Es war noch früher Morgen als die Sonne ihre ersten Strahlen durch die weite Landschaft schickte und die Moore in ein märchenhaftes Licht tauchte. Sie versprach einen hellen, von Freude erfüllten Tag. Dies war nicht immer so gewesen. Lange Zeit hatte die Dunkelheit die Moore und auch die Menschenwelt regiert und eine noch längere Zeit standen sich beide Reiche in Feindschaft gegenüber - doch diese Zeiten waren vorbei. Die Liebe hatte gesiegt und den Frieden mit sich gebracht, der seitdem durch eine Brücke zwischen den beiden Welten für jeden sichtbar war. Auch die Bewohner der Moore hatten trotz vieler schmerzlicher, und noch immer nicht vollständig überwundener Verluste an der Zahl zugenommen: die einst im Exil lebenden Fae hatten die Moore zu ihrer neuen Heimat auserkoren und trotz der großen Artenvielfalt und der dementsprechend unterschiedlichen Lebensgewohnheiten, hatte jede Art ihre Nische gefunden. Alle Wesen lebten in Harmonie und diese sollte auch niemals wieder durch einen Krieg oder einen größeren Konflikt bedroht werden. Es waren Friedenszeiten.
Hoch oben, weit über den Baumkronen auf einem Felsvorsprung, tat sich etwas. Eine schlanke Gestalt trat aus der hinter dem Vorsprung gelegenen Höhle, setze sich an den Abgrund und sah gedankenverloren in den Sonnenaufgang hinaus. Ihre mächtigen schwarzen Flügel hatte sie leicht ausgebreitet, sodass sie aus der Ferne wirkte wie ein übergroßer Vogel. Aus der Nähe aber erkannte man in dem Vogel eine gehörnte und geflügelte Frau, eine Fae. Ihre aus den langen Haaren hervorstechenden Hörner und ihr schwarzes Gewand ließ sie fast etwas bedrohlich wirken. Doch das war sie nicht. Nicht mehr.
"Herrin!"
Ein Mensch trat hinter ihr aus der Höhle heraus.
"Guten Morgen Diaval."
Der Mensch setzte sich neben seine Herrin. Nur die schwarzen Federn in seinen kurzen dunklen Haaren ließen erahnen, dass es sich bei diesem Menschen in Wirklichkeit um einen verwandelten Raben handelte. Seine Herrin, Maleficent, hatte ihm einst durch eben diese Verwandlung das Leben gerettet und er hatte sich als Dank auf ewig in ihren Dienst gestellt. Doch seine Schulden waren schon lange beglichen, Maleficent brauchte keinen Diener mehr und nur Diaval selbst wusste, warum er sie noch stehts als seine Herrin ansprach. Schon einiger Zeit hatte Maleficent ihn aus seinem Dienst entlassen, befürchtend, dass er sie daraufhin verlassen würde. Doch er war als ihr treuer Gefährte an ihrer Seite geblieben. Die dunklen Jahre hatten die beiden zusammengeschweißt und eine Freundschaft erwachsen lassen und auch wenn Maleficent dies niemals laut zugeben würde, insgeheim war sie sehr glücklich über Diavals Gesellschaft. Er war in den schwierigsten Stunden bei ihr geblieben, hatte anstandslos ihre Launen ertragen und hatte sie am Ende trotz ihrer eigentümlichen und manchmal bösartig wirkenden Art doch nicht verlassen. Er kannte sie besser als jeder andere und sie konnte sich keinen besseren Gefährten an ihrer Seite vorstellen. Auch wenn sie ihm dies niemals sagen würde.
"Die Sonne geht auf.", stellte Diaval fest.
"Welch überaus kluge Erkenntnis.", bekam er sarkastisch zur Antwort. "Setz dich zu mir."
Diaval tat wie geheißen und nahm neben der Fae auf der Felskante Platz. Etwas ängstlich sah er in den Abgrund.
"Du hast aber schon vor Augen, dass ich als Mensch nicht fliegen kann?"
"Wärst du lieber ein Käfer?"
