Kapitel 3

Dinah stand einen Moment lang regungslos an dem Ort, an dem er sie hatte stehenlassen. Sie hörte die Sirenen und das Halten von Fahrzeugen vor der Kirche. Sie wußte, sie mußte schnell handeln. Mit einer geschickten Drehbewegung löste sie die festverankerten Glieder des Holzstabes, bis sie wieder als eine Kette vor ihr hingen, schob sie einzelnen Glieder behende ineinander und verstaute den kurzen Stab an ihrem Gürtel. Sie lief so schnell sie konnte zu der kleinen Geheimtür, die im hinteren Seitenschiff der Kirche verborgen war. Sie öffnete sie einen Spalt breit und schlüpfte nach draußen. Sie durchquerte den angrenzenden Park und versteckte sich hinter einem kleinen Mauervorsprung, der an die Straße grenzte. Sie mußte überlegen, was sie als nächstes tun sollte. Er hatte sie einfach stehen lassen, ohne dass sie ihre Aufgabe hätte vollenden können. Das wollte sie nicht so einfach auf sich sitzen lassen, das konnte sie nicht. Sie mußte ihn wiederfinden, und es gab nur einen Ort, an dem sie mit der Suche beginnen konnte, Opus Dei.

Das Spiel ist noch nicht zu Ende.

Mit diesem Gedanken erhob sie sich vorsichtig und spähte über die Mauer. Als sie niemanden in ihrer Nähe entdeckte, überwand sie die Mauer und trat auf die Straße. Mit raschen Schritten entfernte sie sich von der Kirche.

Dinah stand in der Telefonzelle und hing den Hörer wieder auf. Im Pariser Domizil von Opus Dei konnte man ihr zu dem gesuchten Mann mit den weißen Haaren und roten Augen keine Auskunft geben. Er war wohl dort gewesen, hatte das Haus aber sehr zeitig wieder verlassen und war bisher nicht wieder aufgetaucht. Sie war nicht begeistert von dieser Information. Deprimiert legte sie auf und lehnte sich an die Wand der Telefonzelle. Sie mußte sich konzentrieren und eine Lösung finden, doch ihr fiel absolut nichts ein. Sie schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, doch vor ihrem inneren Auge erschien lediglich der letzte beschwörende Blick seiner roten Augen, mit dem er sie verlassen hatte. Was wolte er ihr damit sagen? Sie konnte sich absolut keinen Reim darauf machen.

Konzentriere dich, befahl sie sich gedanklich, es gibt für alles eine Lösung. Plötzlich fiel ihr Darius ein, der Ordensbruder, der ihr in ihrer Zeit im Londoner Ordenshaus so oft geholfen hatte. Sie öffnete die Augen und blickte hinaus in die sternenklare Nacht.Vielleicht konnte er ihr auch diesmal helfen. Gewiß, die Chance, dass er immer noch dort war, und noch dazu in der heutigen Nacht, war mehr als gering. Doch sie mußte es versuchen. Sie nahm erneut den Hörer ab und wählte die Nummer. Dabei hoffte sie inständig, dass ihr das Glück wenigstens dieses eine Mal hold sein würde. Und sie hatte Glück. Sie erkannte seine Stimme sofort und gab sich zu erkennen. Es gab ein großes Hallo auf beiden Seiten. Er verneinte zwar, den Gesuchten zu kennen, versprach aber, ihr zu helfen, und beschwor sie, nach London zu kommen. Von hier aus könnte er ihr besser helfen. Dinah erklärte sich damit einverstanden. Er bat sie, eine Stunde später erneut anzurufen. Er wolle sich in der Zwischenzeit um einen Platz für sie im nächsten erreichbaren Flugzeug kümmern. Drei Stunden später saß Dinah tatsächlich im Flieger nach London. Sie ahnte nicht, daß der von ihr gesuchte Mönch bereits in der Stadt angekommen war, wenn auch bei weitem nicht ganz so komfortabel wie sie.

