Devote your love, but…
Gedanklich noch bei der letzten Vorlesung über diverse mathematische Grundprobleme verließen etwa fünfzig Studenten das Ehrfurcht erregende Gebäude der größten Universität in Tokio. Sie alle hatten jetzt frei, hatten genug von Mathematik und Jura und allem, was dazu gehörte, denn schließlich hatten sie den gesamten Vormittag und auch den Nachmittag lang nichts anderes mehr gehört als das.
Zu einen von ihnen zählte ein Russe namens Kai Hiwatari.
Gerne wollte er als unscheinbar und unauffällig beschrieben werden, doch war sein Charakter und sein Auftreten das genaue Gegenteil. Keiner der anderen Studenten hatte je ein Wort mit ihm gewechselt, aber trotzdem kannten sie ihn alle beim Namen und wussten, wie sie ihm gegenüber zu treten hatten, wenn er sie denn jemals ansprechen würde.
Die Wahrheit war, dass sie in gewisser Weise sogar Angst vor ihm hatten. Immerhin hatte ihn noch nie jemand lächeln gesehen und auch noch nie hatte jemand seine Stimme gehört oder das Gefühl gehabt, er hätte sich Zeit für einen von ihnen genommen und wollte sich mit ihnen anfreunden.
Es schien eher so, als wäre er die gesamte Zeit voll bei den Vorlesungen dabei und wenn er dann mal Pause hatte und die anderen Studenten zumeist bei strömenden Regen unter den schmalen Dächern standen und ihrer Nikotinsucht nachgingen, stand er hingegen in den breiten Gängen des großen Gebäudes und war meist in eines der Unterrichtsbücher vertieft.
Kai selbst hingegen war froh, dass sie ihn in Ruhe ließen. Er sagte sich, dass eine Nervensäge zuhause schon genug für ihn war und vermied aus diesem Grunde alle Möglichkeiten, irgendwie in Kontakt mit den anderen zu kommen. Immerhin war das auch nicht ausschlaggebend für sein Studium, denn er war hier, um eine gute Zukunftschance zu ergattern und nicht, um neue Bekanntschaften zu machen, wie nach ihrem Abgang dann eh wieder verschwinden würden.
Außerdem war Kai sowieso lieber alleine. Das war er immer gewesen und er war es gewohnt; kannte es von daher nicht anders. Seine Kindheit war nicht unbedingt die beste und schönste gewesen, aber nun war er erwachsen und sagte sich, dass er alles, was damals schief gelaufen war, jetzt ändern konnte und das tat er auch, wenn er die Chance dazu bekam. Immerhin hatte er es jetzt geschafft, sich ein eigenes Leben aufzubauen – in Tokio. Denn genau genommen kam er ja aus Russland.
Seine derzeitige Behausung war eine relativ kleine Studentenwohnung, die er sich mit seinem Freund bewohnte. Und ebendieser Freund war auch die so genannte Nervensäge, die Kai mittlerweile in seinen Träumen so auf die Nerven ging, dass er nachts nicht mehr schlafen konnte und stattdessen es dann aufgab und lieber weiter für sein Studium lernte.
Es war ja nicht so, dass Kai Ray nicht lieben würde. Er war kein Typ, mit dem man so einfach zurecht kam und er hatte den Chinesen dafür bewundert, dass er es auf Anhieb geschafft hatte. Es hatte ihn fasziniert. iEr/i hatte ihn fasziniert. Vielleicht hatte er sich gerade aus diesem Grunde überhaupt auf ihn eingelassen.
Aber eigentlich war Ray ein furchtbar lieber Kerl. Er sah – nach Kais Meinung – ziemlich gut aus, war sehr intelligent und lieb, doch hatte leider ein etwas penetrantes Helfersyndrom und konnte des weiteren teilweise eine sehr nervige Laune haben, die bei Kai natürlich an der falschen Stelle war, denn für den war das der reine Horror.
Und Kai hatte das Gefühl, dass Rays nervige Laune von Tag zu Tag schlimmer wurde…
Als sie zusammen gezogen waren, war alles wunderbar gewesen. Sie kannten sich schon aus ihrer Kindheit; schließlich waren sie beide erfolgreiche Beyblader gewesen. Die erfolgreichsten. Und danach hatten sie sich aus den Augen verloren… und wieder gefunden, als sie sich beide eines Tages bei der Universität anmeldeten und im Vorraum trafen. Und weil sie beide nicht mit irgendeiner fremden Nervensäge in eine Studentenwohnung wollten, einigten sie sich, dass sie zusammen ziehen würden.