"Mir würde es schon reichen wenn ich hier nicht runterfalle. Warum musstest du den Platz für dein Nest auch ausgerechnet in dieser Höhe wählen? In Menschengestalt ist das äußerst unangenehm.", beschwerte sich Diaval.
"Du hättest mir ja nicht folgen müssen."
"Damals stand ich noch in deinem Dienst. Natürlich musste ich dir folgen. Wenn du allerdings wünscht, dass ich nun fortgehe, dann werde ich das tun. Also? Möchtest du, dass ich gehe?"
"Werde zum Raben." Dunkler Nebel hüllte sich um die Kreatur und die Menschengestalt wandelte sich zu der eines Raben. Seiner Sprache entledigt und einer Laune Maleficents zum Opfer gefallen, krächzte er ein paar Mal beleidigt und stürzte sich dann in die Tiefe, wo seine ausgebreiteten Schwingen ihn auffingen und in die Ferne davontrugen. Wäre er wirklich unerwünscht, wäre er schon längst davongejagt worden, dessen war er sich sicher. Er würde in einer Diskussion jedoch immer den Kürzeren ziehen, da er, wenn er dabei war zu gewinnen, stets einfach verwandelt wurde. Doch daran hatte er sich längst gewöhnt.
Maleficent indes unternahm ebenfalls einen Streifzug durch die Moore. Es zog sie in ein Dorf der Fae. Genoss sie das Alleinsein doch oft sehr, so freute sie sich trotzdem über die neue Gesellschaft durch ihresgleichen und kam ihre Artverwandten dementsprechend oft besuchen.
"Guten Morgen Maleficent!", schallte es ihr schon von weitem entgegen. Es war Borra, ein Anführer der Fae. Er selbst hielt sich jedoch häufig für größer als er es war und brachte Maleficent mit seinem aufplusternden Gehabe oft zum Schmunzeln.
"Guten Morgen Borra."
"Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt."
"Ich war vorgestern erst da, nur hast DU dort durch Abwesenheit geglänzt."
"Bedauerlicherweise war ich vorgestern gerade mal nicht im Dorf, da hast du Recht. Aber umso besser, dass wir uns jetzt treffen. Du hast nämlich das große Glück, heute von mir zum Abendessen eingeladen zu werden." Der verführerische Unterton in Borras Stimme entging auch Maleficent nicht und sorgte für ein unbehagliches Ziehen in ihrer Magengegend.
"Ich denke, ich kann mich um mein Abendessen schon gut alleine kümmern.", gab sie zur Antwort.
"Komm schon", versuchte Borra es weiter, "sei nicht immer so verschlossen. Wir wissen beide, dass du dich tief im Inneren nach einem Partner sehnst." Wie eine Katze schnurrend ging er um Maleficent herum und machte Anstalten, seine Hände auf ihre Flügel zu legen. Doch in dem Moment, als er sie berührte, drehte die gehörnte Fae sich ruckartig um und schleuderte Borra gegen einen Baum.
"Wag es noch einmal mich zu anzufassen!", zischte sie ihm gefährlich drohend zu.
"Wag es noch einmal mich so zu behandeln!", bekam sie als Antwort. "Es ist dieser dreckige Rabe, habe ich Recht? Er ist der Grund, warum du mich ablehnst. Ich hoffe du weißt was für einen schweren Fehler du machst. Du verrätst unsere ganze Art!"
Den letzten Satz spuckte er ihr regelrecht vor die Füße, doch das war ihr egal. Es war etwas anderes, was sie erzürnte und dazu brachte, Borra anzuschreien.
"Bezeichne Diaval noch einmal als dreckig und der Baum in deinem Rücken wird noch das sanfteste sein, was du zu spüren bekommst! Und nein, entgegen deiner Vermutung haben wir nichts miteinander. Der Grund für meine Ablehnung bist einzig und allein du!"