Dinah traf am frühen vormittag am Londoner Ordenshaus ein. Wie versprochen wartete Darius ein Stück vom Eingang entfernt auf sie. Sie begrüßten sich herzlich. Darius informierte sie darüber, dass für sie ein Zimmer im angrenzenden Frauenhaus des Ordenshauses bereit stand, wo sie sich ausruhen könnte. Er würde dafür sorgen, dass sie etwas zu essen bekam. Er hatte noch immer keine neuen Informationen für sie, doch er versprach, für sie Nachforschungen anzustellen und sie sofort zu informieren, sollte er etwas herausfinden. Dinah nahm das Angebot dankbar an. Darius sagte ihr, dass er auch an diesem Abend wieder für den Dienst am Empfang des Ordenshauses eingeteilt war. Vielleicht wisse er dann schon mehr. Dinah bedankte sich nochmals und ging rasch durch den Seiteneingang in das Frauenhaus.

In ihrem Zimmer angekommen, schloß sie die Tür. Auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand stand eine Schüssel mit frischem Wasser, daneben lag ein Handtuch. Dinah streifte ihre Kutte ab und wusch sich schnell ihren Körper mit dem klaren Wasser ab. Als sie sich abtrocknete, hörte sie, wie vor der Tür ein Tablett mit Essen abgestellt wurde. Nachdem sie mit abtrocknen fertig war, kleidete sie sich wieder an und holte das Tablett herein. Sie verzehrte den Imbiss, so schnell sie konnte. Ihr wurde erst jetzt bewußt, wie hungrig sie war. Sie stellte das leere Tablett wieder vor die Tür. Im Zimmer legte sie sich auf die am Boden ausgebreitete Decke. Sie schloß die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf. Als sie erwachte, war es draußen bereits dunkel. Sie erhob sich und wusch sich schnell den letzten Schlaf aus dem Gesicht. Dann verließ sie das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie trat durch den Seiteneingang hinaus auf die Straße. Dinah sog die auf sie einströmende klare Luft tief in. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Sie hatte bis jetzt noch nichts von Darius gehört und beschloß, ihm am Empfang einen Besuch abzustatten. Es war Frauen strengstens untersagt, das Männerhaus zu betreten, doch sie mußte es riskieren. Sie wollte in der kleinen Kammer hinter dem Empfang die Nacht bei Darius verbringen, in der Hoffnung, dass sich die Ereignisse zu ihren Gunsten entwickeln würden. Vor dem Eingang blieb sie stehen und zog sich ihre Kapuze über den Kopf. So tief, dass ihr Gesicht völlig im verborgenen lag. Dann betrat sie durch den Haupteingang das Männerhaus. Darius stand wie erwartet am Empfang. Er blickte auf, als sie hereinkam und erschrak heftig, als er sie erkannte. Er trat hinter dem Empfangstresen hervor und geleitete sie rasch in die daneben befindliche Kammer. Er hatte noch immer keine neuen Informationen für sie. Aber er blieb bei ihr und unterhielt sich mit ihr über vergangene Zeiten. Sie scherzten und erzählten, als hätten sie sich erst gestern das letzte mal gesehen. So vergingen die folgenden Stunden wie im Fluge.

Plötzlich ertönte über ihnen ein kleines Glöckchen. Das Signal, dass jemand durch den Haupteingang das Haus betreten hatte. Darius beschwor Dinah, sich auf keinen Fall sehen zu lassen. Dann trat er nach draußen, um nachzusehen, wer so spät noch etwas wünschte. Die Tür ließ er einen Spalt breit offen, so dass Dinah verfolgen konnte, was draußen geschah.

Sie hörte, wie Darius mit einem Mann kurz ein paar Worte wechselte. Der Fremde bat für die nächsten Stunden um eine Aufnahme im Haus und um etwas zu Essen. Dinah stockte der Atem in ihrem Versteck. Sie mußte nicht draußen nachsehen und brauchte auch nicht Darius' Bestätigung, um zu wissen, wer da draußen war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich schlagartig. Als Darius kurze Zeit später die Tür öffnete und zu ihr in die Kammer trat, sah sie ihn nur an und sagte „Ich weiß". Sie hatte die tiefe Stimme erkannt und wußte, dass er hier war. Darius nickte bestätigend. Dinah wollte nur wissen, wo er sich befand. Darius sagte es ihr. Sie bat ihn darum, das Essenstablett nach oben bringen zu dürfen. Nach einigem Zögern und mehreren beschwörenden Blicken ihrerseits willigte er ein und bat sie, zu warten, damit er das Tablett holen konnte. Es dauerte nicht lange und er war wieder da und übergab ihr das Tablett. Er fragte sie, warum es ihr so wichtig war, diesen furchteinflößenden Mann zu finden.

