit?"

Die Mundwinkel der Dame schienen kurz nach oben zucken zu wollen.

"Unerschämtheit? Ihr solltet Euch geschmeichelt fühlen …" gab sie stattdessen als Antwort, in ebenso kühlem Tonfall wie er. Sie verschränkte die Arme, und gab dadurch ihrer Absicht, das Zimmer nicht sobald zu verlassen, Ausdruck.

"So stur wie eh und je, ich sollte die Hoffnung, dass Ihr euch noch zum Guten ändert, endgültig aufgeben" erwiderte der Herzog von Richelieu, wies aber auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
"Ihr wisst doch dass ich ein hoffnungsloser Fall bin" sagte sie mit einem Schmunzeln, nahm seine Einladung an und setzte sich. "Aber ich bin nicht hier um über alte Zeiten zu plaudern. Es geht um wichtigeres." Sie blickte zum Brief, und dann wieder ihren Gegenüber an, als würde sie eine Antwort erwarten. Doch der Kardinal schwieg beharrlich.

"Es ist mir Ernst, Eminenz!" sagte sie, etwas lauter als zuvor, und ein zufriedenes Lächeln huschte über das Gesicht des Kardinals, als er sah, dass sie ihre Ruhe zuerst verloren hatte.

"Dann erzählt, was Euch so ernst ist … " sagte er schließlich, lehnte sich zurück und machte sich auf eine lange Erzählung gefasst.

Derweil kreisten die Gedanken des armen Musketiers noch immer um die schöne Unbekannte, der er begegnet war, nicht ahnend, dass es bald ein Wiedersehen mit der Dame geben würde. Doch da ihm die Chancen, ihre Stimme je wieder zu hören, so gering vorkamen, dass ihm das Herz schwer wurde, griff er wortlos nach der Weinflasche und trank. Und es sollte nicht die letzte Flasche sein.