Fraternising with the enemy
Kapitel I
Als Silas am Altar stand,um das Geheimnis zu lösen, war Schwester Sandrine nicht die einzige, die jede seiner Bewegungen verfolgte. Verborgen in den Schatten der Ballustrade stand eine junge Frau, völlig reglos. Nicht der leiseste Atemzug verriet ihre bloße Anwesenheit, sie schien völlig mit dem Schatten verwachsen zu sein, der sie verbarg.
Dinah war ungewöhnlich groß für eine Frau, und sehr schlank. Ihre Figur wurde jedoch von der Kutte aus dunkelbraunem Wollstoff verborgen, die sie trug. An deren Vorderseite war eine breite Schärpe angebracht, die sie von den Schultern abwärts bis zu den Knien bedeckte. Darüber trug sie ein Amulett an einer schweren Metallkette. Es zeigte Ishtar, die gnädige Königin des siebten Stern, umfangen von der Schlange der Weisheit, beide ruhend auf dem Erdzeichen. Ihre halblangen, schwarzen Haare, die sie am hinteren Oberkopf mit einer Haarsträhne zu einen Zopf zusammengebunden hatte, wurden von der Kapuze verborgen, die sie sich über den Kopf gezogen hatte. Ihre außergewöhnliche Erscheinung wurde komplettiert von einer ungewöhnlich hellen Haut und großen, sehr klaren grünen Augen. Sie hatte beobachtet, wie die Schwester den geheimnisvollen Mönch in die Kirche begleitet hatte. Ein Gefühl der Unruhe ergriff Besitz von ihr, daß sie nicht nur auf die späte Stunde des Besuches zurückführte, sondern auf den Besucher selbst.Seine Erscheinung war außergewöhnlich, faszinierend, aber gleichzeitig ging eine Bedrohung von ihm aus, die ihre Sinne auf das höchste alarmierte. Sie hatte früh gelernt, auf ihre Intuition zu vertrauen. Diese hatte ihr in der Vergangenheit mehr als einmal das Leben gerettet.Eine Vergangenheit, an die sie sich nicht mehr erinnern wollte. Und doch spürte sie die ersten Anzeichen jener seltsamen Unruhe in sich aufsteigen, die sie immer überkam, wenn die Erinnerungen ihr Bewußtsein zu beherrschen versuchten.Dinah hatte früh ihre Eltern verloren und war als Waisenkind bei den verschiedensten Pflegefamilien in Paris aufgewachsen, eine schlimmer als die nächste. Als Teenager lief sie endgültig davon undwar schließlichnachLondon gelangt. Nach Monaten der Entbehrungen war sie völlig erschöpft vor dem Seiteneingang eines Hauses zusammengebrochen. Sie erinnerte sich vage daran, das sie von Mönchen gefunden und ins Innere des Hauses getragen worden war.So fand sie Unterkunft und Essen im Londoner Haus von Opus Dei. Die zunächst freundliche Aufnahme, die sie in der Gemeinschaft fand, wurde von der Tatsache getrübt, dass sie sich von Beginn an mit bestimmten Regeln nicht anfreunden wollte. Vor allem das Ritual der Selbstkasteiung, dessen Durchführung von den Frauen in weit stärkerem Maße verlangt wurde als von den Männern, stieß auf ihren entschiedenen Widerstand.Als sich ihr von jeher rebellisches Wesen immer mehr Bahn brach, war über sie eine Totalkontrolle verhängt worden, die vom tagelangen Verbot, das Zimmer zu verlassen bis zur extremen Anwendung der Disziplinierung reichte. Sie trug sich immer öfter mit dem Gedanken der Flucht, die ihr aber durch die totale Kontrolle, unter der sie stand, völlig unmöglich war. Der einzige Ordensbruder, der ihr geholfen hatte, war Darius, der zu dieser Zeit in der Küche arbeitete und ihr ab und zu ein wenig Essen zukommen ließ, obwohl der Kontakt zwischen Männern und Frauen strikt untersagt war. Da aber beide Trakte durch die Küche miteinander verbunden waren, fand sich für ihn immer eine Möglichkeit, das Verbot zu umgehen.
