Kapitel 2

Dinah stand ganz ruhig da und beobachtete ihn, den Holzstab mit beiden Händen festhaltend. Er war größer als sie gedacht hatte, aber das machte ihr keine Angst, im Gegenteil, sie sah es als Herausforderung. Sie wartete darauf, dass er die Initiative ergriff.

Ich bin bereit, was auch immer passiert. Noch hast du die Chance, freiwillig zu gehen.

Silas stand da und wußte nicht so recht, was er mit der Situation anfangen sollte. Die Gestalt stand reglos vor ihm und schien darauf zu warten, dass er in irgendeiner Form reagierte. Ihn verwirrte am meisten der Holzstab, den sie in der Hand hielt.

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Offenbar war hier jemand auf Rache aus. Jedenfalls wußte er jetzt, das er am richtigen Ort suchte. Seine Neugier war geweckt. Was auch immer für ein Geheimnis diese Person verbarg , er würde es herausfinden. Er beschloß, dass er zunächst der Diplomatie den Vorzug geben sollte und sprach sie vorsichtig an.

"Sucht Ihr den Kampf?", fragte er so ruhig wie möglich. Dabei behielt er die Person genau im Auge. Ihm sollte nicht die kleinste Regung entgehen.

"Das liegt ganz bei Euch.", kam als ebeno ruhige wie bedrohliche Antwort zurück. "Geht, und Ihr geht in Frieden. Bleibt Ihr, so trefft ihr Euer Schicksal."

Silas glaubte, sich verhört zu haben. Derart offen war er selten herausgefordert worden. An einer diplomatischen Lösung schien seinem Gegenüber nicht viel zu liegen. Sie stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Ihm lief die Zeit davon, und so beschloß er, die weitere Entwicklung des Geschehens ein wenig zu beschleunigen.

"Ihr wißt, weshalb ich hier bin.", erwidwerte er ungeduldig. "Gebt mir die Information, die ich suche und verschwendet nicht meine Zeit mit leeren Drohungen." Er hatte langsam genug.

"Und ich wiederhole mich ungern. Ich sagte Euch bereits, dass Ihr diese Information von mir nicht bekommen werdet. Eure Suche endet hier. Findet Euch damit ab und geht. Bleibt Ihr, so werdet Ihr für die Sünden bezahlen, die Ihr in diesem Haus begangen habt." Der Tonfall dieser Antwort ließ keinen Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit.

"Sagt wer ?",antwortete Silas provozierend auf diese erneute Herausforderung.

"Das sage ich, Eurer Schicksal." Im nächsten Moment hob die Gestalt den Kopf weit genug, so dass ihr die Kapuze langsam und lautlos auf die Schultern hinabglitt und ihr Gesicht offenbarte.

Silas stockte für einen Moment lang der Atem. Vor ihm stand die außergewöhnlichste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre grünen Augen funkelten so leidenschaftlich, als hätte man in ihnen ein leibhaftiges Feuer entzündet. Ihr Blick war voller Wut und Hass und zeigte einen so entschlossenen Willen, dass Silas instinktiv einen Schritt zurückwich. Gebannt beobachtete er die Gestalt vor seinen Augen, unfähig zur kleinsten Bewegung. Doch am meisten traf ihn die Kälte, die ihm aus diesen schönen Augen entgegentrat. Eine Kälte von solch tödlicher Berechnungund Grausamkeit, die ihm bewußt machte, dass er von ihr keine Gnade zu erwarten hatte, sollte er auch nur den kleinsten Fehler machen.

Silas stand noch immer da und konnte nicht glauben, was er sah, und noch weniger, was er hörte.

"Ich kämpfe nicht mit einer Frau", brachte er verächtlich schnaubend hervor. Was dachte sie, wer sie ist. Sie würde ihn nicht aufhalten können. Jedenfalls versuchte er, sich dies einzureden. Denn ein Teil von ihm bezweifelte dies in zunehmendem Maße. Aber das würde er ihr nicht zeigen. Er richtete sich innerlich auf und versuchte, sich auf das vorzubereiten, was kommen sollte.

