Eigentlich habe ich im Moment ÜBERHAUPT keine Zeit zum Geschichtenschreiben – jedenfalls nicht für Geschichten, die so aufwendige Recherchen erfordern wie diese – aber ich kann euch ja auch nicht einfach so hängenlassen, nicht?

Hier ist also das nächste Kapitel. Bei mir trug es den Arbeitstitel Der Dok Tor und der Istar.

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Kapitel 7

Am nächsten Tag brachen wir früh auf. Es war ein kalter Morgen und auch die Stimmung im Lager war frostig. Ómiel war ruhig und in sich gekehrt; sie vermied es, mich auch nur anzusehen, während Arwen auffallend guter Laune war und mit Aragorn herumscherzte, der sich ihre Stimmung wohl nicht recht erklären konnte.

Nachdem wir das Lagerfeuer noch einmal angefacht und uns einen heißen Tee bereitet hatten, um die Lebensgeister zu wecken, bestiegen wir die Pferde und setzten unseren Weg fort. Hier und da hing Bodennebel über den Niederungen des Graslandes wie eine weiße Daunendecke, die von den Beinen unserer Pferde sanft zerrissen wurde, so daß kleine Federwölkchen um uns aufzuwirbeln schienen. Wir hielten schräg auf den Wald zu, der in der Ferne als dunkles Band die trübgraue Morgenlandschaft durchschnitt.

Als wir uns dem Wald so weit genähert hatten, daß wir die einzelnen Bäume erkennen konnten, brachen die ersten, wenn auch noch schwachen Sonnenstrahlen durch den Dunst und brachten einen Anflug von Wärme mit sich, doch blieb der Hochnebel überwiegend noch erhalten. Gerade war ich mit Aragorn in ein Gespräch über die Beni Dúnedain verwickelt, da nahm ich eine Bewegung am Waldrand wahr. Eine dunkle Gestalt schien sich hinter den Büschen, die dem Waldrand vorgelagert waren, zu bewegen – und ich glaubte, zu erkennen, wer das war.

Ich unterbrach meine Unterhaltung mit Aragorn, stellte mich in den Steigbügeln auf und rief mit lautschallender Stimme: "Leckmich!"

Da zügelte Aragorn sein Pferd und zog mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung Andúril aus der Scheide. "Du bist mein Freund, Kara Ben Nemsi," grollte er, "und einem Freunde verzeiht man vieles. Doch wenn du mich vor meinen Gefährten noch einmal so beleidigst, dann müßte ich dir mit dem Schwert antworten!"

Nun verloren wir einige Sekunden, denn bis ich ihm die Linguistik, Semantik und Semiotik orkischer Eigennamen erläutert und er sich zerknirscht bei mir entschuldigt und sein Schwert wieder weggesteckt hatte, war Leckmich aus unserem Blickfeld verschwunden. Da er zu Fuß war, konnte er aber nicht weit gekommen sein. Wir schwärmten aus, um uns dem Waldrande in breiter Linie zu nähern und bald sah ich unheilkündende rote Flecken auf dem Laub. Ich rief die anderen, stieg vom Pferd und arbeitete mich durch das Gebüsch. Die Blutspuren wiesen den Weg. Es dauerte nicht lange, bis wir Leckmich gefunden hatten. Er lag bäuchlings auf dem Laub und röchelte leise. Vorsichtig legte ich ihm die Hand auf die Schulter: "Leckmich, kannst du mich hören?"

"Leckmich kaput," stöhnte er in seinem orkischen Idiom, "Leckmich imarsh." Behutsam drehte ich ihn auf den Rücken. In seiner Brust klafften mehrere große Wunden, die wohl teils von Messerstichen, teils von Schwerthieben herrührten. Es waren offenbar die kräftigen Schwerter von Orks gewesen. Ich erschauerte. Seine eigenen Genossen hatten ihn so zugerichtet. "Isengard..." flüsterte er mit ersterbender Stimme und heftete seine Augen auf mein Gesicht. "Isengard... Hütet euch ... hütet euch vor Sa– vor Sa– –" Blut sickerte aus seinem Munde, so daß er kaum mehr sprechen konnte. Er tastete nach meiner Hand und ergriff sie. "Effendi ... ich glaube ... an den Heiland," stieß er mit Mühe hervor. "Leckmich ist ... ein Christ...". Ein Zucken ging durch seinen Körper – seine Augen wurden starr – er war tot.