Laß den Schmerz und den Hass keine Gewalt über dich erlangen, versuchte sie sich zu beruhigen. Vergib denen, die sich an dir versündigt haben.
Der Mönch stand mittlerweile halbnackt vor dem Altar und blätterte die Seiten der Bibel durch. Dinah betrachtete schockiert und faziniert die Wunden, die sein alabasterfarbener Körper zeigte. Einige waren noch frisch und bluteten. Dieser Mann hatte sich kurz vor seiner Ankunft hier gnadenlos selbst diszipliniert. Dinah verabscheute dieses Ritual, in ihren Augen war es weder nötig noch sinnvoll, sondern lediglich ein barbarischer Akt der Kontrolle. Ebenso wie das Tragen jenes Bußgürtels, den sie deutlich an seinem rechten Oberschenkel erkennen konnte und von dem kleine blutige Rinnsale an seinem Bein hinabliefen.So scheußlich die Wunden waren, sie stellten den lebhaftesten Beweis dafür dar, wen sie vor sie hatte : einen Abgesandten von Opus Dei.Trotz des ersten Schocks über das Ausmaß der Verletzungen beobachtete sie ihn mit einer Faszination, die sie sich nicht erklären konnte. Sie empfand eine seltsame Mischung aus Abscheu und Mitleid für den ihr völlig unbekannten Mann, der sie innerlich auf eine Art anrührte, die sie nicht in Worte fassen konnte und die sie verwirrte.Der Anblick der Wunden brachte ihr mit einem körperlichen Schock die Schmerzen zurück, die mit ihnen unweigerlich einhergingen. Und die Erinnerung an jene Nacht, in der sie von mehreren Ordensbrüdern auf brutalste Art mit der Geißel bestraft worden war, nachdem sie ein letztes Mal besonders heftig aufbegehrt hatte. Die Verletzungen waren so schlimm, daß sie tagelang zwischen Leben und Tod geschwebt hatte.Durch eine Fügung des Schicksals war zu dieser Zeit geradeBischof Aringarosa im Hause anwesend gewesen. Er war über den Vorfall so erzürnt, das er die verantwortlichen Ordensbrüder des Hauses hatte verweisen lassen. Er hatte dafür gesorgt, daß ihre Wunden versorgt wurden und sie genug zu Essen bekommen hatte. Dinah verdankte ihm ihr Leben und er war es auch, der ihr geholfen hatte, ihre Tante in Paris ausfindig zu machen. Schwester Sandrine war die einzige Familie, die sie noch hatte.Das alles war nun mehr als zwei Jahre her. Dinah hatte bisher nicht den Wunsch verspürt, nach London zurükzukehren. Ihre Wunden waren verheilt, zumindest die körperlichen Und doch empfand sie die Schmerzen für einen Moment so real, daß sei nur mit Mühe einen Aufschrei des Entsetzen unterdrücken konnte.
Genau in diesem Moment sah der Mönch in ihre Richtung zur Ballustrade auf und sie erstarrte. Er schien jedoch davon überzeugt zu sein, daß er sich getäuscht hatte, denn er sah weg, streifte sich die Kutte wieder über und setzte seine Arbeit fort.
Dinah versuchte sich zu beruhigen und den Gedanken an die Schmerzen der vernarbten Wunden zu verdrängen, die ihren ganzen Körper wie grausame Schatten überzogen. Zeugen einer Zeit, die sie überwunden zu haben glaubte.Vor zwei Jahren hatte für sie ein neues Leben begonnen, sie hatte eine Freiheit erfahren, von deren Existenz sie bisher nicht einmal etwas geahnt hatte.