„Er hat etwas furchtbares getan", flüsterte sie ihm leise zu. Sie dankte ihm für alles, gab ihm einen Kuß auf die Stirn und zog sich die Kapuze über den Kopf. Dann verschwand sie nach draußen und lief mit dem Tablett in der Hand die Treppen empor zu dem Zimmer, in dem sich der geheimnisvolle Fremde befand. Als sie vor dem Zimmer angekommen war, hielt sie einen Moment lang inne. Auf dem Weg nach oben hatte eine innere Unruhe von ihr Besitz ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust. Sie fühlte sich angespannt und war höchst erregt, endlich die Aufgabe beenden zu können, die sie in der letzten Nacht begonnen hatte.

Sie stellte das Tablett hörbar neben der Tür ab und verbarg sich hinter einer Säule neben dem Treppengeländer, von wo aus sie die Tür beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Es dauerte auch nicht lange, da öffnete sich die Tür und er trat heraus, um das Tablett aufzunehmen. Er war es tatsächlich. Er ging wieder hinein und schloß die Tür hinter sich. Dinah wartete in ihrem Versteck eine angemessene Zeit, bis sie sich sicher war, daß er schlief. Dann trat sie leise aus ihrem Versteck heraus, blieb vor der Tür stehen, legte die Hand auf den Türknauf und öffnete die Tür. Sie huschte lautlos ins Zimmer hinein und schloß die Tür behutsam hinter sich. Sie gewährte ihren Augen einige Sekunden, um sich an die Dunkelheit im Raum zu gewöhnen. Dinah sah sich um, und dann sah sie ihn. Er lag auf der Matte neben dem Fenster auf der Seite und schien zu schlafen. Dinah trat ein paar Schritte auf ihn zu und blieb am Fußende der Matte neben ihm stehen. Sie betrachtete seinen schlafenden Körper, der sich gleichmäßig im Rhythmus seines Atems hob und senkte. Das durch das Fenster hereinfallende Mondlicht ließ seine weiße Haut noch bleicher erscheinen. Sie betrachtete ihn fasziniert und konnte den Blick nicht von ihm wenden. Er sah so friedlich aus, wie er da lag. Doch Dinah wußte, dass dieser Eindruck täuschte. Sie mußte vorsichtig vorgehen bei allem, was sie nun tat. Noch einmal sollte er ihr nicht entkommen. Sie griff unter ihre Schärpe und löste den Holzstab vom Gürtel. Dann trat sie langsam näher an ihn heran. Doch auf die folgenden Ereignisse war sie nicht im geringsten vorbereitet. Sie hatte sie nicht einmal erahnen können. Noch bevor Dinah angemessen reagieren konnte, hatte er sie schon geschnappt. Nun stand sie mit dem Rücken zur Wand vor ihm. Er packte sie an beiden Armen oberhalb der Handgelenke und drückte diese neben ihrem Kopf an die Wand. Dabei fiel ihr Holzstab polternd zu Boden. Ein zweites Mal konnte sie weder vor noch zurück, und war seinen Launen ausgeliefert. Dinah verfluchte sich innerlich für ihre Unachtsamkeit. Doch sie konnte nichts ändern, und so harrte sie der Dinge, die da kommen mochten.

Silas stand da und traute seinen Augen kaum. Sie war tatsächlich wiedergekommen. Nun stand sie erneut vor ihm und konnte nicht fort. Es gab schon seltsame Zufälle. Er sah sie an und fühlte sich erneut von ihr auf unheimliche Art angezogen. Sie hatte nichts von ihrer Faszination verloren. Das sie offensichtlich wütend war über sich selbst, verstärkte diesen Aspekt eher noch.

