Kapitel 7: Adieu
Sesshoumaru hatte seine schlafende Geliebte die ganze Nacht durch beobachtet. Ihr ruhiger Atem strich immer wieder sanft über seinen Arm. Ihre zarte Haut verwöhnte seine Finger. Ihr Haar bedeckte ihn wie eine zauberhafte, schwarze Decke. Würde er es je wieder erleben? Wie würde sie überhaupt auf seinen Entschluss reagieren? Sicherlich würde sie protestieren. Doch dies war die einzige Möglichkeit, sie zu beschützen. Zu beschützen vor der Gefahr, die von ihm selbst ausging.
Endlich wandte er seinen Blick von ihr ab. Wenn er sich sicher war, dass er es tun wollte, durfte er ihr nie wieder so nah kommen. Also stand er auf und stellte dabei fest, dass seine schlimmen Wunden verheilt waren. Es war wirklich sehr praktisch, ein Dämon zu sein. Andererseits... Wenn er kein Dämon wäre, hätte er nicht seine ganzen Probleme. Allmählich fragte er sich, ob er wirklich glücklich war. Hatte er überhaupt jemals gelächelt, bevor er Amaya getroffen hatte? Ja, aber wirklich sehr selten und immer hatte es nichts mit Glück oder Freude zu tun. Er war immer steinhart gewesen, ohne zu merken, wie vielen Leuten er dadurch geschadet hatte. Wie er sich selbst mit seinem eisernen Stolz geschadet hatte. Er war nichts anderes als eine stählernherzige und gnadenlos mordende Bestie. Er musste Amaya vor seiner Hartherzigkeit schützen. Jene, die ihm doch gezeigt hatte, dass auch in seinem Herzen ein Licht schien. Dass auch er lieben konnte. Doch war sein Unternehmen nicht auch kaltherzig? Er würde ihr damit Schmerzen zufügen, das wusste er. Aber es sollte nur ein kleineres Übel sein.
Still warf er sich seine Jacke um und legte sich sein Panzer mit dem Armschutz an. Er würde niemanden stören und abwarten, bis zumindest Amaya wach war. Sie musste ausgeschlafen sein, um die Neuigkeit, die er für sie parat hatte, richtig aufnehmen zu können. Außerdem sollte es ihr jetzt gut ergehen... In diesen letzten Momenten... Gedankenversunken entfernte er sich ein wenig von seinen Begleitern. Ein frischer Morgenwind hauchte ihm durchs lange Haar. Als er zur Sonne aufblickte, kam ein stärkerer Windstoß von hinten und ließ die silberweißen Strähnen vor seine Augen flattern. Durch diesen weißen Schleier betrachtete er den Himmel. Der Mond war noch da. Schwach schimmerte er in dem immer heller werdenden Himmel. So unendlich war dieses blau... Unendlich, ewig, unsterblich. Wie seine Liebe zu Amaya, die er nun aufgeben musste. Sie war nur ein Mensch. Sie würde nicht immer auf Erden weilen. 'Wozu gibt es überhaupt Liebe, wenn sie doch nur Kummer und Schmerz bereitet? Wozu gibt es Tag, wenn er doch von Nacht ausgewechselt wird? Wenn die Nacht wieder weicht, ist wieder Tag. Ist es möglich, dass Schmerzen nötig sind, um von Liebe verdrängt zu werden, die wiederum schwindet und dann wieder durchbricht... Eine unendliche Ewigkeit... Ist das Liebe? Der ständige Wechsel zwischen zwei Gegenteilen? Wechsel ist Aktivität und Aktivität ist das Leben. Ich lebe und ich liebe, ob ich es nun merke oder nicht. Dieser Abschied von Amaya muss also sein, damit unsere Liebe ewig wird... Doch... Kann eine Liebe denn ewig sein, wenn der eine den anderen gefährdet? Ich würde schlimmeres als den Tod über sie bringen...'
