Kapitel 3: Handschlag mit dem Feind?
Rochefort klopfte sich wortlos den Staub von seiner Kleidung und steckte seinen Degen weg. Das Duell mit dem jungen Musketier würde noch warten müssen, es gab jetzt wichtigere Dinge. Der Graf war in der Lage, seine persönlichen Rachegefühle und seinen Stolz seiner Pflicht unterzuordnen, und die Pflicht gebot ihm jetzt, Seiner Eminenz Bericht zu erstatten. Der Einzige, der dafür kein Verständnis zu haben schien, war d'Artagnan. Und so ließ dieser nicht von Rochefort ab und folgte ihm, bis sich der Stallmeister des Kardinals vor dem Palais seines Herrn herumdrehte.
"So wenig es Euch gefallen mag, hier trennen sich unsere Wege."
D'Artagnan kochte vor Wut, und ein wütender Gascogner ist dickköpfiger als es sonst jemand sein könnte.
"Versteckt Ihr Euch vor mir?" fragte er schneidend und stemmte, um etwas größer zu wirken, die Hände in die Hüften.
Rochefort drehte sich um, musterte den Musketier von oben bis unten, und wandte sich ab.
"Wir beenden unser Duell bei Gelegenheit, aber so wie Ihr eilt, wenn der König Eurer Hilfe bedarf … so muss ich meine persönlichen Interessen hinter die Seiner Eminenz stellen. Chevalier … " Rochefort deutete eine leichte Verneigung an und verschwand dann im Palais, und ließ einen etwas verdutzten d'Artagnan zurück, der beschloss, hier auf seinen Gegner zu warten und ihn nicht entkommen zu lassen. Also setzte sich der Gascogner unter die große Eiche, die lange Schatten warf und wartete geduldig.
Die schöne Unbekannte hatte Paris längst hinter sich gelassen und auch die letzten Dächer der Stadt waren nicht mehr zu sehen. Sie war noch immer wütend, sie umklammerte die Zügel ihrer Stute so krampfhaft, dass die Knöchel an ihrer Hand weiß hervortraten. Diese Demütigung, diese grausame Erinnerung. Ihr Oberarm brannte wieder wie Feuer, der Geruch von verbranntem Fleisch – IHREM Fleisch – war wieder präsent und verursachte ihr Übelkeit. Längst verdrängte Bilder tauchten wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Wie sie von ihren Peinigern auf die Knie gezwängt worden war, und man ihr das einfache Kleid an der rechten Schulter einfach wegriss. Sie hörte das Zischen des glühenden Eisens noch bevor sie den Schmerz verspürte, sie presste die Zähne aufeinander, um nicht schreien zu müssen. Sie biss sich die Lippen blutig, und dann glaubte sich plötzlich aus den Augenwinkeln eine rote Soutane erkannt zu haben. Er war also, so glaubte sie, hergekommen um der Brandmarkung beizuwohnen. Diese Feststellung drängte sie noch mehr, sich zu beherrschen. Sie wollte ihm nicht dieses Lächeln der Genugtuung ins Gesicht treiben, indem sie vor Schmerzen schreien würde. Es war seine Rache. Seine persönliche Rache weil sie …
In diesem Moment wurde sie wieder in die Realität zurückgerissen, als sie hinter sich einen zweiten Reiter hörte. Sie musste sich nicht umsehen, sie wusste, wer er war. Als der Fremde – eine ausnehmend gute Erscheinung von großer Gestalt – mit ihr auf Augenhöhe war, drehte sie ihm den Kopf zu.
"Wie hat er reagiert?" fragte der junge Mann, der kaum älter schien als die Frau.
"Genau so wie du erwartet hast. Du hättest sein Gesicht sehen sollen als ich in seinem Zimmer stand" erwiderte sie mit einem zufriedenen Lächeln.
"Ich wusste doch dass meine kleine Schwester mit dem Herrn Minister umgehen kann" sagte er lächelnd und legte eine Hand auf die ihre.
"Er bezahlt für alles, was er getan hat, Schwesterherz. Er bezahlt für das, was er dir angetan … und dieser durchtriebene Musketier bezahlt ebenfalls."
Man hätte an ein Liebespaar denken können, wenn man die beiden Geschwister Hand in Hand über die Ebene galoppieren sah.