Silas erinnerte sich an das letzte Mal, als sie sich auf diese Art und Weise gegenüber gestanden hatten, und wurde sich der Schmerzen bewußt, die sie ihm kurz darauf verursacht hatte. Nun, dieses Mal würde er vorsichtiger sein. Und versuchen, ihren Widerstand mit anderen Mitteln frühzeitiger zu brechen. Zumindest hatte er sie schon mal von ihrer Waffe getrennt. Das war immerhin ein Anfang. Gleichzeitig erinnerte er sich aber auch an die weitaus verwirrenderen Gefühle und Begehrlichkeiten, die ihre Nähe in ihm ausgelöst hatte. Er spürte, dass sich diese erneut einen Weg in sein Bewußtsein suchten. Er wußte, dass er sie stoppen mußte, bevor sie übermächtig wurden und er sie und sich selbst nicht mehr kontrollieren konnte. Er spannte die Muskeln am rechten Oberschenkel an, um den Schmerz zu spüren, den der Gürtel verursachte. Der Schmerz würde das Begehren verschwinden lassen und ihn retten. Doch er fühlte nichts. Da war kein Schmerz, und es dämmerte ihm mit einem leichten Hauch von Panik, dass ihm der Gürtel auf seinem Weg zum Ordenshaus abgenommen worden war. Nun gut, es gab also keinen Schmerz, der seine Seele heilen konnte. Er mußte es anders versuchen und wußte doch, dass der Versuch scheitern mußte. Zu lange hatte er sich alles versagt, zu stark war die Anziehung, die sie auf ihn ausübte. Silas versuchte, sich zu konzentrieren, doch es war hoffnungslos. Er sah ihr direkt in die Augen. In seinem Blick konnte sie die inneren Qualen, die er in diesem Moment ausfocht, ansatzweise erahnen. Ein letztes Mal bäumte er sich gegen die Übermacht der Gefühle auf, dann konnte er nicht anders und gab ihnen nach. Er presste seine Lippen auf die ihren und küßte sie mit einer Intensität und rohen Gewalt, mit der ein Ertrinkender nach dem rettenden Strohhalm greift. In seinem Kuß entlud sich all die Leidenschaft, die er jahrelang in seinem Innersten verschlossen hatte, fordernd und hingebungsvoll zugleich. Für einen Moment verloren Raum und Zeit jegliche Bedeutung.

Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, löste er sich erschöpft von ihr. Er ließ ihre Arme los und trat einen Schritt zurück. Atemlos keuchend stand er vor ihr, sah sie an und versuchte, Herr seiner selbst zu werden. Er wußte nicht, warum er es tat, warum er losließ, aber er tat es. Es war alles möglich. Ein kritischer Moment, denn sie konnte erneut auf ihn losgehen, ihn bekämpfen oder einfach in die Nacht verschwinden. Doch sie blieb und sah ihn an. Sie blickte ihm direkt in die Augen, und brachte mit diesem Blick eine Saite in seinem Inneren zum schwingen, die er noch nie zuvor vernommen hatte. Er konnte einfach nichts tun. Er mußte die Entscheidung darüber, was noch passieren sollte, in ihre Hände legen.

Und das tat sie auch. Sie trat auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn, mit einer Leidenschaft, die ihm fast den Atem raubte. Sie gab ihm zurück, was er sich zuvor von ihr genommen hatte. Seine Hände glitten an ihrem Rücken abwärts, bis sie den Gürtel erreichten, der ihre Kutte zusammenhielt. Er tastete sich vorsichtig nach vorn und löste den Knoten. Der Gürtel entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Seine Hände glitten unter ihre Kutte, berührten behutsam ihre nackte Haut und verweilten auf ihrer Taille, die sie sanft umschlossen. Sie löste sich von ihm und öffnete mit einer geschickten Bewegung die zwei Knöpfe, die die Schärpe mit ihrer Kutte am Halsausschnitt verbanden. Sie sah ihn herausfordernd an. Seine Hände wanderten von ihrer Taille aufwärts, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden. Oberhalb ihrer Brüste schob er die Seiten der Kutte auseinander und schob sie über ihre Schultern. Mit einem leisen Rascheln glitt ihre Kutte zu Boden. Nun stand sie vollkommen nackt vor ihm. Ihre helle Haut leuchtete sanft im Mondlicht. Er packte sie sanft an den Schultern und zog sie zu sich heran. Seine Lippen berührten behutsam ihre Haut unterhalb des Ohrläppchens und glitten am Hals entlang abwärts, bis sie in der Vertiefung unterhalb der Kehle verweilten. Sie stöhnte durch die Berührung leise auf und ließ sich in seine Arme sinken. Silas wußte, dass er auf dem richtigen Weg war. Er ließ seine Lippen fordernder über ihre Haut gleiten. Sie gab den auf sie einstürmenden Gefühlen nach und preßte ihren Körper so nah es ging an den seinen.