Nur offensichtlich zu spät, denn das nächste, was er fühlte, war ein heftiger Schlag gegen seinen rechten Oberschenkel mit dem darunterliegenden Bußgürtel. Der Schmerz, der ihn durchfuhr, war so heftig, dass er ins Wanken geriet. Sie nutzte den Moment der Schwäche aus und setzte mit einem gezielten Schlag gegen den linken Fußknöchel nach, der ihn von den Füßen holte und nach hinten auf den harten Steinfußboden der Kirche fallen ließ.

Sein Versuch, den Sturz mit seinen Armen abzufangen, scheiterte kläglich, so dass er mit dem Rücken aufschlagend zu Boden ging. Der Schmerz raubte ihm fast die Sinne, für einen Moment schloß er die Augen, um nicht aufschreien zu müssen. Als er sie wieder öffnete, war sie auch schon über ihm, die Spitze des Stockes unterhalb seiner Kehle aufgesetzt. Der Druck war stark genug, um ihn am Boden zu halten, und ließ ihm doch genug Freiheit zum atmen.

Dinah stand da und beobachtete ihn. Sie versuchte, die Situation unter Kontrolle zu halten. Doch es war nicht leicht, denn in ihrem Inneren tobte ein Kampf über die möglichen Alternativen, die er zu erwarten hatte.

Er ist unbewaffnet, er hat keine reelle Chance,du bist kein Mörder, versuchte ihr die helle Stimme der Vernunft ins Gewissen zu reden. Er ist ein Mörder, er hat deine Rache verdient, flüsterte ihr die dunkle Stimme der Versuchung ins Ohr. Es wäre so leicht, dieser Versuchung nachzugeben. Ihre Trauer, ihre Wut suchte nach einem Ausweg, brauchte ihn, um zu verarbeiten, was sie miterleben mußte. Doch was brächte es ihr ? Konnte dieser Weg ihr die Genugtuung bringen, die sie suchte ? Sie wußte es nicht. Etwas in ihr hielt sie zurück. Sie konnte und wollte sich nicht mit ihm auf eine Stufe stellen. Sie war nicht wie er. Oder doch ?

Silas sah die Frau an und konnte nur mühsam seine Wut über die Situation unter Kontrolle halten. Ihre grünen Augen funkelten ihn eiskalt und voller Berechnung an.

"Ihr kämpft also nicht gegen Frauen?", fragte sie ihn herausfordernd. "Oh ja, richtig, Ihr tötet sie lieber", setzte sie wütend nach.

Mit den letzten Worten verstärkte sie den Druck auf seine Kehle so sehr, daß er nur mühsam Luft bekam.

"Das geht Euch nichts an", schleuderte er ihr mühsam keuchend und hasserfüllt entgegen.

Silas wollte eigentlich eine Konfrontation mit ihr vermeiden. Doch es schien ihm, als müßte er erneut die Situation auf unangenehme Art und Weise klarstellen.. So viel war an diesem Abend schon schiefgegangen. Auch wenn er wünschte, die Geschehnisse dieser Nacht rückgängig machen zu können, so war dies nun einmal nicht möglich. Wieso nur hatte sich alle Welt gegen ihn verschworen ? Langsam gingen ihm die Erklärungen aus, mit denen er sein Verhalten gegenüber dem Lehrer rechtfertigen konnte.

Selbst wenn er keine Eskalation der Situation riskieren wollte, so würde sie ihn nicht ohne weiteres gehen lassen. Das konnte er deutlich genug in ihren Augen lesen und in ihrem ganzen Verhalten sehen. Sie schien über dass, was sie beobachtet hatte, mehr als wütend zu sein, und Silas konnte sich nicht erklären, wieso. Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden, er würde sie fragen müssen. Allerdings mußte er vorsichtig dabei vorgehen, denn wer weiß, wie lange sie ihm noch die Gelegeheit dazu geben würde.