Unser junger Musketier war derweil noch immer hellwach und saß unter der Eiche, regungslos und mit dem Drang kämpfend, aufzustehen und Rochefort zu suchen. Doch der schien nun schon eine halbe Ewigkeit bei Seiner Eminenz zu sein, und d'Artagnans Laune besserte sich auch nicht dadurch, dass es nach Regen aussah.
Im Arbeitszimmer des Kardinals herrschte nach Rocheforts Bericht eisernes Schweigen, unterbrochen nur hin und wieder, wenn der Kardinal durch ein nachdenkliches Seufzen zeigte, dass er seinen eigenen komplizierten Gedanken nachhing. Rochefort wartete, den Federhut unter dem Arm, geduldig, und sah sich hin und wieder um, als erwarte er, dass jeden Moment ein Attentäter aus dem Bücherregal hervorspringen würde, um Richelieu zu ermorden. Doch es herrschte weiter Stille, bis der Kardinal, sich wieder gerade aufsetzend, das Schweigen brach.
"Ihr sagt, der junge d'Artagnan war ebenfalls in diesen Anschlag verwickelt" fragte er ruhig.
Rochefort nickte, und fügte hinzu: "Ich habe ihm selbstverständlich nichts bezüglich des Briefes gesagt, Eminenz."
Der Kardinal hob den Blick.
"Wenn Ihr das getan hättet, mein treuer Rochefort, hättet Ihr mich auch bitter enttäuscht."
Selbst dem Grafen, der Richelieu lange und gut genug kannte, erschauderte, doch es war nicht auszumachen ob ihm wegen des Blicks, der ihn traf, oder wegen des recht kühlen Tonfalls so unbehaglich zumute war.
"Schafft mir den Gascogner her" befahl der Kardinal nach einer weiteren Phase des Schweigens und fing den leicht entsetzten Blick seines Gegenübers auf.
"Aber Monseigneur … … " setzte Rochefort an, ohne jedoch weiter zu sprechen.
"Habt Ihr irgendwelche Einwände" kam die prompte Reaktion des Herzogs von Richelieu, der seinen Stallmeister streng fixierte und mit Blicken in seine Schranken verwies.
"Keine, Monsieur le Cardinale" entgegnete Rochefort, verneigte sich und verließ den Raum, nachdem ihn sein Herr mit einem knappen Nicken entlassen hatte.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, verdüsterte sich Rocheforts Miene. Warum Seine Eminenz gerade diesen … diesen vorlauten Gascogner, der doch bestimmt nicht seinen Mund halten konnte, in die Sache mit einbezog, war ihm schleierhaft, doch er verließ, dem Befehl des Kardinals gehorchend, den Palais und traf auf einen durchaus gereizten d'Artagnan.
"Sieh an, Ihr wagt Euch wieder her" rief der Musketier und sprang, den Degen gezogen, auf.
Rochefort quittierte den Übermut seines Gegenübers mit einem schwachen, aber bissigen Lächeln.
"Leider bin ich nicht hier, um unser Duell fortzuführen. Ich bin im Auftrag meines Herrn zu Euch kommen. Er wünscht, Euch zu sprechen."
D'Artagnan schluckte. Die Besuche bei Richelieu waren ihm noch immer als Momente in Erinnerung, in denen er sich unterlegen, manchmal bedroht fühlte. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er dieses Mal völlig unschuldig den Palais betreten würde, und so steckte er seinen Degen wortlos weg.
"Seine Eminenz möchte mich jetzt sprechen" fragte er.
Rochefort nickte knapp, und wies d'Artagnan mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. Trotz allem Optimismus war dem jungen Gascogner doch etwas flau im Magen, als er hinter seinem Duellpartner die langen Gänge des Kardinalspalais durchschritt und von argwöhnischen Blicken der Gardisten verfolgt wurde.
Rochefort klopfte an der Tür zum Arbeitszimmer des Kardinals, öffnete die Tür und zog den Hut.
"Monsieur d'Artagnan ist hier, Eminenz" sagte er, und auf ein Handzeichen des Kardinals hin drehte Rochefort den Kopf zu dem wartenden Musketier und ließ ihn mit einem Nicken eintreten. Der Graf wandte sich zum gehen, wurde jedoch zurückgehalten.