"Maleficent!" Eine jugendliche Fae kam angelaufen, von der Auseinandersetzung hatte sie kaum etwas mitbekommen. Unwissend hielt sie Borra durch ihr Erscheinen jedoch davon ab, einen Angriff auf die Angesprochene zu starten, welcher vermutlich in einem erbitterten Kampf zwischen den beiden Fae geendet wäre. Maleficent genoss große Beliebtheit unter den Fae, weswegen es schon fast verwunderlich war, dass sie erst jetzt auch von den anderen im Dorf wahrgenommen wurde. Doch sie brauchte Raum zum Atmen und so erhob sie sich in die Lüfte, ohne ihre junge Artgenossin eines Blickes zu würdigen. Sie würde sich ein anderes Mal mit ihr beschäftigen.
Dunkle Ruinen ragten vor der Fae empor. Sie landete auf der obersten Etage, schritt die beschädigten Stufen hinab und ließ sich in eine Ecke sinken. Die Luft war kalt und es roch nach modrigem Gestein, doch das kümmerte sie nicht. Tief im Schmerz versunken hatte sie diesen Ort einst gefunden, kurz nachdem ihre Flügel ihr geraubt worden waren. Damals hatte er ihr Zuflucht vor fremden Blicken und einen Ort zum Alleinsein gegeben. Der Konflikt mit Borra hatte negative Emotionen und mit ihnen auch negative Erinnerungen hervorgerufen. Erinnerungen an die Nacht, als sie vom späteren König und ihrem früheren Freund Stephan aufgesucht worden war, sie sich versöhnt hatten und er sie noch in derselben Nacht aufs Tiefste verletzt hatte. Nicht körperlich, die Wunden, die die abgeschnittenen Flügel hinterlassen hatten, waren schnell verheilt. Doch die Wunden in ihrer Seele hatten tiefe, noch immer deutlich sichtbare Narben hinterlassen. Sie waren der Grund, warum Maleficent stets verschlossen war, sich niemandem öffnete. Und Stephan hatte ihr ausgerechnet ihre Flügel genommen. Die Flügel einer Fae waren das Wertvollste, was sie besaß und gleichzeitig auch der empfindlichste Teil des ganzen Körpers. Die bewusste Berührung durch einen anderen erforderte tiefes Vertrauen. Fühlte sich die eines geliebten Menschen oft sehr angenehm und wohltuend an, so konnte eben dieser Mensch mit seiner Berührung auch große Schmerzen heraufbeschwören. So wie Stephan damals. Sie hatte ihm auf seine Bitte hin eine Berührung gestattet und die daraus resultierenden Schmerzen aus Liebe zu ihm ausgehalten. Damals dachte sie noch, es müsse so sein. Seitdem hütete sie ihre Flügel noch weit mehr und niemand auf der Welt, nicht einmal ihre Adoptivtochter Aurora, durfte sie anfassen. Und Borra hatte diese Grenze gerade wissentlich übertreten.
Unmerklich bahnten sich die ersten Tränen den Weg über ihr Gesicht. Der Schmerz, den Borra hervorgerufen hatte, fraß sich in ihr Innerstes und sie schlag die Arme um ihren Körper. Es dauerte nicht lange bis sie vollständig in sich zusammensank und haltlos zu Schluchzen begann.