Niemand wird mir das je wieder nehmen, koste es was es wolle. Sie verdankte der Schwester alles und diese hatte sie nicht nur den Glauben gelehrt, sondern ihr auch ein Geheimnis anvertraut, das sie mit niemandem teilen durfte und dessen Schutz wichtiger war als das eigene Leben.Ihre grünen Augen verdunkelten sich einen Moment, als sie zu ihm herabsah. Was immer du suchst, ich werde dafür Sorgen, das deine Suche erfolglos bleibt, mit allen Mitteln. Dinah hatte nur noch ein Ziel vor Augen, sie mußte die Schwester schützen, sie durfte nicht versagen. Ihr war bewußt, daß sie sich beide in tödlicher Gefahr befanden, denn der Mönch würde den Betrug nicht ungestraft lassen. Dinah hatte der Schwester schweren Herzens versprochen, nicht nach Rache zu streben, sondern Vergebung zu gewähren, sollten die Feinde sie töten. Sie ahnte nicht, das sich das Gelübde heute Nacht erfüllen würde.Dinah wußte nicht, wie lange sie in ihren Erinnerungen gefangen auf der Ballustrade versteckt ausgeharrt hatte, aber als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm, waren sowohl die Schwester als auch der Mönch verschwunden. In Dinah stieg eine böse Vorahnung auf und sie rannte so schnell sie konnte zum Zimmer der Schwester.Die Tür stand offen. Sie blieb gegenüber von ihr stehen und beobachtete entsetzt, was sich im Inneren abspielte. Sie sah den Mönch vor Schwester Sandrine stehen, mit einem der schweren Kerzenständer vom Altar in der Hand. Die Schwester sagte etwas zu ihm und das machte ihn wütend, so wütend, das er mit dem Kerzenständer ausholte und die Schwester niederschlug.Dinah hatte das Gefühl, das mit diesem Schlag auch in ihrem Inneren etwas zerbrach, unwiederbringlich und endgültig. Sie wollte ihren Augen nicht glauben, was sie sah, wollte nicht akzeptieren, daß sie nichts tun konnte und wußte doch, daß für die Schwester jede Hilfe zu spät kam.Aus einem ersten Impuls heraus wollte sie in das Zimmer rennen und den Mönch niederschlagen und all ihre Wut, Enttäuschung und den gesamten Schmerz ihres Lebens aus ihm herausprügeln. Doch es war Schwester Sandrine, die sie davon abhielt. Als stünde sie neben ihr, vernahm sie ihre Stimme und hörte die Worte, denen zu folgen sie in diesen Moment so unsagbar schwer fand : Das Geheimnis muß um jeden Preis gewahr werden. Bring dich in Sicherheit, was auch immer geschieht.
Noch bevor sich Dinah stoppen konnte, löste sich ein Schrei aus ihrer Kehle.
Silas drehte sich um und sah in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Er hatte damit gerechnet, allein zu sein, doch nun sah er, daß er sich getäuscht hatte.Ihm gegenüber auf der Ballustrade stand eine weitere Person. Sie war in eine Kutte gehüllt und hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, daß er von seiner Position aus nicht erkennen konnte, ob da ein Mann oder eine Frau vor ihm standDoch das war ihm im Moment gleichgültig, was zählte war die Tatsache, daß er entdeckt worden war und das diese Person wußte, was er getan hatte. Es gab nur einen Weg herauszufinden, wer die Person war.
Dinah blieb reglos stehen und sah in sein Gesicht. Es zeigte Überraschung und Verwirrung, die sekundenschnell einem panischen Entsetzen und einer Entschlossenheit wich, die nichts Gutes erwarten ließ. Sie fragte sich, was für Gedanken hinter diesen zornig funkelnden roten Augen in seinem Kopf kreisten. Sie wollte jedoch nicht abwarten, bis sie es durch seine Reaktion herausgefunden hatte, sondern gab dem natürlichsten Instinkt nach, den die Situation zu bieten hatte: sie ergriff die Flucht, genau in dem Moment, als er kurz den Blick von ihr löste, um den Kerzenständer auf den Boden zu stellen. Dinah hatte keinerlei Bedürfnis, am anderen Ende dieses Zornes zu sein, wenn er eneut losbrach.