Dinah hatte ihn da, wo sie ihn haben wollte. Er lag hilflos am Boden, zwischen ihren Beinen, und war ihrer Gnade ausgeliefert. Sie betrachtete ihn, sein schmerzverzerrtes Gesicht, die roten Augen, die sie wütend anfunkelten. Er war sich der Aussichtslosigkeit seiner Situation bewußt, dass konnte sie deutlich in seinem Blick sehen. Allerdings schien er es auch nicht gewöhnt zu sein, in die Defensive gedrängt zu werden.

Du wirst dich daran gewöhnen müssen,wenn du heil hier heraus kommen willst, dachte sie mit einem leichten Gefühl des Triumphes. Er mochte für den Moment hilflos sein, doch sie würde nicht den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen. Sie hatte gesehen, wozu er fähig war. Dinah beschloß, ihm eine Chance zu geben, ihr zu erklären, was vorgefallen war.

"Steht auf", fuhr sie ihn ruhig, aber mit herablassendem Ton an. Sie löste den Stock von seiner Kehle und trat einen Schritt zurück, um ihm die Möglichkeit zu geben, aufzustehen. Sie stand vor ihm, den Stock vor ihrem Körper mit beiden Händen festhaltend.

Silas erhob sich und blieb einige Schritte entfernt von ihr stehen. Sie schien zum äüßerten entschlossen zu sein und er wollte ihr keine Gelegenheit geben, dies auch auszuführen. Er betrachtete sie und fragte sich erneut, was er ihr getan hatte, um eine solche Behandlung zu verdienen. Er hoffte, dass er es bald erfahren würde.

"Was Ihr heute Nacht hier getan habt, geht mich sehr wohl etwas an. Und ich erwarte Antworten", richtete sie das Wort an ihn. Sie sah ihn dabei direkt an, wich seinem Blick nicht aus. Es lag etwas Unheimliches in ihrem Blick , etwas Herausforderndes, dass er nur zu gern näher ergründet hätte. Nur um herauszufinden, wer sie war und wie weit sie wirklich gehen würde. Trotz der Bedrohung, die sie ausstrahlte, hatte sie etwas Faszinierendes an sich, dass er sich nicht erklären konnte und dass ihn gebannt auf seinem Platz verharren ließ.

"Ihr habt nicht das Recht, Forderungen zu stellen", entgegnete er herausfordernd.

"Und Ihr habt nicht das Recht, falsche Antworten zu geben", entgegnete sie trotzig. Noch ehe er wußte, wie ihm geschah, spürte er den Schlag auf seiner rechten Schulter, nahe an seinem Hals. Die Wucht des Schlages war so heftig, dass er ins Wanken geriet, aber noch nicht zu Boden ging. Sie setzte nach und traf ihn frontal am Bauch, nur um noch einen Schlag gegen die Schulter nachzulegen. Diesmal mit Erfolg, denn Silas sank zu Boden und fiel auf die Knie. Da es offensichtlich genau das war, was sie wollte, ließ sie von ihm ab.

"Steht auf",herrschte sie ihn an. "Ihr solltet Euch die Antworten besser gut überlegen. Meine Geduld ist begrenzt, und das ist nicht sehr vorteilhaft für Euch."

Silas kniete noch immer vor ihr und sah zu Boden. Er überlegte angespannt, was er tun sollte. Er konnte die Situation nicht noch einmal eskalieren lassen, nicht, bevor er nicht die Antworten hatte, wegen derer er hergekommen war. Doch auch seine Geduld war begrenzt und neigte sich dem Ende zu. Er stand langsam auf und sah sie an. Sie hatten mittlerweile die halbe Kirche durchquert und standen sich im Gang zwischen den Stuhlreihen gegenüber. Silas dachte genau nach, bevor er ihr antwortete. Er wollte sie provozieren, damit sie erneut auf ihn losging, nur dieses Mal wäre er vorbereitet, denn er suchte nach einer Möglichkeit , um sie von ihrer Waffe zu trennen. Er ging einen Schritt auf sie zu und blieb stehen. Sie wich nicht zurück, schloß aber ihre Hände fester um den Stock. Er musterte sie von oben bis unten mit einem herablassenden Blick.