Dinah fühlte, wie der Schlaf sie verließ und öffnete die Augen. Sie lag auf dem Rücken auf einer Matte und spürte einen sachten, warmen Lufthauch auf ihrem Bauch. Sie sah an sich hinab und stellte fest, daß der Mann, dem sie sich heute Nacht hingegeben und der sie so leidenschaftlich geliebt hatte, noch immer bei ihr war. Er hatte seinen Kopf auf ihre Brust gelegt. Sein linker Arm ruhte entspannt auf ihrer Taille und sein linkes Bein lehnte an ihrem. Ihr linker Arm lag sanft auf seiner Schulter. Er atmete ruhig und gleichmäßig und schien zu schlafen. Ein paar Strähnen seines weißen Haares fielen ihm ins Gesicht. Dinah hob die Hand und strich ihm vorsichtig die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie betrachtete ihn und mußte schmunzeln bei dem Gedanken an das, was sie getan hatten, bevor sie nebeneinander einschliefen. War es richtig? Es fühlte sich jedenfalls nicht falsch an. Ihre Gedanken schweiften ab zu den letzten Worten der Schwester, und dem Wunsch, der in ihnen lag. Die Schwester hatte von Vergebung gesprochen. Dinah erschien es damals unmöglich, der Schwester diesen Wunsch zu erfüllen. Sie war von dem Gedanken an Rache besessen gewesen, auch noch, als sie heute Nacht hierhergekommen war. Doch nach allem, was in den letzten Stunden in diesem Zimmer geschehen war, fragte sie sich, ob sie dies einer möglichen Vergebung näher gebracht hatte. Sie wußte es nicht. Alles, was sie wußte, war , daß der Gedanke an Rache ihr so fremd wurde, wie dieser Mann es ihr noch vor Stunden gewesen war.

Sie betrachtete ihn erneut und sah, dass er langsam die Augen öffnete. Er blieb noch einen Moment reglos liegen, dann hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Sein Blick hatte nichts furchteinflößendes mehr. Aus seinen Augen strahlte sie ein innerer Frieden an, der sie beruhigte.

„Ich möchte gern deinen Namen erfahren", sprach er sie mit leiser Stimme an, „falls Engel einen Namen haben."

„Ich heiße Dinah", erwiderte sie ihm lächelnd. „Und wer will das wissen?"

„Mein Name ist Silas", entgegnete er ruhig.

Sie sahen sich einige Minuten lang schweigend an. Dann veränderte sich sein Blick und in seinen Augen sah sie nichts als Traurigkeit.

„Ich kann nicht ändern, was letzte Nacht passiert ist", begann er vorsichtig, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, „aber es tut mir unsagbar leid und ich hoffe, dass du mir vergeben kannst."

In seinem Blick lag ein Flehen und eine Traurigkeit, der sie sich nicht verschließen konnte. Sie hatte sich so geborgen gefühlt, hier in seinen Armen, sie hatte beinahe vergessen, weshalb sie eigentlich hergekommen war. Doch jetzt brachten seine Worte die Erinnerung zurück, und mit ihr jenes Gefühl der Hilflosigkeit und Trauer, mit dem sie die Schwester verlassen hatte. Sie schloß die Augen, denn sie spürte, dass die Erinnerung sie zu überwältigen drohte und ihr Tränen in die Augen schossen. Sie versuchte, sich zu beruhigen und die Gefühle zu verdrängen. Als sie die Augen öffnete, traf ihr Blick den seinen, der noch genauso flehentlich war. Sie sah seine Angst, dass sie ihn zurückweisen könnte, und seine Hoffnung, dass sie dies nicht tun würde. Vor allem aber sah sie ernsthaftes Bedauern und dass es ihm ernst wahr mit seiner Bitte. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern wartete reuerfüllt auf ihre Antwort.

„Die Schwester hätte nicht gewollt, dass ich sie dir verweigere", begann sie zögernd, „auch wenn es mir nicht leicht fällt, so will ich ihr doch ihren letzten Wunsch erfüllen, damit ihre Seele endlich zu Ruhe kommt", fügte zu ruhig hinzu. „Ich vergebe dir, Silas", sagte sie so ruhig, wie sie nur konnte. Seine Augen strahlten sie dankbar an.

„Danke, Dinah", erwiderte er ergriffen. Er senkte den Kopf so weit, dass seine Stirn auf ihrer Brust ruhte."Danke", flüsterte er kaum hörbar.