Silas wandte für einen Moment den Blick von der Gestalt ab und setzte den Kerzenständer auf dem Boden neben sich ab. Als er wieder aufsah, war der Fremde verschwunden. Er lief aus dem Zimmer unsd sah über die Ballustrade. Die geheimnisvolle Gestalt lief durch die Kirche auf die Kirchentüren zu und verschwand durch sie in die Nacht. Er stöhnte wütend auf.Silas wollte schon hinterherstürzen, überlegte es sich aber doch anders. Wenn er die Kirchentüren erreichte, konnte die Person schon überall sein, und nirgends. Es war im Moment wichtiger, die Situation in der Kirche zu retten, soweit es eben ging. Um die geheimnisvolle Gestalt würde er sich später kümmern.
Dinah rannte aus der Kirche hinaus, die Treppen hinunter und lief um die Ecke in den kleinen Park, der an der Seite der Kirche entlangführte. Sie kletterte rasch auf den nächsten Baum und verschmolz mit den Schatten, die der Baum bot. Von hier aus hatte sie den Vorplatz der Kirche genau im Blick. Sie konnte sehen, wer die Kirche betrat oder verließ, ohne selbst gesehen zu werden.Dinah versuchte verzweifelt, sich in die Gewalt zu bekommen. In ihrem Inneren tobte ein wahrer Sturm an gegensätzlichen Gefühlen, der sie beinahe um den Verstand brachte. Zumal ihr Verstand sich immer noch weigerte, die Geschehnisse zu glauben, deren Zeuge sie Minuten zuvor geworden war . Sie hoffte, daß dies alles nur ein Alptraum war, aus dem sie jede Sekunde erwachen würde, und wußte doch genau, daß sie in einer schrecklichen Realität gefangen war.Dinah schloß die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Du mußt dich beruhigen. Konzentriere dich, versuchte sie sich zur Ruhe zu zwingen. Und doch war da noch etwas anderes, als er sie anblickte mit diesem furchteinflösenden und zugleich so fesselnden Blick, was sie weder völlig verstehen konnte noch genauer erfassen wollte, was sie allerdings umso gründlicher verwirrte.Allmählich wich das Chaos in ihrem Inneren einer angespannten Ruhe. Nun konnte sie nur noch warten.
Silas schloß die Türen der Kirche sorgfältig hinter sich. Er blickte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Der Vorplatz der Kirche war menschenleer. Mit zügigen Schritten kehrte er zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinein. Er blieb reglos sitzen und starrte vor sich hin.
Dinah mußte nicht allzu lange warten. Sie hörte, wie sich die Kirchentüren öffneten und schlossen. Dann sah sie ihn, wie er auf den Stufen stand und den Kirchenvorplatz genau beobachtete. Offensichtlich suchte er nach ihr.Als er niemanden entdeckte, ging er über den Vorplatz und stieg in der Nähe in ein Auto ein und rührte sich nicht.Endlich ließ er den Wagen an und fuhr weg. Als er um die nächste Ecke verschwunden war, nutzte Dinah die Gelegenheit und kam aus ihrem Versteck. Sie lief auf das Seitenschiff der Kirche zu und öffnete eine kleine Geheimtür an der Seitenwand. Sie verschwand im Inneren der Kirche und machte sich auf den Weg zum Zimmer der Schwester. Dort angekommen, öffnete sie die Tür und trat ein.Der Anblick, der sich Dinah im Inneren des Zimmers bot, überraschte sie. Anscheinend hatte der Mönch versucht, so viele seiner Spuren wie möglich zu beseitigen. Der Kerzenständer war verschwunden. Dinah nahm an, daß sie ihn auf dem Altar wiederfinden würde.Doch am meisten überraschte es sie, daß Schwester Sandrine in ihrem Bett lag, mit einer Decke zugedeckt, gerade so als würde sie schlafen. Dinah kniete vor ihrem Bett nieder und betrachtete das gütige Gesicht der Schwester. Sie sah friedlich aus, so als würde sie tatsächlich nur schlafen. Dinah wurde schmerzlich bewußt, daß dies ein Schlaf ohne Erwachen war. Sie war nun völlig allein auf der Welt, das letzte ihr verbliebene Familienmitglied lag tot vor ihr. Dinah schloß die Augen und betete inbrünstig für das Seelenheil der Schwester.Nachdem sie ihr Gebet beendet hatte, suchte sie nach dem Zettel mit den Telefonnummern, von dem ihr die Schwester erzählt hatte. Sie fand ihn in einer Ecke neben dem