Erschüttert drückte ich ihm die Lider zu. In seinen letzten Sekunden hatte er uns warnen wollen. Warnen vor wem? Wer war Sa–? Konnte damit Sauron gemeint sein? Das erschien mir unwahrscheinlich, denn so sehr man sich natürlich vor Sauron zu hüten hatte, sah ich doch keinen Zusammenhang mit Isengard. Nein, Leckmich konnte nur Saruman den Weißen gemeint haben, denn dieser hatte seinen Wohnsitz im Orthanc von Isengard.

Aragorn war der gleichen Ansicht. "Die Warnung bezog sich auf niemand anderen als Saruman," pflichtete er mir bei. "Wir vermuteten es schon seit einiger Zeit, Gandalf und ich, und seit letztem Jahr haben wir Gewißheit. Saruman ist unser Feind geworden."

"Das ist ein schwerer Schlag!" rief Halef aus. "Gerade jetzt, da jede Hilfe nötig ist, um gegen den einen, gemeinsamen Feind zu bestehen." Die anderen Gefährten äußerten sich ähnlich.

Es war in der Tat ein harter Schlag. Saruman war ein weit über die Grenzen von Rohan hinaus bekannter Einsiedler. Saruman den Zauberer, Saruman den Magier, Saruman den Marabût nannten ihn die Menschen, die ihn selten zu sehen bekamen, aber größten Respekt vor ihm hatten. Man sagte ihm übermenschliche Fähigkeiten, ja Zauberkräfte, im Kampf gegen das Böse nach. In den Erzählungen der Menschen von Rohan und Gondor war er uralt und schon vor langen Zeitaltern nach Rohan gekommen, wo er sich in einem Turm, dem Orthanc, am Südrand des Gebirges niedergelassen hatte, in einem Talkessel namens Isengard. Jedenfalls lebte er dort schon länger, als sich die Ältesten unter den Rohirrim erinnern konnten. Ich hatte schon bei unserem letzten Aufenthalt in dieser Gegend viel über ihn gehört, doch leider hatte sich keine Gelegenheit zu einem Besuch bei ihm ergeben (13). Nun hatte ich das Gefühl, daß wir ihn vielleicht besser kennenlernen würden, als uns lieb sein mochte.

Aragorn drängte zwar zu raschem Aufbruch, aber ich bestand selbstverständlich darauf, Leckmich ein christliches Begräbnis zu bereiten. Als Halef und ich unsere Klappspaten aus den Satteltaschen holten und begannen, ein Grab auszuheben, mußten die anderen wohl oder übel warten, wenn sie nicht ohne uns weiterreiten wollten. Der harte Boden machte die Arbeit sehr mühselig, besonders für den schmächtigen Halef. Schließlich konnte Gimli Ben Gloin es nicht mehr mit ansehen, stieg aus dem Sattel – vielmehr rutschte er über Arods Kruppe zu Boden – und kam zu uns herüber. Mit den Worten "Gib mir mal den Spaten, Hadschi. Das ist eine Aufgabe für einen Zwerg," übernahm er Halefs Werkzeug und begann mit bewundernswerter Energie zu graben, daß die Erde aus der flachen Grube nur so hinausspritzte. Er half mir dann auch, den armen Leckmich mit Erde zu bedecken und knurrte dabei in seinen Bart: "Ich sehe zwar nicht, welchen Unterschied es macht, ob der Ork von Krähen gefressen wird oder von Würmern, aber wenn dein Glaube es so verlangt, Kara Ben Nemsi, so sei es."