Bis dahin hatte Kai auch noch nicht geahnt, dass das so ausarten würde. Er hatte sich gedacht, dass jeder von ihnen sich in sein Zimmer zurückziehen und dass damit Ruhe sein würde. Aber Rays Helfersyndrom äußerte sich zu dieser Zeit ziemlich extrem und dadurch kamen sie sich etwas näher, als Kai es am Anfang vorgehabt hatte.
Viel näher.
Und irgendwann kamen sie sich sogar so nahe, dass zugaben, dass sie den jeweils anderen mehr als nur mochten und gerne eine Beziehung mit ihm führen würden. Das war ein weiter Schritt von Kai, denn so was passte überhaupt nicht zu ihm. Aber er war neugierig und so ließ er es geschehen.
Das ging dann auch soweit gut und Kai konnte Rays übertriebenes Helfersyndrom ignorieren, bis der Chinese irgendwann verkündete, er würde sein Studium hinschmeißen, weil es ihn langweilte und er keine Lust mehr darauf hatte.
Kai war zu diesem Zeitpunkt ein wenig verstört gewesen, denn mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Und auf eine Art und Weise erboste es ihn auch, denn für ihn war ein abgeschlossenes Studium enorm wichtig und da ihm Ray am Herzen lag, wollte er natürlich auch nur das Beste für ihn.
Außerdem bedeutete das, dass Ray aus der Studentenwohnung ausziehen musste, wenn er denn nicht mehr studierte, und da war Kai vollends dagegen gewesen. Denn das würde bedeuten, dass er einen neuen und fremden Mitbewohner bekam und das war das Letzte, was ihm jetzt noch in den Kram passte. Außerdem wollte er Ray ja bei sich haben…
Doch so geistig abwesend, wie Ray bereits war, sah er das nur halb ein und entschied sich also, weiterhin bei der Universität eingeschrieben zu sein, aber einfach nicht zu den Vorlesungen hinzugehen. Die Kosten musste er trotzdem zahlen, aber das schien ihn nicht weiter zu stören und wenn Kai ihn fragte, was er denn vor dem Examen tun würde, dann antwortete Ray nur, dass er sich dann da schon was einfallen ließe.
Der größte Nachteil, der jetzt aber für Kai bestand, war, dass, wenn er heimkam, Ray immer zuhause war und der sich natürlich auch sichtlich freute, wenn er nicht mehr alleine war. Und gerade weil er sich so freute, ging er Kai damit tierisch auf die Nerven und wurde von ihm gedanklich als Nervensäge betitelt.
Das Ende eines harten Studientages begann also wie folgend…
-x-
Den gesamten Nachmittag hatte Ray damit verbracht, auf den kalten Fliesen im Flur zu sitzen und auf die Tür zu starren. Er konnte den Augenblick kaum abwarten, an dem Kai zurückkehren würde. Den ganzen Tag hatte er sich gelangweilt und zu nichts Lust gehabt. Und jetzt müsste Kai langsam endlich Schluss haben.
Das war gut. Das würde endlich Beschäftigung bedeuten. Und Beschäftigung mit Kai war immer gut für Ray.
Und allzu lange warten musste er auch nicht mehr, denn da hörte er bereits den Schlüssel im Schloss und sprang auf, um seinem Liebsten auch sofort entgegen zu eilen, wenn dieser die Wohnung betreten hatte.
„Ray, ich bin wieder…"
„Yay! Ich weiß!"
Mit einem kräftigen Hopser sprang der schwarzhaarige Chinese seinen Freund an und schlang überglücklich die Arme um ihn. Er bekam überhaupt nicht mit, wie Kai genervt die Augen verdrehte und den anderen langsam in Richtung Wohnzimmer schob, der immer noch wie eine Klette an ihm klebte.
Nahe der Couch schubste er den Chinesen dann sanft von sich, so dass er auf den weichen Kissen landete. Dann wandte er sich ab, zog sich den Mantel und die Schuhe aus und war auf dem besten Weg, in der Küche zu verschwinden.
„Kai!"
Natürlich kam er gar nicht so weit. Er nannte Ray ja nicht umsonst eine Nervensäge.
„Was?", fauchte er äußerst gereizt und drehte sich nicht einmal um, auch wenn er mittlerweile schon im Türrahmen der Küche stand.
„Willst Du mir nicht wenigstens 'nen Kuss geben?", nuschelte er der andere und setzte sein lieblichstes Lächeln auf. Gott sei Dank konnte Kai es nicht sehen, sonst hätte er sicher Aggressionen bekommen.