Seine Ohren registrierten eine leise Bewegung und er wandte sich um. Amaya war aufgewacht und blickte liebevoll zu ihm hinüber. Er bemühte sich darum, sich nichts anmerken zu lassen, doch es half nichts. Mal wieder hatte er das seltsame Gefühl, sie könne seine Gedanken lesen. Ihre Augen wurden besorgt, sie stand auf und trat zu ihm.
"Was bekümmert dich?", fragte sie.
Es war mal wieder ihre Stimme... Ihre wundervolle Stimme, die aus ihm die Wahrheit heraussaugte. Die ihn zwang, wahrheitsgemäß zu antworten.
"Du wirst es sehen", erwiderte er heiser. "Genieße deine Zeit. Gegen Mittag brechen wir auf. Nur wir beide."
"Wohin?"
Sesshoumaru schwieg. Nicht, dass er es ihr nicht sagen wollte, aber er brachte es einfach nicht über sich.
"Glaubst du, ich kann die Zeit genießen, wenn ich dich so sehe?" Amayas Finger schlossen sich um seinen Unterarm.
"Soll ich weggehen?"
"Nein, bitte nicht."
"Gut..."
"Was machen deine Wunden?"
"Sind verheilt."
"Gut..."
Rin öffnete die Augen und sah das Paar etwas weiter entfernt stehen. Sie musste lächeln. Der Wind vermischte das weiße Haar des Dämons mit dem schwarzen des Mädchens. Etwas Trauriges lag in der Luft. Die Kleine gähnte wie ein Tor und reckte sich. Meister Sesshoumaru hatte sich in letzter Zeit ja erstaunlich schnell verändert: Er war weicher und großherziger geworden. So mochte Rin ihn nur noch mehr. Sie sprang auf und lief zu einem Beerenstrauch hinüber.
"Bleib' hier bei den anderen", wies Sesshoumaru plötzlich Amaya an und wurde zu einer weißleuchtenden Kugel, die sogleich davonschwebte.
"Ich frage mich, was er vorhat", murmelte Amaya.
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Gegen Mittag kehrte Sesshoumaru zurück. Er schien nun nicht mehr er selbst zu sein. Sein Ausdruck war so unsesshoumarisch, wie es nur möglich war. In seinen goldenen Augen war keine Wärme, aber auch keine Kälte. Sie waren ausdrucksloser denn je. Geradezu so, als ob er sein richtiges Gesicht irgendwo verloren hätte. Mit einem schwachen und zitternden "Amaya?" rief er die junge Frau zu sich. Er hob sie hoch. Nicht grob, wie bei ihrem ersten Treffen, sondern behutsam, als sei sie aus Glas.
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Eine leuchtende Kugel landete in einem kleinen Wäldchen und nahm die Gestalt von Sesshoumaru an, der auf seinem einzigen Arm Amaya trug. Er ließ sie herunter und sie sah sich ziemlich unsicher um.
"Wo - wo sind wir?"
"Du musst ein wenig geradeaus gehen", antwortete er leise, "dann kommst du in ein Dorf. Dort sind deine Freunde. Ich habe sie gesucht, während ich weg war."
"Aber... Warum... Sesshoumaru?.."
"Geh'. Du bist frei."
"Frei?.."
"Du warst meine Gefangene. Ich bringe dich zurück. Ich wollte dich nicht gleich direkt ins Dorf bringen, denn ich will meinem Bruder nicht begegnen. Und außerdem wollte ich noch... mich verabschieden."
"Aber - wieso?", stotterte Amaya, nun den Tränen nahe. "Kann ich denn nicht bei dir bleiben?"
"Nein."
"Warum?"
"Ich entführte dich, weil mir gesagt wurde, ich hätte eine Schwachstelle. Um sie zu beseitigen, brauche ich dich. Wie genau du mir helfen sollst, weiß ich nicht, aber ich habe eine Vermutung. Wenn ich dich nun benutzen würde, würde ich dich zerstören. Ich will meine Schwäche beseitigen und stehe ständig vor dieser Versuchung. Du bist in meiner Gegenwart einer zu großen Gefahr ausgesetzt."