Über dem Grab errichtete ich ein aus Hölzern gefertigtes, schlichtes Kreuz, auf dem ich die Worte "Leckmich – Ork und Christ" eingeritzt hatte. Dann kniete ich nieder und sprach ein Gebet für die Seele dieses einfachen Orks, der nach langen Jahren seines wilden Lebens zu Gott gefunden hatte, nur um kurz darauf von seinen eigenen Stammesgenossen niedergestreckt zu werden. Möge ihm die Erde leicht geworden sein.

Nun setzten wir unseren Weg langsamer fort. Wir mußten unbedingt Gewißheit haben, ob sich Orks in der Nähe befanden. Hatten sie Leckmich für tot gehalten und zurückgelassen, so war wohl keine Begegnung zu befürchten. War er ihnen aber entkommen, so bestand die Möglichkeit, daß sie ihm folgten. Ich hielt diese Gefahr für gering, da sie viel schneller als er gewesen sein und ihn deshalb in kurzer Zeit eingeholt haben müßten; wir hätten dann längst mit ihnen zusammenstoßen müssen. Trotzdem war es besser, sicherzugehen, und deshalb verfolgten wir Leckmichs Spuren zurück. Der gute Ork hatte uns warnen wollen und hatte dies letzten Endes auch erreicht, freilich ohne uns genauere Auskünfte über Sarumans Tun und Treiben geben zu können. Er hatte die Bibel, die ich ihm geschenkt hatte, nicht mehr bei sich gehabt, so daß wir annehmen mußten, daß seine ehemaligen Kumpane das Buch wohl zu Saruman brachten. Was dieser daraus für Schlüsse ziehen würde – wer wußte es? Auf jeden Fall würde er über die Anwesenheit von Fremden in Rohan Kenntnis erlangen. Von nun an würden wir noch mehr als bisher auf der Hut sein müssen.

Als wir kurz nach Mittag das Wäldchen erreichten, wo die Orks von den Rohirrim eingekreist worden waren, beschlossen wir, uns zu trennen. Aragorns drängendstes Anliegen war es, die Spuren der Hobbits zu suchen, während Halef und ich es für geboten hielten, noch eine Weile auf Leckmichs Spuren nach Osten zu reiten. Wir beschlossen, uns spätestens am Abend hier wieder zu vereinigen.

Unser Ritt nach Osten verlief ergebnislos. Am späten Nachmittag hatten wir noch keine Spur von irgendwelchen Orks gesehen; Leckmich war trotz seiner Wunden erstaunlich schnell unterwegs gewesen. So kehrten wir beruhigt wieder um und erreichten den Treffpunkt, als es bereits zu dunkeln begann.

Von unter den Bäumen her sprach uns Legolas an, der hier auf unsere Rückkehr gewartet hatte. Er führte uns eine Strecke in den Wald hinein, wo die Gefährten lagerten und bereitete uns darauf vor, daß wir ein weiteres Mitglied der Gemeinschaft antreffen würden, das während unserer Abwesenheit zu ihnen gestoßen war.

Ein hochgewachsener alter Mann mit wallendem weißen Haar und Bart trat uns entgegen. Seine knorrige Gestalt wirkte ehrfurchteinflößend, sein faltendurchfurchtes Gesicht strahlte Güte und gleichzeitig Entschlußkraft aus. Dies war Gandalf: Gandalf, von dem Pippin mir erzählt hatte, der Führer der Gemeinschaft gewesen war, bis er in Moria beim Kampf mit einem wilden Tier in einen Abgrund stürzte. Kampf und Sturz schien er gut überstanden zu haben. Er hatte von Aragorn und den anderen bereits von uns erfahren und begrüßte uns jetzt ernst, aber herzlich. "Freunde von König Théoden, von Théodred und Éomer, sind mir willkommen. Ich hörte, daß du ein Ork-Zähmer bist, o Kara Ben Nemsi." Dabei schienen mir seine Augen tief ins Herz blicken zu wollen.