An einem anderen, weit höher gelegenen Ort der Moore landete ein Rabe auf dem Felsvorsprung. Es war Diaval, der nun schon zum zweiten Mal nach Hause gekommen war um nach seiner Herrin zu suchen. Er hatte sie seit dem Morgen nicht mehr gesehen und langsam begann er sich zu sorgen. Die Nachmittagssonne stand bereits hoch am Himmel. Normalerweise kam Maleficent zumindest gegen Mittag kurz zurück oder man fand sie im Dorf der Fae - heute war sie wie vom Erdboden verschluckt. Auch die alte Eiche, einer ihrer Lieblingsplätze, war leer. Und, wie Diaval nun feststellen musste, auch in ihrem großen Nest zu Hause, wo er sie vorzufinden gehofft hatte, fehlte jede Spur. Geknickt ließ der Rabe sich in besagtem Nest nieder. Die Sorge nagte an seinem Innersten, was sollte er tun, wenn seine Herrin nicht mehr zurückkam? Mit dem Schnabel zog er eine dunkelbraune Feder aus den Fasern der im Nest liegenden Wolldecke. Noch nie hatte er eine Feder von ihr aus dieser Nähe gesehen oder gar berührt. Sie musste Maleficent beim Schlafen ausgefallen sein. Gedankenverloren betrachtete er wie sich das Licht in der glänzenden schwarzen Feder spiegelte. Es war die schönste Feder, die er jemals gesehen hatte. Oft schon hatte er seine Herrin heimlich beobachtet. Ihre Flügel wirkten auf den ersten Blick einfach nur schwarz, doch sah man genau hin erkannte man, dass sie einen bläulichen Schimmer besaßen, der das Licht spiegelte und die Federn auf die schönsten Arten glänzen ließ. Sie waren so schön wie ihre Besitzerin selbst. Diaval wusste nicht mehr, wann die Schwärmerei für seine Herrin angefangen hatte, doch inzwischen konnte er an niemand anderen mehr denken. Sie verfolgte ihn in seine Träume und beeinflusste sein Denken und Handeln am Tag. Er kannte sie besser als jeder andere und hatte in schwierigen Zeiten viel von ihr aushalten müssen. Und doch hatte er sich Tag für Tag ein Stück mehr in die so launisch scheinende Gestalt verliebt. Er wusste, dass die kühle Art nur eine schützende Fassade war, hinter der sich eine gebrochene und noch immer tief verletzte Frau verbarg, die Angst hatte, erneut verletzt zu werden. Er kannte nicht die ganze Geschichte, aber er wusste, dass sie großen Schmerz hatte ertragen müssen, ohne dass er etwas daran hätte ändern können. Wie gerne würde er ihr aber jetzt zeigen, dass es nicht nur Böses auf der Welt gab und es Kreaturen gab, die sie ehrlich und wahrhaftig liebten. Doch das setzte voraus, dass sie überhaupt anwesend war. Dass sie überhaupt jemals zurückkam. Diaval dachte an das erste Mal zurück, das er sie gesehen hatte. Damals hatte sie sich in eine dunkle, kalte Ruine zurückgezogen gehabt, die damals auch als sein eigener Rückzugsort gedient hatte. Sie hatte ihn fortgejagt und - er hielt in seinem Denken inne. Die Ruine! Er hatte alle Plätze abgesucht, bis auf diesen. Er war seit Jahren nicht mehr dort gewesen und sie seines Wissens auch nicht und doch schwang er sich wie von einer fremden Macht getrieben in die Luft und jagte in Richtung des Gemäuers davon. Würde sie da sein, würde es ihr vermutlich nicht gut gehen und er würde sie in ihrem Leid sicher nicht alleine lassen, so sehr sie ihn dafür auch verfluchen mochte.
Maleficent kauerte noch immer in ihrer Ecke, die Knie dicht an den Körper gezogen, die Flügel schützend um sich gelegt. Ihre Augen waren gerötet und angeschwollen, doch die Tränen schienen niemals enden zu wollen. Nur am Rande nahm sie wahr, dass sie nicht mehr allein im Raum war. Erst als es neben ihr krächzte, löste sie sich aus ihrer Starre. Eilig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich an einer aufrechten, stehenden Körperhaltung, jedoch sah man ihr die Spuren der letzten Stunden deutlich an.
"Was willst du hier?!", fuhr sie Diaval an. "Verschwinde! SOFORT!" Hatte ihre Stimme anfangs noch gezittert, erfüllte das Donnern beim letzten Wort den gesamten Raum und grüner Nebel bildete sich um sie herum. Der Rabe wich einen Schritt zurück, blieb dort jedoch unbeeindruckt sitzen und krächzte weiter. Er wusste, dass sie ihm nicht wehtun würde.
"Hast du mich nicht verstanden?! Du sollst verschwinden!"
Wie bei ihrer ersten Begegnung blies sie einen magischen Wind in Richtung Diavals und sorgte dafür, dass der Boden unter seinen Füßen zu Glühen begann. Der Rabe schwang sich in die Luft und landete an einer anderen Stelle wieder. Es brach ihm das Herz, Maleficent so zu sehen. Also sah er sie nur unentwegt an und gab ihr so zu verstehen, dass er sie in ihrem Zustand sicher nicht sich selbst überlassen würde.