"Haltet ihr es für fair, auf einen Unbewaffneten loszugehen ?" Ihr Blick verdüsterte sich bei seinen Worten. Doch sie blieb ruhig, als sie ihm antwortete.

"Es ist genauso fair, wie eine Unbewaffnete zu töten", erwiderte sie ihm trotzig. Er konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. Es war aber auch zum verrückt werden mit ihr. Sie war also auf Rache aus, das war mehr als deutlich. Noch bevor er etwas erwidern konnte, hörte er ihre Stimme herausfordernd fragen.

"Außerdem seid Ihr unbefugt hier eingedrungen. Ich werde mich doch wohl noch gegen einen Eindringling verteidigen dürfen." Sie schenkte ihm ein eiskaltes und triumphierendes Lächeln, als sie ihn ansah. Ihre Augen funkelten ihn herausfordernd an. Silas konnte nicht glauben, was er da hörte. Ihr Lächeln verstärkte allerdings die Faszination, die sie auf ihn ausübte. Sie ist eine wahre Herausforderung, dachte er erstaunt, aber nichts, mit dem ich nicht fertig werden kann. Er lachte laut auf und wandte sich dann mit seiner tiefen Stimme an sie.

"Ich hatte die Erlaubnis der Schwester, hier hereinzukommen." Er erwiderte ihr Lächeln genauso eiskalt und provozierend. Diesmal lachte sie laut auf, bevor sie auf seine Bemerkung einging.

"Nun, für den ersten Besuch, vielleicht, aber nicht für diesen zweiten. Hattet Ihr auch ihre Erlaubnis sie zu töten?". Mit diesen Worten spannte sie sich innerlich an, bereit, ihm eine falsche Antwort gehörig zu vergelten. Silas konnte deutlich sehen, daß er sich seine Antwort genau überlegen mußte. Doch sie kam ihm erneut zuvor. Geduld schien wirklich nicht ihre Stärke zu sein.

"Worüber beschwert Ihr Euch? Opus Dei lehrt doch, das Schmerz adelt, nicht wahr? Gottes Gebot der Vergebung ist es jedenfalls nicht, sonst hättet ihr Euch nicht so vergessen können." Sie schleuderte ihm diese Worte mit einer Wut entgegen, die für Silas beinah körperlich faßbar war. Dennoch ging sie nicht auf ihn los. Silas wurde es allmählich zu bunt. Er mußte das Gespräch auf ein anderes Thema lenken, wenn er nicht endgültig die Geduld verlieren wollte. Was nur verband sie mit der Schwester, dass sie dermaßen heftig auf das Geschehene reagierte? Er konnte es sich nicht vorstellen, aber er wußte, daß er handeln mußte, denn ihm lief allmählich die Zeit davon.

"Es steht Euch nicht zu, über mich zu urteilen, das kann nur Gott.", ließ er sie in gereiztem Ton wissen.

"Ihr seid so arrogant wie brutal", gab sie zurück,"Ihr habt noch sehr viel mehr verdient als das, was Ihr bisher bekommen habt. Es steht mir also nicht zu, über Euch zu urteilen? Genauso wenig stand es Euch zu, mir die letzte Familie zu nehmen, die ich hatte", warf sie ihm zornig entgegen. Silas konnte erkennen, dass sie vor Erregung leicht am ganzen Körper zitterte. So war das also. Nun kannte er den Grund für ihre mehr als heftigen Reaktionen. Die Schwester mußte mit ihr in irgendeiner Form verwandt gewesen sein. Das änderte die Situation ziemlich. Sie mußte mehr wissen, als sie vorgab.

"So, habe ich das? Das wußte ich nicht. Trotz allem werdet Ihr die Antworten, die Ihr sucht nicht bekommen, wenn Ihr mir die Informationen vorenthaltet, die ich brauche.", gab er entnervt zurück.