"Orks zähmen zu wollen wäre wahrlich vermessen," entgegnete ich, "und wahrscheinlich erfolglos. Aber ich glaube, daß in jedem Mensch, jedem Tier und jedem Ork etwas Gutes steckt. Dieser gute Kern will nur gefunden und enthüllt werden."

"Das sind weise Worte," sprach Gandalf, "und für Menschen und Tiere zweifellos gültig. Orks allerdings ..." Er hielt inne. "Aber laßt uns von erfreulicheren Dingen reden. Vor allen Dingen sagt uns, ob ihr auf eurem Kundschafterritt jemandem begegnet seid."

Ich berichtete kurz über unsere Beobachtungen, worauf wir entschieden, ein Lagerfeuer riskieren zu können. Die Nacht war nun hereingebrochen und die Februarkälte machte sich bemerkbar. Anstelle eines großen Feuers, dessen Lichtschein zwangsläufig auffällig sein mußte, richteten wir mehrere kleinere Feuer ein, um jedem aus unserer Gesellschaft einen warmen Lagerplatz zu sichern. Die Elbinnen lagerten an einem Feuer und Aragorn, Gimli und Legolas am nächsten. Halef hatte sich zu ihnen gesellt, zweifellos um einige maßlos übertriebene Geschichten über unsere Abenteuer zum Besten zu geben, und so befand ich mich mit Gandalf am dritten Lagerfeuer. Das war mir lieb, denn dieser außergewöhnliche Greis hatte in ganz ungewöhnlichem Grade meine Teilnahme und – ich will es zugeben – auch meine Neugier geweckt.

Wie ich aus den Blicken zu entnehmen glaubte, mit denen er mich, Halef, unsere Pferde und unsere Ausrüstung gemustert hatte, war er nicht weniger an uns interessiert als ich an ihm. Als ich ihm von meinem Tabak anbot, ging er dankbar darauf ein und eine zeitlang genossen wir schweigend unsere Pfeifen, zu denen die Erzählungen des Hadschi und das Gelächter und die Bemerkungen seiner Zuhörer am benachbarten Feuer eine nicht unpassende Geräuschkulisse bildeten.

Nach einer Weile brach Gandalf das Schweigen. "Effendi, der Hadschi sagte vorhin, daß 'Kara Ben Nemsi' nur ein umschreibender Name ist, den du auf deinen Reisen benutzt. Willst du mir nicht deinen wirklichen Namen nennen?"

"Du würdest nichts damit anfangen können, Gandalf. Es ist ein Name in einer Sprache, die dir unbekannt ist."

"Bitte weiche mir nicht aus, Effendi, sondern sage mir deinen Namen," bat er eindringlich.

"Mein wirklicher Name würde dir nichts bedeuten," entgegnete ich.

"Sag ihn mir trotzdem. Ich bitte dich, Effendi."

"Nun gut. Mein Name würde in eurer Sprache etwa so lauten: Dok-Tor Karl Fried-Rich May. Ja."

Kaum hatte ich diese Silben ausgesprochen, da hoben sich seine Augenbrauen und ein Leuchten trat in seinen Blick. "Ich ahnte es! Deshalb war ich dir vom ersten Augenblick an so zugetan. Deshalb glaubte ich, in dir eine verwandte Seele zu erkennen. Du bist einer aus meinem Orden! Du bist ein Maia wie ich! Sei mir gegrüßt, Dok Tor Karl Fried Rich!" Damit stand er auf und verneigte er sich förmlich vor mir. Wieder aufblickend fuhr er fort: "Ich war nur überrascht, weil du in so jugendlicher Gestalt auftrittst."