"Kannst du nicht hören? Ich will allein sein.", versuchte sie es noch einmal, diesmal mit deutlich schwächerer Stimme. Sie wusste, dass es ja doch keinen Zweck haben würde und insgeheim war sie sogar dankbar, dass der Vogel sie gefunden hatte und so ließ sie sich an die Wand gelehnt wieder zu Boden sinken. Außerdem hatte er sie nun sowieso schon in ihrem aktuellen Zustand gesehen und dementsprechend machte es ja doch nichts mehr aus. Diaval hüpfte zu ihr und legte fragend seinen Kopf schief.
"Na dann komm halt.", gab Maleficent endgültig nach und ihr streckte ihre Beine aus, sodass ihr gefiederter Gefährte auf ihrem Schoß Platz nehmen konnte. Er schmiegte seinen Kopf in ihre Hand und versuchte ihr auf diese Art Trost zu spenden. Schweigend saß sie da, die Augen ins Leere gerichtet. Sie wollte es sich kaum eingestehen, aber es war gut, dass sie nicht mehr allein war. Und es war gut, dass es Diaval war, der sie gefunden hatte. Hatte er sich um sie gesorgt? Es wäre das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sich jemand um sie sorgen würde. Es WAR das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sich jemand um sie kümmerte und sie mit ihrem Schmerz nicht allein gelassen wurde. Wenn sie genauer darüber nachdachte musste sie feststellen, dass ihr Gefährte der wirklich beste Freund war, den sie hätte haben können. Doch war er wirklich nur ein Freund für sie? Borras Worte hatten sie zum Nachdenken angeregt. Schon seit einiger Zeit bemerkte sie, dass ihr das klare Denken in Anwesenheit des schwarzen Vogels zunehmend schwerer fiel. Es gefiel ihr nicht. Diaval war nur ein Freund, mehr durfte er nicht sein. Sie hatte sich geschworen niemanden mehr so dicht an sich heran zu lassen, es würde sie nur wieder verletzen. Doch war Diaval wirklich wie alle anderen? Er war der Einzige, der im schlimmsten Sturm zu ihr gehalten hatte, nie hatte er sie im Stich gelassen oder ihr an Leid angetan. Mutig und ehrlich hatte er ihr seine Meinung gesagt und anstandslos ihre daraus resultierenden Launen ertragen. Nein, er war nicht wie alle anderen. Er war etwas Besonderes. Und er war sicher nicht an einer Person interessiert, deren Launen mehrmals täglich umschlugen und die in ihrer blinden Wut bereits ein Kind verflucht hatte. Sie würde damit leben müssen, dass er irgendwann eine ihm ebenbürtige Pertnerin finden und sie verlassen würde.
Sanft nahm sie den Vogel auf ihrem Schoß in die Hände und setzte ihn neben sich auf den Steinboden.
"Werde zum Menschen."
Der altbekannte Nebel hüllte sich um ihn, seine Flügel wurden zu Fingern, sein Schnabel zu einer spitzen Nase und die Federn auf seinem Kopf wurden zu Haaren - zumindest zum Großteil. Schweigend sah Diaval seine Herrin an. Als ihre Blicke sich trafen erschauderte er vor dem was er sah. Noch nie hatte er solch tiefen Schmerz in ihren Augen gelesen. Es war, als würde er ihr direkt in die Seele und damit auf all ihre Narben und noch offenen Wunden blicken. Vorsichtig legte er aus einem Instinkt heraus einen Arm um sie, bedacht darauf, auf keinen Fall ihre Flügel zu berühren. Als er realisierte was er getan hatte, rechnete er schon damit, gleich wieder in irgendetwas Abscheuliches verwandelt und zur Tür hinausgejagt zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen schlang Maleficent ebenfalls ihre Arme um ihn und platzierte sich selbst so, dass sie ihren Kopf gegen seine Brust sinken lassen konnte. Beruhigend stricht er ihr übers Haar, als sie wieder leise zu weinen begann. Lange saßen sie so da, bis ihre Tränen versiegt waren.