Bett und machte sich daran, die vier Nummern anzurufen. Das Ergebnis der Telefonate war erschütternd. Sie erreichte nicht eine der Kontaktpersonen. Das konnte nur eines bedeuten: die Identität der Brüder war enttarnt worden und sie waren alle tot. Das Warnsystem hatte versagt. Die kostbare Wahrheit war somit für immer verloren. Dinah schloß die Augen und ein tiefes überwältigendes Bedauern überkam sie.Als sie sich wieder gefaßt hatte, erhob sie sich und verließ mit einem letzten Blick auf die Schwester das Zimmer. Sie schloß die Tür und begab sich ins Nebenzimmer, daß ihr in den letzten zwei Jahren eine neue Heimat gewesen war. Sie holte unter ihrem Bett eine kleine flache Holzschatulle hervor. Aus deren Inneren entnahm sie eine kurzen Holzstab. Sie stellte die Schatulle verschlossen unter das Bett zurück. Den Stab verstaute sie unter der Schärpe zwischen ihrem Gürtel und der Kutte. Sie stand auf und verließ das Zimmer.Dinah schritt über die Empore und eilte den Gang hinunter ins Kirchenschiff. Vor dem Altar blieb sie stehen und entzündetet eine Kerze für die Schwester. Sie hatte einen Entschluß gefaßt und nichts auf der Welt würde sie davon abhalten, ihn in die Tat umzusetzen. Nichts konnte Dinah noch davon abbringen, heute Nacht ihrem Namen alle Ehre zu machen und sich die Gerechtigkeit zu holen, die ihr zustand und die ihr nur jener Mann geben konnte, der ihr in eben dieser Nacht den letzten Halt in dieser Welt auf so grausame Weise genommen hatte.Dinah wußte, daß er wiederkommen würde. Nur dieses Mal war sie vorbereitet. Eine innere Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Dinah war bereit, was immer auch kommen möge.Sie stand mit dem Gesicht zum Altar gewand reglos da, als hinter ihr das leise Knarren der Kirchentür ertönte, als diese geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ein äußerst zufriedenes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht und ihre grünen Augen funkelten kalt und siegessicher im Schein der Kerze.
Silas war losgefahren, ohne so recht zu wissen, wo er hinwollte. Er konnte dem Lehrer so nicht gegenübertreten. Er war getäuscht worden. Und war weiter gegangen, als nötig gewesen wäre. Zu allem Unglück war er auch noch gesehen worden. In dieser Nacht war bisher so ziemlich alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Er mußte wissen, wer die geheimnisvolle Person war. Vielleicht war sie der Schlüssel zu Lösung des Geheimnisses.Silas wendete abrupt und fuhr zur Kirche zurück. Er parkte den Wagen, lief über den Vorplatz und erklomm die Stufen vor dem Haupteingang. Vor den Toren hielt er einen Moment inne, um sich innerlich zu sammeln und den Herrn um Beistand zu bitten. Genau genommen schickte er ein Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte um ein Wunder. Dann ging er auf das Tor zu und legte die Hand auf die Klinke.Die Tür öffnete sich problemlos. Silas war überrascht und betrat so geräuschlos wie möglich das Innere. Er schloß die Tür hinter sich sorgfältig und sah sich um. Die Kirche war noch immer menschenleer und fast schon gespenstig ruhig. Und dann sah er sie.Die geheimnisvolle Gestalt stand am Altar mit dem Rücken zu ihm. Was für eine glückliche Fügung, dachte er triumphierend. Eine unglaubliche innere Erregung erfasste ihn, als er sich langsam durch das Kirchenschiff auf den Weg zum Altar begab.Auf seinem Weg hatte er Gelegenheit, die Gestalt eingehender zu betrachten. Er konnte noch immer nicht genau ausmachen, ob er eine Mann oder eine Frau vor sich hatte. Die Gestalt hatte die Kapuze immer noch auf dem Kopf und war in der Tat sehr groß, wenn auch ein gutes Stück kleiner als er.Doch eigentlich war es Silas egal. Er war gekommen, um sich die Information zu holen, um die man ihn schon die ganze Nacht betrogen hatte. Wie er an sein Ziel gelangte, spielte jetzt keine Rolle mehr. Silas hatte die Gestalt beinahe erreicht und ging schon davon aus, daß er sie unbemerkt überwältigen könnte, als er unvermittelt angesprochen wurde.