„Nein! Ich geb Dir gleich was andres!"
„Ja? Was denn?", erwiderte Ray, sprang vom Sofa auf und trapste auf ihn zu.
Kai verdrehte nur die Augen. Da war er gerade aus dem Stress in der Uni raus, da ging es zuhause gleich weiter…
Von hinten schlang Ray die Arme um den Oberkörper seines Freundes, der immer noch im Türrahmen stand und dessen Körper leicht vor Wut bebte. Doch gut drauf wie der Chinese nun mal war, ignorierte er das gekonnt und drückte sich mit Nachdruck an den anderen.
„Kai chan…", nuschelte er sanft nahe dem Ohr des anderen, worauf er nur wieder ein gereiztes „Nenn mich nicht so!" und „Lass mich in Frieden!" erhielt, wovon er sich aber auch nicht weiter stören ließ, „Ich hab den ganzen Tag auf Dich gewartet…"
„Ja und!"
Kai blinzelte irritiert, als der andere doch tatsächlich darauf von ihm abließ. Sonst war das doch auch nicht so einfach gewesen… Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck drehte er sich um.
Ray hatte die Arme vor sich verschränkt und blickte betreten auf den Boden. Das war ein Stimmungsumschwung der höchsten Stufe
„Toll… Da kommst Du also nach hause… und ich freu mich… und Du bist wieder so gemein zu mir…", schluchzte er leise und gab sich dabei extra Mühe, da er genau wusste, dass das bei Kai wirkte.
Dieser hob auch gleich beschwichtigend die Hände; schließlich konnte er seinen Freund nicht so bedrückt sehen und sein schlechtes Gewissen wollte dadurch auch keine Ruhe geben.
„Hey… komm schon, Ray… So hab ich das gar nicht gemeint…" Etwas notdürftig presste er die Worte hervor. Das war wirklich nicht seine Stärke.
„Doch, hast Du! Du hasst mich…"
„Komm schon, laber nicht so ein Zeug, Du weißt genau, dass das nicht stimmt…"
Doch der erneute Stimmungsumschwung seitens Ray, auf den Kai gehofft hatte, blieb aus. Er stand immer noch ein wenig bockig dort herum und sah den Blauhaarigen nicht einmal an.
„Ich hatte nur einen stressigen Tag heute… das ist alles.", versuchte er es weiter und konnte Sekunden später schon spüren, dass das die falsche Antwort gewesen war.
„Baka! Das hast Du gestern und die Tage davor auch schon gesagt!", fauchte Ray und entfernte sich rückwärts einige Schritte von ihm, „Immer hast Du was anderes und immer nerve ich Dich!"
Das Teufelchen in Kais Ohr sprach: Ja, verdammt! Er hat's geschnallt! Mach, dass Du hier wegkommst, Alter! Deine Chance!
Das Engelchen in seinem Ohr hingegen rief: Der Arme! Gleich wird er weinen… Du hast ihn schon die letzten Tage so hingehalten… Tu etwas!
Ein wenig verzweifelt blickte der Russe durch den Raum und suchte nach einer Lösung.
Das Engelchen hatte doch die größere Entscheidungskraft.
Aber wie konnte er Ray wieder beruhigen?
„Du hasst mich… Sicher trennst Du Dich bald von mir…", schluchzte Ray weiter, als galt es, in den Aufnahmen für eine Soap eine besonders gute Vorstellung hinzulegen.
„Ich hasse Dich doch nicht…" Kai stieß ein Seufzen aus. Er konnte natürlich nicht ahnen, dass der andere nur darauf wartete, dass er endlich den ersten Schritt tat.
Aber Ray hatte den Russen natürlich richtig eingeschätzt.
Etwas schüchtern tat dieser denn nun endlich einige Schritte auf ihn zu, bis er vor ihm stand. Dann legte er langsam die Arme um ihn und drückte ihn an sich.
„Komm schon… Sei nicht sauer…"
Durch diese Geste war für Ray der Tag wieder gerettet und seine Laune steigerte sich wieder. Denn Kai hatte den ersten Schritt gemacht und hatte ihm gezeigt, dass er seine Nähe doch brauchte und sie von sich aus auch geben konnte.
„Okay.", flüsterte er, während er sich in die starken Arme des anderen schmiegte.
Kai hingegen verzweifelt nun innerlich schon fast. Jeden Tag lief diese Szene so ab und jeden Tag war danach wieder alles in Ordnung. Nun ja – fast. Denn meist folgte darauf noch etwas ganz Anderes… von Rays Seite ausgehend.