Amaya senkte ihren Blick.
"Werden wir uns wiedersehen?"
"Vielleicht... ganz kurz..."
"Ich will nicht gehen."
"Ich will auch nicht, dass du gehst. Aber du musst."
"Ich muss gar nichts!"
"Wenn du es nicht für deine Sicherheit tun willst, dann tue es wenigstens für mich!"
Amaya starrte ihn zornig an.
"Wie kannst du nur so etwas von mir verlangen?"
"Geh'."
"Schön!" Sie wandte sich um, doch nach ein paar Schritten blieb sie stehen. "Ich werde dich vermissen... Mein Leben lang und darüber hinaus, wenn wir uns bis dahin nicht wieder begegnen."
"Verschwinde!", zischte Sesshoumaru und wandte sich ebenfalls ab. Warum konnte sie nicht einfach gehen? Dann wäre dem Ganzen endlich ein Ende gesetzt.
"Wie kannst du nur so eisig sein?"
Sie wollte gerade weitere Schritte machen, als er plötzlich kurz ihre Hand ergriff.
"Du wirst mir auch fehlen."
-
Inuyasha und Shippo lagen sich mal wieder in den Haaren, Miroku verführte einige Frauenherzen und Sango saß mit Kirara grimmig in dem Haus, in dem die Freunde übernachten durften. Kagome nervte das alles mit der Zeit und sie hatte beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie ging ein Feld entlang.
"Weißt du, warum Sango wieder so wütend ist?", fragte Mirokus Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich zu dem Mönch um und wusste sofort, dass er die Antwort auf seine Frage eigentlich schon wusste. Er warf ihr noch einen fragenden Blick zu und rieb sich die Wange, auf der der Abdruck einer Frauenhand pragte.
"Hast du sie wieder begrapscht, nachdem du davor noch zig andere Frauen gefragt hast, ob sie von dir ein Kind wollen?", sagte Kagome spöttisch.
"Aber Kagome! Sowas würde ich doch nie tun!", grinste Miroku ironisch.
"Jaah, klar...", erwiderte Kagome mit einem schiefen Lächeln und stutzte plötzlich. "AMAYA!"
"Wie!" Miroku wirbelte herum.
Die beiden blickten zu dem kleinen Wäldchen in der Nähe des Dorfes. Eine bekannte Gestalt bewegte sich auch sie zu. Die beiden starrten sie mit riesigen Augen an.
"Das kann doch nicht sein...", mumelte Miroku. "Wie konnte sie... Wie ist sie entkommen?"
Inzwischen hatte Amaya sie schon fast erreicht und Kagome und Miroku konnten erkennen, dass ihre Augen rot und geschwollen waren. Sie zitterte leicht. Kagome schauderte. 'Was hat Sesshoumaru ihr nur angetan?'
"Hallo", hauchte Amaya schwach und wischte sich mit der Hand die Tränen weg, die noch in ihren Augen glitzerten.
"Was hast du?", fragte Miroku mitfühlend und legte ihr seinen Arm um die Schultern.
"Nichts."
"Amaya, du kannst uns vertrauen", versicherte Kagome. "Was hat Sesshoumaru mit dir gemacht?"
"Nichts. Mir geht es gut."
"Dir geht es garantiert nicht gut", meinte Inuyasha, der dazugekommen war. "Also raus mit der Sprache. Wir haben uns die Füße bei der Verfolgung rund gelaufen."
"Tut mir leid", flüsterte Amaya.
"Vielleicht solltest du dich erst ausruhen", schlug Kagome vor.
"Ich bin nicht müde."
"Aber du musst doch weit gegangen sein!"
"Nein, Sesshoumaru hat mich hier ganz in der Nähe abgesetzt."
"Er hat waaaas!" Inuyasha machte tellergroße Augen.
"Mich freigelassen."
"Das sieht ihm aber ganz und gar nicht ähnlich."