"Ihr wartet im Nebenzimmer, Rochefort" sprach der Kardinal, und erhob sich langsam. Als der junge Gascogner in sein Blickfeld geriet, sandte er einen der Blicke aus, unter dem die mutigsten Männer klein werden. D'Artagnan entging die Warnung keineswegs, trat ein, und verneigte sich angemessen.
"Ich hoffe Ihr befindet Euch wohl, Eminenz. Man sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen" sagte er in höflichem Ton.
"In der Tat, das möchte ich. Zu meinem Befinden kommen wir später, das Eure tut im Moment mehr zur Sache. Ihr liegt im Streit mit dem Grafen de Rochefort?"
D'Artagnan nickte, und nahm mit einem Schaudern war, dass der Kardinal in vom Scheitel bis zur Stiefelspitze musterte, und es traf tatsächlich zu, dass sich jeder, der sich mit diesem Blick konfrontiert sah, am liebsten unter dem Teppich verkrochen hatte.
"Ja, Monseigneur, aber ich hoffe, deswegen habt Ihr mich nicht hergerufen."
Richelieu hob den Blick, lehnte sich zurück und strich über seinen gepflegten Schnurrbart.
"Was glaubt Ihr denn, weswegen Ihr hier steht" fragte er beiläufig und griff nach dem Weinglas, das vor ihm stand.
"Weil jemand versucht hat, Euren Stallmeister und danach mich zu ermorden. Ich möchte nicht unhöflich sein, Eminenz … "
"Ihr seid es meist von Natur aus, Monsieur d'Artagnan, aber da ich im Moment wichtigere Sorgen als Eure Unverschämtheit habe, sprecht weiter" fiel der Kardinal ihm ins Wort, und trank ein wenig Rotwein.
D'Artagnan fühlte sich ertappt und senkte kurz den Blick, nur um dem Kardinal dann wieder, als wolle er seine Aufrichtigkeit beweisen, entgegen zu sehen.
"Wenn nichts weiter passiert wäre, würde sowohl Rocheforts eilige Überbringung dieser Neuigkeit, als auch Euer Interesse an meinem Wohlbefinden keinen Sinn ergeben. Ich gehe also davon aus, dass hinter der Sache mehr steckt."
Der Kardinal setze das Glas ab, erhob sich und trat neben seinen Schreibtisch.
"Ihr habt einen wachen Verstand, und Ihr wisst, dass ich das sehr an Euch schätze. In der Tat, es ist noch etwas anderes passiert, und in Verbindung mit der versuchten Ermordung habe ich mehr als genug Gründe, mit Euch zu reden. Aber bevor ich Euch genaueres erzähle … "
Der Kardinal blinzelte plötzlich, mehrfach, fast schon krampfhaft. Jetzt erst viel d'Artagnan auf, dass Richelieu nicht sehr gesund aussah. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Gesicht war leichenblass geworden. Nach Halt suchend stütze er sich mit einer Hand am Tisch ab, offenbar verließen den Minister nach und nach die Kräfte.
D'Artagnan wirbelte herum, und riss die Tür auf. Ein grübelnder Rochefort schreckte auf, sah das erschrockene Gesicht des Gascogners, hörte ein leises Rumpeln, und eilte mit einer schrecklichen Vorahnung in das Arbeitszimmer Seiner Eminenz. Der Anblick bestätigte leider seine Vermutung: Der Kardinal lehnte, kaum noch bei Bewusstsein, am Bücherregal, atmete nur noch flach, und schien in eine Ohnmacht abzugleiten.
Er nahm alles nurnoch wie durch Watte war, ihm war schwarz vor Augen. "Gift" schoss es dem Kardinal durch den Kopf, und er fragte sich, ob dies seine letzten Minuten auf Erden waren. Sollte er denn jetzt, auf dem Höhepunkt seiner Macht, aus dem Leben scheiden? Ohne die Möglichkeit zu einer letzten Beichte, ohne die Möglichkeit einen Nachfolger zu ernennen?
Gedanklich verabschiedete er sich von seinem weltlichen Leben, betete schweigend. Dann umfing ihn Dunkelheit. Dass Rochefort nach dem Leibarzt Seiner Eminenz rief, nahm letzterer schon nicht mehr war.