„Dies ist ein Haus Gottes, erbaut, Ihn zu preisen, doch Eure Anwesenheit beleidigt Ihn."
Es war eine tiefe und ruhige Stimme, die da erklang, ohne das geringste Anzeichen von Furcht. Silas blieb verwundert stehen. Etwas in dieser Stimme führte dazu, daß sich sämtliche Muskeln seines Körpers anspannten und seine Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurden. In dieser Stimme schwang ein Selbstbewußtsein mit, das einen äußerst bedrohlichen Unterton hatte.
„Und ich bin ein Diener Gottes, der einen Auftrag zu erfüllen hat", entgegnete Silas mit vorsichtiger Entschlosssenheit. Wer immer diese Person war, sie würde ihr Geheimnis nicht kampflos offenbaren. Nun, das sollte ihm nur Recht sein.
„Ein wahrer Diener Gottes verletz nich das oberste Gebot in Seinem heiligen Haus...ungestraft.", kam als Antwort von dem Fremden. Auch wenn er ruhig gesprochen hatte, so konnte Silas doch deutlich den unterdrückten Zorn hearushören, den sein Gegenüber zu beherrschen versuchte.
„Gebt mir, was ich suche und Euch wird kein Leid geschehen.", antwortete Silas fordernd.
Dinah hatte die ganze Zeit reglos vor dem Altar gestanden. Es hatte sie einige Mühe gekostet, ihren Zorn im Zaum zu halten. Sie wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen, sie die Beherrschung verlieren zu sehen. Sie hatte versucht, ruhig zu bleiben, doch jede seiner Antworten stellte eine erneute anmaßende Beleidigung dar, die sie nicht mehr gewillt war, hinzunehmen.Während sie mit ihm sprach, hatte sie den Holzstab, den sie unter ihrer Schärpe trug, vorsichtig gelöst und hielt ihn nun vor seinen Blicken verborgen senkrecht vor sich in ihren Händen. Mit langsamen und geübten Bewegungen ließ sie die einzelnen, miteinander verbundenen Stäbe auseinandergleiten, bis sie eine Kette vor ihr bildeten, die ihr von Brusthöhe an bis zum Boden reichte. Eine leichte Drehbewegung nach rechts am obersten Holzstab setzte einen Mechanismus in Gang, der die einzelnen Holzstäbe fest miteinander verband und nach dem leisen Einrasten der einzelnen Glieder einen langen Holzstab bildete, der in geschickten Händen durchaus zu einer tödlichen Waffe werden konnte.Ihre nächsten Worte wählte sie mit Bedacht, denn ihm sollte klar werden, daß er einen Fehler begangen hatte, als er diese Kirche erneut betrat. Sie sprach leise, aber sehr deutlich, und in ihrer Stimme lag eine Bedrohlichkeit und Eiseskälte, die keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen ließ.
„Was Ihr sucht, werdet Ihr hier nicht finden, doch was ihr bekommt, beendet Eure Suche."
Die Zeit der Abrechnung ist gekommen.
Mit diesen Worten drehte sie sich langsam um und sah ihm in sein Gesicht.