"Hättet Ihr es gewußt, hättet Ihr Euch dann anders verhalten ?", versuchte sie ihn zu provozieren. Silas war das Thema mehr als unangenehm und er war nicht bereit, darauf eine Antwort zu geben.

"Ihr solltet Euren Verhandlungsstil ändern. Bisher wart Ihr nicht sehr erfolgreich", gab er mit einem drohenden Unterton in der Stimme zurück. Sie war äußerst hartnäckig, das mußtze er ihr lassen.

"Ihr aber auch nicht", kam prompt ihre patzige Antwort. "Ich sage es Euch zum letzten Mal, verlaßt diesen Ort." Sie baute sich demonstrativ vor ihm auf. Silas wußte, wie er diese Geste zu deuten hatte. Langsam fing es doch noch an, Spaß zu machen, und er wollte jede Minute davon auskosten.

"Oder was?", fragte er herablassend amüsiert. "Ich werde nicht gehen, bevor ich nicht die Informationen habe, die ich will."

Dinah sog die Luft hörbar durch die Nase ein und ließ sie mit einem Stoßseufzer wieder hinaus. Dabei rollte sie mit den Augen. Er wollte es ja nicht anders. Soll er sich mal bloß nicht beschweren, er sei nicht gewarnt worden. Ihr sollte es jedenfalls recht sein.

"Nun, dann kann ich Euch nicht helfen." Mit diesen Worten spannte sie sich innerlich auf das äußerste an und holte blitzschnell aus, um ihn erneut mit einem gezielten Schlag ihres Stockes zu Fall zu bringen.

Doch diesmal war er vorbereitet. Er wich dem Schlag gekonnt, aber knapp aus, indem er sich leicht zur Seite drehte. Dinah war gezwungen, erneut auszuholen, und spürte schon in der Bewegung, das etwas völlig falsch lief. Sie verfehlte ihn erneut, dieses Mal bekam er allerdings den Stock zu fassen und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Er versuchte, ihn ihr mit einem Ruck aus den Händen zu reißen, aber sie ließ nicht los. Stattdessen wirbelten sie beide herum, sich immer noch gegenseitig am Stock festhaltend. Im nächsten Moment fand sich Dinah mit dem Rücken an eine Säule gepresst wieder. Er drückte ihr den Stock an die Kehle, fest genug, um sie an der Säule zu halten, doch ließ er ihr gerade noch genug Freiheit zum atmen.

"Wie fühlt sich das an?", presste er triumphierend hervor. "Was wollt Ihr jetzt tun?" Dinah versuchte verzweifelt, seinen Griff zu lockern und ihn von sich wegzudrücken. Doch jede Bewegung brachte ihn nur näher an sie heran. Sein Gesicht war jetzt ganz nah bei ihrem. Sie konnte ihm direkt in sein unheimlichen und doch so faszinierenden roten Augen blicken. Den Triumph und die Leidenschaft, die sie in seinem Blick sah, mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie würde nicht klein beigeben, diese Genugtuung wollte sie ihm nicht gönnen. Er hatte sich mittlerweile so nah an sie heran gepreßt, daß sie seinen keuchenden Atem auf ihrer Wange fühlen konnte, und sie die Muskeln an seinem Oberkörper durch ihre Kutte hindurch fühlte. Die Hilflosigkeit, die sie verspürte, wich für einen Moment einer verwirrenden Erregung, um im nächsten Moment in schiere Verzweiflung umzuschlagen. Sie brauchte einen Ausweg, und zwar schnell. Eine Sekunde später wurde ihr dieser bewußt.