"Danke, dass du gekommen bist.", flüsterte sie irgendwann ganz leise in die Stille hinein.
"Ich habe mir Sorgen gemacht. Du bist den ganzen Tag nicht zurückgekommen, ich dachte schon dir wäre etwas zugestoßen. Ich meine, du könntest dich verletzt haben und..." Zitternd brach er ab, zu sehr ängstigte ihn die Vorstellung, die sich gerade in seinem Kopf ausbreitete.
"Hey, ganz ruhig, ich bin hier, lebendig und unverletzt." Nun war sie es, die ihn an sich heranzog und festhielt, bis seine Atmung sich wieder beruhigt hatte.
Er hatte sich wirklich um sie gesorgt, das berührte sie sehr. Und ein bisschen wunderte es sie auch. Er konnte sich doch bestens alleine versorgen?
"Warum hast du dir Sorgen gemacht? Du könntest gut ohne mich auskommen.", gab sie zu bedenken.
"Nein, das könnte ich nicht."
"Natürlich könntest du. Du hast sich vor unserer Begegnung als Rabe perfekt am Leben gehalten, das könntest du jetzt genauso."
"Ich habe mich vielleicht unklar ausgedrückt", merkte der menschgewordene Rabe an, "Ich könnte ohne dich überleben, aber ich würde es nicht wollen."
Mit dieser Antwort hatte Maleficent nicht gerechnet und es verschlug ihr für eine kurze Zeit die Sprache.
Auch Diaval war etwas überrascht. Es tat gut, ehrlich zu sein, aber er musste aufpassen, dass er nicht zu weit ging und etwas zerstörte, was er nicht zerstören wollte. Dennoch war er nicht bereit zu lügen und langsam war er es auch satt, seine Gefühle zu verstecken.
"Warum würdest du ohne mich nicht leben wollen? Du könntest eine Partnerin finden, eine Familie gründen. Alles Dinge, von denen ich dich mit meiner Gesellschaft abhalte."
"Es fehlt mir bei dir doch an nichts", antwortete Diaval, "und eine Familie habe ich bereits."
Die zweite Aussage versetzte Maleficent einen Stich. Hatte er bereits eine Familie geründet, ohne dass sie davon mitbekommen hatte? Vielleicht war das der Ort, den er auf seinen täglichen Streifzügen immer besuchte. Der kleine Funken Hoffnung, den Diaval noch gerade eben in ihr erweckt hatte, erlosch wieder.
"Wo lebt sie, deine Familie? Stellst du sie mir irgendwann vor?", fragte sie mit einer Spur Bedauern in ihrer Stimme.
Diaval drehte seinen Kopf um sie geradewegs anzusehen.
"Du bist meine Familie."
"Was?" Maleficent war abermals sprachlos. Konnte es doch sein, dass...?
"Du bist meine Familie.", wiederholte der Vogel scheu seine Worte. "Und ich muss dir etwas gestehen...Ich habe mich in dich verliebt, Maleficent."
Jetzt war es raus. Er machte sich auf ein Donnerwetter gefasst. Sie würde ihn fortjagen, ihn auslachen, für verrückt erklären...doch nichts dergleichen geschah.
Träumte sie? Noch vor nicht einmal einer Stunde hatte sie gedacht, sie würde vor lauter Traurigkeit und Verzweiflung vergehen und jetzt...alles in ihr begann zu kribbeln.
"Meinst du das ernst?", fragte sie nach einem kurzen Moment.
"Voll und ganz. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Und es ist für mich Ordnung, wenn du das nicht erwiderst, nur -"
Weiter kam er nicht, denn Maleficent legte ihre Lippen auf seine und initiierte so den ersten Kuss.
Und Diaval verstand ihn. Er hatte häufig beobachtet, wie sowohl die Menschen als auch die Fae so etwas taten und sich immer gefragt, was daran schön sein sollte. Doch nun verstand er es. Für ihn grenzte der Moment an einen Traum. Maleficents Lippen waren unglaublich weich und bewegten sich sanft gegen seine. Viel zu schnell war der Moment wieder vorbei.