„Kai chan…"
Er biss sich auf die Unterlippe, um nicht einen genervten Kommentar über seine Lippen kommen zu lassen. Sollte Ray ihn doch so nennen. Er würde davon nicht sterben… Er durfte nur nicht wieder dafür sorgen, dass der andere wieder schlechte Laune bekam.
„Du nimmst Dir doch heute mal Zeit für mich… jah?"
Sich ein leises Seufzen verkneifend schloss Kai die Augen und versuchte an irgendetwas anderes zu denken. Aber er konnte auch nicht so tun, als würde er ihn nicht hören… Das hatte er schon einmal versucht und das war definitiv nach hinten durchgegangen.
Demnach blieb nur noch eine Lösung: Er musste ein weiteres Mal nachgeben und seinen Feierabend dem anderen widmen.
An sich war das ja nicht mal so schlimm. Aber dadurch, dass Rays Persönlichkeit sich in den letzten Wochen so drastisch verändert hatte, fiel es Kai doch ein wenig schwerer als sonst. Und Lust hatte er auch nicht mehr unbedingt darauf.
„Kaiii…"
Ray wurde langsam ungeduldig. Dass der andere ihm noch keine Antwort gegeben hatte, war definitiv ein schlechtes Zeichen. Und schlechte Zeichen sorgten regelmäßig dafür, dass seine Laune wieder schlechter wurde. Er wusste, dass Kai das nicht noch ein weiteres Mal riskieren würde.
„Ehm… ja. Klar.", kam nun endlich die rettende Antwort und Rays Herz machte einen Sprung.
„Yay!"
Ruckartig befreite er sich aus den Armen des andere und packte dann auch gleich dessen Hand und zog ihn zurück Richtung Sofa. Kai wusste schon, wie das weiter ablaufen würde.
Dort angekommen drückte er den Blauhaarigen auf die dunkelroten Kissen und ließ sich auf dessen Schoß nieder, wo er sich eng an ihn kuschelte und erneut in seine Arme schmiegte. Ein wenig aufdringlich. Aber Kai versuchte das einfach zu ignorieren.
„…dass Du Dir von Deinem Stress mal Zeit nimmst für mich…", hauchte Ray und blickte dem anderen dabei tief in die Augen, „…das ist so süß von Dir…"
Kai verzog
nur etwas überfordert einen Mundwinkel und riet sich innerlich,
einfach mal abzuwarten, was jetzt noch von Rays Seite kommen würde.
Vielleicht hatte er ja Glück und er war vom Warten so müde,
dass er sowieso gleich wieder in seinen Armen einschlafen würde.
Das war schon an manchen Tagen passiert und für ihn natürlich
die perfekte Rettung gewesen.
Doch Ray schien nicht besonders müde zu sein und auch nicht gewillt, den Russen so schnell wieder in Ruhe zu lassen. Darauf musste er sich dann wohl oder übel einstellen.
„Hm?"
Fragend legte der Schwarzhaarige den Kopf schief, als er bemerkte, wie weit der andere wohl mit seinen Gedanken schon wieder abgedriftet war.
Eben war noch so eine schöne Stimmung gewesen und jetzt so was! Das war sehr schlecht für seine Laune. Sehr schlecht.
„Kai…", presste er leise hervor und sein Blick wurde ein wenig ausdrucksvoller und zeigte natürlich sofort, dass der Angesprochene seine Gedanken sofort wieder ihm zuzuwenden hatte.
„Was ist denn?", antwortete jener unschuldig und hoffte inständig, dass Rays Laune schnell wieder auf die ursprüngliche Höhe zurückkehren würde.
„Sag nicht was ist denn zu mir! Das klingt so unhöflich!"
Kai blinzelte verwirrt. Gab es denn noch irgendetwas auf der Welt, was er dem anderen gegenüber nicht falsch machen konnte?
„Sag mal, Kai…", begann Ray dann aber auch schon gleich wieder und er war froh, dass ihn das von der Szene davor ablenkte, „Du liebst mich doch, oder?"
Oh-oh – die Glocken in Kais Verstand schlugen Alarm. Eine solche Aussage trug meist sehr böse Folgen mit sich. Und er war nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, wie das, was Ray ihm sagen wollte, weiterging…
„Ja… das weißt Du doch.", presste er hervor und hoffte, dass Ray jetzt nicht dachte, er würde das nur sagen, weil er das hören wollte. Aber ob der Chinese soweit denken würde? Er bezweifelte es.
„Gut…", Ray seufzte leise, „dann…"
„Dann?"
„Dann… kannst Du ja mal wieder mit mir schlafen…"