Silas stand breitbeinig vor ihr und hielt sie fest gegen die Säule gedrückt. Die nächste Runde geht an mich, dafür werde ich sorgen. Er achtete darauf, daß er nicht zu fest zudrückte. Was gar nicht so einfach war, denn sie wollte einfach nicht still stehen bleiben. Sie wand sich unter seinem Griff geschmeidig hin und her, wohl in der Absicht, ein wenig Platz zwischen sie beide zu bringen. Doch jede Bewegung brachte sie ihm nur näher.Er hatte sich so nah an sie gepreßt in seinem Versuch, sie festzuhalten, dass er die Konturen ihres Körpers durch seine Kutte hindurch genau fühlen konnte. Silas war seit Jahren keiner Frau mehr so nah gekommen wie ihr in diesem Moment.Er konnte ihren stoßweisen Atem auf seiner Haut spüren, ebenso die Wärme, die von ihrem Körper ausging. Als er in ihre grünen Augen blickte, war er überrascht von der Leidenschaft und wilden Entschlossenheit, die er in ihnen sah. Für einen flüchtigen Moment glaubte er, panische Angst darin zu entdecken, doch das Gefühl war mit dem nächsten Atemzug schon wieder verschwunden. Er fühlte eine verwirrende Erregung in sich aufsteigen. Seit Jahren schon hatte er nicht mehr die Nähe einer Frau so intensiv gefühlt, er hatte es sich geradezu untersagt, auch nur daran zu denken. Doch die plötzliche und unerwartete Nähe zu dieser geheimnivollen Frau weckte Begehrlichkeiten in ihm, die er längst vergessen glaubte, und die nach Erfüllung suchten. Das verwirrte ihn umso mehr. Er mußte sie haben, koste es, was es wolle. Nach einer scheinbaren Ewigkeit brach sie das Schweigen. Dabei blickte sie ihm fest in die Augen.

"Ihr mögt die Kutte eines Mönches tragen, doch darunter seid auch Ihr nur ein Mann", presste sie mühsam, aber mit fester Stimme hervor. Noch bevor Silas wußte, wie ihm geschah, fühlte er einen heftigen Schmerz zwischen seinen Beinen. Sie hatte mit letzter Kraft das rechte Bein gehoben und ihn mit voller Wucht an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus und sackte zusammen. Sein Druck auf den Stock verringerte sich und seine Hände glitten langsam von ihm ab. Sie nutzte die Gelegenheit und holte aus. Der Stock traf ihn hart am linken Unterkiefer. Der höllische Schmerz, der darauf folgte, raubte ihm fast die Sinne. Er fiel rückwärts zu Boden. Im gleichen Moment wich sie von der Säule zur Seite und ein paar Schritte von ihm weg, den Stock abwehrbereit mit beiden Händen vor sich haltend. Silas versuchte, sich aufzurichten. Er schaffte es, aufzustehen und stand gebückt vor ihr. Er sah sie an und seine Augen trafen ihren eiskalten, triumphierenden Blick. Er explodierte innerlich vor Wut über seine Schwäche und stürmte auf sie zu. Sie holte aus und noch bevor er sie erreicht hatte, traf ihn der Stock unter dem Kinn. Sie setzte mit einem Seitenhieb von rechts nach, drehte sich um ihn herum, versetzte ihm mit dem rechten Bein einen Tritt in den Rücken, der ihn ein paar schritte nach vorn stolpern ließ. Sie holte erneut mit dem Stock aus und traf ihn auf der linken Schulter zwischen Hals und Schulteransatz. Silas verlor das Gleichgewicht und ging in die Knie. Er fiel nach vorn und versuchte, den Sturz mit den Händen abzufangen. Er spürte, dass sie erneut zum Schlag ausholte. Noch im Fallen drehte er sich über die rechte Seite zu ihr herum, kniete auf einem Bein vor ihr und fing ihren Schlag mit beiden Händen ab. Er kam wieder auf die Beine und nun standen sie sich erneut gegenüber. Sie sahen sich sekundenlang schweigend an, unschlüssig darüber, was als nächstes passieren sollte. Plötzlich vernahmen sie in der Ferne Sirenengeheul, das sich rasch näherte. Dies konnte nur eines bedeuten, die Polizei war hierher unterwegs und es war für Silas mehr als unangenehm, hier von ihr entdeckt zu werden. Als er sie ansah, konnte er sehen, das sie genauso verwundert war wie er. Mit einem letzten beschwörenden Blick in ihre Augen ließ er den Stock los und verschwand in die Nacht.