Sie strich ihm über sein Haar und küßte ihn sanft auf Kopf. Er hob seinen Kopf, sah sie an und küßte sie ebenso sanft auf den Mund. Sie erwiderte seinen Kuss und zog ihn nah zu sich heran, so dass er völlig auf ihr lag. Dinah wollte die Welt um sich herum vergessen und fühlte, dass es Silas genauso ging. Sie versanken beide erneut in der Leidenschaft, die sie schon einmal geteilt hatten.

Silas erwachte mit einem unruhigen Gefühl. Er konnte sich nicht erklären, woran das lag. Dinah lag noch immer neben ihm ganz ruhig in seinen Armen und schlief. Er betrachtete sie und strich ihr sanft mit der Hand über ihr weiches, schwarzes Haar. Silas war glücklich darüber, dass sie da war. Er hatte befürchtet, dass alles nur ein Traum gewesen war. Doch der Traum war Wirklichkeit. Die Wärme ihres Körpers, den er neben sich spürte, war mehr als real. Und doch wollte die innere Unruhe ihn nicht verlassen. Er löste sich behutsam aus ihrer Umarmung, denn er wollte sie nicht wecken. Silas stand auf und trat ans Fenster. Er blickte auf die Straße, konnte aber nichts außergewöhnliches entdecken. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Er wollte sich gerade umdrehen und wieder hinlegen, als er am Straßenrand ein Auto stehen sah. Ein zweites Auto parkte kurz dahinter ein, mit einem Blaulicht auf dem Dach. Dann traten auch schon mehrere uniformierte Männer auf das Haus zu. Silas wußte, wer das war. Er war verraten worden, konnte sich aber nicht vorstellen, von wem. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er mußte von hier verschwinden, so schnell wie möglich. Er trat vom Fenster zurück und zog sich schnell sein Unterzeug über. Dann kniete er neben der Matte nieder und küßte Dinah ein letztes Mal vorsichtig auf den Mund. Sie reagierte auf seinen Kuss mit einer leichten Bewegung, öffnete aber nicht die Augen. Silas betrachtete sie und wünschte sich, dass er sie nicht hier zurücklassen müßte. Aber er konnte sie nicht mitnehmen, er wollte sie nicht in Gefahr bringen. Er könnte es sich nie verzeihen, sollte ihr seinetwegen etwas zustoßen. Mit einem letzten Blick auf ihre schlafende Gestalt erhob er sich und stürmte aus dem Zimmer.

Die Tür fiel ins Schloss. Sekunden später öffnete Dinah die Augen. Sie hatte erwartet, Silas neben sich zu sehen, und erschrak, als sie feststellte, dass er nicht da war. Sie erhob sich und sah sich um. Aber sie konnte Silas nirgendwo im Zimmer entdecken. Durch das Fenster schimmerten unruhig tanzende Lichter ins Zimmer hinein. Von einer plötzlichen inneren Unruhe ergriffen, stand sie auf und ging zum Fenster. Draußen wimmelte es nur so von Polizeifahrzeugen und Polizisten. Sie schaute sich um, ließ ihren Blick suchend über die Szene gleiten, doch sie konnte Silas nirgends entdecken. Sie mußte ihn suchen. Sie drehte sich um und trat vom Fenster weg.