Ich hatte mich aus Höflichkeit ebenfalls erhoben, als er seine Verbeugung vollführte. Nun war es an mir, zu staunen. Der Alte war ein Maya und hielt mich auch für einen? Sein Aussehen und seine Hautfarbe wirkten jedoch ganz und gar europäisch. Ich konnte keine Spur der klassischen mesoamerikanischen Physiognomie an ihm erkennen. Da ich ihn aber keinesfalls beleidigen wollte, hielt ich es für das Beste, ihm nicht zu widersprechen. Vielleicht würde ich im weiteren Gespräch mehr herausfinden.

Nun kam der Alte ganz nahe heran, faßte mich an den Schultern und musterte aufmerksam mein Gesicht. "Allah Tar?" murmelte er, als ob er zu sich selber spräche. "Nein," winkte er ab. "Pallando? ... Auch nicht." Er trat einen Schritt zurück und fragte prüfend: "Sie gingen in den Osten. Weiß man, was mit ihnen geschehen ist?"

Ich hatte diese Namen noch nie gehört, also schüttelte ich verneinend den Kopf.

"Wer hat dich gesendet?" fuhr Gandalf fort.

"Gesendet? Niemand. Ich pflege zu reisen, wann und wohin es mir gefällt."

Unwirsch schüttelte er den Kopf. "Wir sind unter uns, Dok Tor, wir brauchen keine Geheimnisse vor einander zu haben. Ich weiß, daß du aus dem Westen kommst."

Das verblüffte mich nun außerordentlich. Wie konnte er ahnen, daß ich vor wenigen Wochen von einer Reise in die Staaten zurückgekehrt war? "Nun ja ..." murmelte ich. "Ich war tatsächlich kürzlich im Westen. ... Und wenn man so will, könnte man sagen, ich reiste für Fehsenfeld ... Die Zusammenarbeit mit Münchmeyer mußte ich aufkündigen. Ich sollte seine Schwägerin heiraten. Eine furchtbare Person. Hätte mich dafür von Emma scheiden lassen müssen ... Grauenhafter Gedanke ... Glücklicherweise ergaben sich Aufträge von Spemann und Pustet. Das half mir über die ersten Jahre nach Münchmeyer hinweg. ... Und dann kam Fehsenfeld und die Buchausgaben der Gesammelten Reiseerzählungen und alles wurde anders ..." Erstaunt hielt ich inne. Warum erzählte ich Gandalf das alles? Diese persönlichen Dinge gingen ihn doch gar nichts an. Aber Gandalf war ein Mensch, dem man Vertrauen entgegenbringen mußte, ob man wollte oder nicht. Er hatte eine Art, einem direkt in die Seele zu schauen, wie ich es nur – ja, wie ich es sonst nur von Marah Durimeh kannte (14). Nun war mir klar, warum er der Anführer der Gefährten gewesen war: nicht aufgrund von hoher Geburt oder edler Abstammung (obwohl auch dies auf ihn zutreffen mochte), sondern wegen seiner Weisheit und inneren Stärke, wegen des Vertrauens, das er erweckte und der Freundschaft, die er gab.

Gandalf runzelte die Stirn. "Wer ist Fee Senf-Held? Wohl wieder ein neuer Beiname von Varda?" Er winkte ab und ließ sich wieder am Feuer nieder. "Nun gut, nun gut, jedenfalls bin ich froh, daß du nicht von Aule gesandt wurdest ..."

Gerade setzte ich dazu an, eine Frage nach Varda und Aule zu stellen, da fiel sein Blick auf meine Gewehre. "Wie ich sehe, werden Zauberstäbe heute mit vielen Metallteilen hergestellt. Aber sie sind so kurz. Da taugen sie wohl nicht als Wanderstab. Oder kann man sie ineinanderstecken?"

"Nein, das kann man nicht."

"Wozu sind die Lederriemen gut, die an ihnen befestigt sind?"

"Um sie über der Schulter zu tragen."

Das schien ihm einzuleuchten, denn er nickte bedächtig. "Ja, beim Reiten ist das sicher praktisch. Ich habe mit meinem da immer Schwierigkeiten. – Aber warum benötigst du zwei davon?"