Stirn an Stirn sahen sie sich tief in die Augen.
"Es klingt übrigens wunderschön, wenn du meinen richtigen Namen verwendest.", flüsterte die Fae gegen seine Lippen.
In den Augen, in denen vor kurzem noch der reine Schmerz zu lesen gewesen war, zeigte sich nun eine tiefe Zuneigung und Sanftheit, zwei Dinge von denen Diaval nie gedacht hätte, sie jemals bei dieser Person wahrnehmen zu können.
Diese konnte ihr Glück noch immer nicht so recht glauben. Nicht nur konnte sie sich selbst endlich eingestehen und zulassen, dass sie sich neu verliebt hatte - genau diese Liebe wurde auch noch erwidert. Und, so schwer ihr das Vertrauen auch noch viel, diesmal würde es anders werden, das spürte sie.
"Komm, lass und nach Hause fliegen.", schlug sie nach einer Weile des stummen Beisammenseins vor.
Wieder zum Raben geworden erhob sich Diaval gemeinsam mit ihr in die Lüfte.
Als sie auf ihrem Felsvorsprung landeten, begann die Sonne bereits unterzugehen. Nebeneinander ließen sich die Fae und der nun wieder zum Menschen verwandelte Vogel auf dem Felsvorsprung nieder. Diesmal verkniff Diaval sich den Kommentar bezüglich der Höhe, denn er vertraute darauf, dass Maleficent ihn auffangen würde, sollte er wirklich abrutschen und in die Tiefe stürzen. Gedankenverloren betrachtete er seine Gefährtin...seine Partnerin. Instinktiv legte er einen Arm und sie und zog ihn gleich darauf wieder zurück, als hätte er sich verbrannt. Versehentlich hatte er die Hand auf einen ihrer Flügel gelegt, etwas was sie niemandem gestattete. Es war eine Grenze, die er aus tiefem Respekt vor ihr und seiner Wertschätzung ihr gegenüber niemals übertreten würde.
Leise lachend blies sie Luft durch die Nase aus. Es berührte sie tief, dass er ihre Grenzen so ernst nahm. Und es veranlasste sie, etwas ausprobieren zu wollen.
Seine Reaktion stets im Blick behaltend rutschte sie ein kleines Stück von ihm weg und bewegte ihren linken Flügel in die freigewordene Lücke. Die Größe erschwerte ihr Vorhaben, doch sie schaffte es, ihren Flügel so in seine Richtung zu bewegen, dass Diaval ihn erreichen konnte, ohne darunter begraben zu werden. Dieser sah sie fragend mit großen Augen an.
"Du meinst...soll ich, ich meine darf ich...?
Sie nickte.
Ganz vorsichtig und auch etwas ängstlich streckte Diaval die Hand aus. Er wollte Maleficent nicht weh tun. Andächtig strich er über das bläulich schimmernde Federkleid, was sie dazu veranlasste die Augen zu schließen. Es fühlte sich unglaublich gut an. Kein Stechen, keine Schmerzen, einfach nur Diavals wohltuende Hände, die über ihre Federn wanderten. Mutiger werdend stand dieser auf und nahm hinter ihr Platz um auch den anderen Flügel erreichen zu können. Vorsichtig arbeitete er sich von den Schulterblättern bis zu den am ersten Gelenk angewachsenen Krallen vor, immer darauf bedacht, es für Maleficent zu einer angenehmen Erfahrung zu machen. Diese legte genießerisch den Kopf in den Nacken. Sie hatte es das erste Mal wieder geschafft, jemandem vollständig zu vertrauen und war nicht enttäuscht worden. Diavals Hände auf ihren Flügeln waren eines der schönsten Gefühle, die sie seit langem gefühlt hatte. Ausgelöst durch den eigentümlichsten und zugleich wundervollsten Vogel, den die Welt ihr hätte schenken können.
"Ich liebe dich, Diaval."