Dinah hob ihre Kutte auf und zog sie sich rasch über. Sie schlang sich den Gürtel um und befestigte ihn mit einem Knoten. Dann hob sie den Holzstab auf und befestigte ihn am Gürtel. Plötzlich hörte sie von draußen einen Schuß, dem Sekunden später noch weitere Schüsse folgten. Ein panisches Angstgefühl überkam sie. Sie lief erneut zum Fenster und sah hinaus. Silas stand dort unten, mit der Waffe in der Hand, mit der anderen Hand hielt er seinen Bauch fest. Dinah konnte erkennen, dass er verletzt war. Mit Entsetzen sah sie das Blut, dass von der Wunde über seine Hand lief. Sie mußte zu ihm. Im nächsten Moment stürmte sie zur Tür, riss sie auf und rannte den Gang hinunter. Sie öffnete die Tür zur Küche, der einzigen Verbindung zwischen dem Männer – und dem Frauenhaus. Sie stürmte hindurch, ohne auf die anwesenden Mönche zu achten, die erschrocken zur Seite wichen. Sie öffnete die Tür, die hinaus in den Hof führte und lief hinaus. Es war niemand da. Sie lief um die Ecke, hinaus auf die Straße, doch sie konnte Silas nirgends entdecken. Es schien, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Dinah blieb stehen und sah sich um. Außer ein paar Polizisten war niemand weiter in der Nähe. Einer der Polizisten blickte in ihre Richtung und sah sie fragend an. Als er sich in Bewegung setzte, um auf sie zuzukommen, lief sie so schnell sie konnte über die Straße und verschwand im angrenzenden Park. Sie kletterte behende auf den nächsten erreichbaren Baum und verschmolz mit den Schatten. Der Polizist war ihr gefolgt, mit zwei Kollegen. Sie suchten die nähere Umgebung nach ihr ab. Da sie niemanden finden konnten, machten sie kehrt und ließen Dinah allein in ihrem Versteck zurück. Sie atmete erleichtert auf. Sie wollte jetzt keine Fragen beantworten. Sie mußte sich darauf konzentrieren, Silas zu finden. Er war verletzt und brauchte ihre Hilfe. Doch wo sollte sie anfangen zu suchen? Er war wie vom Erdboden verschwunden. Wo nur sollte sie ihn finden? Dinah grübelte eine ganze Weile darüber nach, doch ihr fiel nichts ein. Sie beschloss, dass es besser war, loszulaufen und ihn zu suchen, als weiterhin hier auszuharren. Sie glitt lautlos vom Baum hinunter und lief weiter in den Park hinein. Der Morgen begann bereits zu dämmern und die ersten Nebelbänke zogen herauf. Dinah lief eine ganze Weile ziellos immer weiter in den Park hinein und hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, in den immer dichter werdenden Nebelbänken noch irgendetwas zu finden, als sie in ihrer Nähe ein Geräusch hörte. Es klang, als sei etwas schweres zu Boden gefallen. Ihr Herz schlug schneller, doch sie ignorierte die in ihr aufsteigende Unruhe. Ein paar Meter weiter sah sie etwas schemenhaft vor sich im Gras liegen. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es Silas war. Er lag auf der Seite, die Beine angezogen, gerade so, als würde er schlafen. Dinah kniete neben ihm nieder. Sie berührte mit ihrer Hand seine Schulter und erschrak über die Kälte, die von seinem Körper ausging.

„Silas? Silas, hörst du mich?", sprach sie ihn verzweifelt an. „Antworte, bitte." Doch er reagierte nicht. Eine schreckliche Vorahnung stieg in ihr auf und unbeschreibliche Angst ergriff sie. Sie hob seinen Kopf an und legte ihn auf ihren Schoß. Sie hielt ihn mit beiden Armen fest umklammert, bedeckte sein Gesicht immer wieder mit ihren Küssen. Tränen liefen leise ihre Wangen hinunter und hinterließen ihre Spuren auf seiner Haut. Dabei rief sie immer wieder seinen Namen. Dinah wollte es einfach nicht glauben. Sie weigerte sich, zu akzeptieren, was ihr Herz schon längst wußte. Sie war zu spät gekommen. Sie konnte ihm nicht mehr helfen. Er hatte sie verlassen . Für immer. Keine Macht der Welt konnte ihn ihr zurückbringen.

Mit der Erkenntnis kam die Trauer, eine ohnmächtige Hilflosigkeit erfüllte sie. Dinah hob den Kopf und blickte zum Himmel. Alles, was sie jemals gefühlt hatte, alle Wut, Trauer, aller Hass und ihre ganze Hilflosigkeit sammelte sich in ihr, schwoll an und befreite sich in einem einzigen, verzweifelten Schrei, den sie anklagend zum Himmel schickte : „NEEEEEEIIIIIIIIN". Es gab noch so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte, noch so viele Antworten, die er ihr geben mußte. Doch für all das war es jetzt zu spät. Für immer.

Dinah brach über Silas zusammen und begrub sein Gesicht in ihren Armen. Sie schloß die Augen, betete leise für ihn, und der Tränenstrom versiegte langsam. Um sie herum verdichtete sich der Nebel und hüllte sie ein. Er bildetet einen schützenden Umhang, der sie beide den Blicken der Welt entzog und für immer vereinte.

Ende