"Sie haben unterschiedliche Anwendungsbereiche." Ich nahm den Henrystutzen zur Hand. "Sieh diesen kleinen Zauberstab. Er kann in rascher Folge viele Blitze schleudern und damit eine große Gruppe von Angreifern aufhalten. Dafür ist seine Reichweite begrenzt." Ich reichte ihm den Stutzen und er strich wie ein Kenner über Kolben, Schloß und Lauf. Ob er eine solche Büchse schon einmal gehandhabt hatte?

"Und dieser größere Zauberstab?" fragte er, indem er auf den Bärentöter zeigte.

"Er schleudert immer nur zwei Blitze in Folge, aber das auf große Entfernung und mit hoher Durchschlagskraft. Man nennt ihn" – ich dachte an Pippins Erzählung über den Bären und setzte den hiesigen Namen ein: "– Man nennt ihn Balrogtöter."

Gandalf zuckte zusammen und blickte mich scharf an. Schmerzliche Erinnerungen schienen sich in seinem Antlitz zu spiegeln. "Nenne ihn nicht! Er ist furchtbar! Kein Zauberstab kann ihm etwas anhaben. Er ist stärker als sie." Mißtrauisch beäugte er mich und die Doppelbüchse. "Hast du ... Hast du mit diesem Zauberstab schon einen Balrog getötet?" fragte er, wobei er seine buschigen Augenbrauen furchterregend in die Höhe zog.

"O ja, schon öfters. Den gewöhnlichen Braunen Balrog ebenso wie den kleineren Kurdischen Balrog. Und drüben im Bilad el Amirika habe ich den großen grauen Grizzly-Balrog des Felsengebirges erlegt, der–"

Gandalfs Augen hatten sich bei dieser Erklärung entsetzt geweitet und nun fiel er mir donnernd ins Wort: "Schweig still, Effendi! Du redest in Rätseln. Du sprichst von Dingen von denen du nichts verstehst! Deine Balrogath sind nicht meine Balrogath!" Damit drehte er mir den Rücken zu, zog seinen Mantel enger um die Schultern und blickte ins Lagerfeuer. Im Gegenlicht sah ich seine Bartspitzen zittern. Diese scharfe Reaktion verblüffte mich. Offenbar hatte Gandalfs Begegnung mit dem Bären tiefe innere Wunden hinterlassen, die noch nicht verheilt waren. Ich beschloß, das Thema jetzt nicht weiter zu verfolgen und tröstete mich mit dem Gedanken, daß sich, wenn wir länger zusammenblieben, sicher noch eine Gelegenheit ergeben würde, um Gandalf über Balrogs und auch über Varda, Aule, Allah Tar, Pallando und seine angebliche Maya-Abstammung auszufragen. Dieser ehrwürdige Greis, der so bemerkenswerte Fähigkeiten besaß, war mir in vielerlei Hinsicht ein Rätsel, ein Rätsel, das es zu lösen galt.

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Fußnoten:
(13) siehe Karl May, Gesammelte Werke, Band 135: In den Schluchten des Ered Nimrais.

(14) siehe Karl May, Gesammelte Werke, Band 2: Durchs wilde Kurdistan.

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Amerkung: Der Inhalt des Gesprächs zwischen Gandalf und Kara Ben Nemsi mit den Anspielungen auf das Schicksal der Ithryn Luin im Osten, auf Aule (der Curunír nach Mittelerde schickte) u.a. wird nur denjenigen Lesern völlig verständlich sein, die über die Geschichte der Istari Bescheid wissen. Wer nur The Lord of the Rings kennt, dem wird zwangsläufig einiges unklar bleiben. Ich empfehle die Lektüre der UT (J.R.R. Tolkien, Unfinished Tales, Part IV, chapter II, The Istari).
Mays Biographie, insbesondere seine Zeit bei Münchmeyer und Fehsenfeld setze ich als bekannt voraus.