Kapitel 8: Chiyos Rat
Rin sah Sesshaoumaru auf die Gruppe zukommen und lief ihm entgegen.
"Meister Sesshoumaru!", rief sie erfreut und hielt dann inne. "Wo ist denn Amaya?"
"Ich habe sie zurück gebracht", antwortete der Dämon kurzangebunden.
"Oh", machte Rin betrübt. Sie würde ihre neue Freundin vermissen.
Jaken dagegen reagierte geradezu erfreut über diese Nachricht. "Jetzt, wo du diese Menschengöre los bist, muss du dich nicht mehr mit ihr herumplagen, Meister Sesshoumaru", sagte er, als sie aufgebrochen waren und er seinem Herrn hinterher lief. "Ich meine, sie hat doch immer nur Ärger gemacht, deine Ehre verletzt und, um das Ganze zu krönen, dir auch noch den Kopf verdreht..."
Er hatte wirklich mächtig Glück, dass Sesshoumaru gerade nicht zuhörte. In Gedanken war er bei Amaya. Haben Inuyasha und die anderen sie freundlich aufgenommen? Fühlte sie sich bei ihren Freunden wohl? Wohler als bei ihm? 'Bestimmt. Sie war meine Gefangene.' Sie hatte ihm gesagt, sie würde ihn vermissen. Tat sie es wirklich? Vermisste sie ihn jetzt schon so wie er sie? Oder verfluchte sie ihn, weil er sie fortgeschickt hatte? Würden sie sich je wiedersehen? Wie lange würde es bis dahin dauern?
Nur ganz langsam kehrte er in die Realität zurück und nahm nun die Worte seines Dieners wahr. Und die gefielen ihm ganz und gar nicht...
"... Und wie wagte sie es überhaupt, dir zu widersprechen? Was für eine Unverschämtheit! Und du bist wegen ihr fast umgekommen! Du hast also gut daran getan, sie zurückzuschicken. Jetzt kannst du in Ruhe weiter nach Naraku suchen, ohne von ihrem Gestöhne ..." Diesen Satz beendete Jaken nie, denn in diesem Augenblick wurde er von einem sehr verärgerten Meister Sesshoumaru am Hals gepackt und über die Schulter geschleudert. Rin blieb zurück, um nach dem Krötendämon zu sehen. Zu ihrer Erleichterung hatte er nur ein paar neue Beulen und blaue Flecken.
-
Nur Inuyasha war nicht begeistert von Amayas Freilassung (abgesehen von Amaya selbst, die sehr bekümmert und zerstreut wirkte). Nicht, dass er sich keine Sorgen um sie gemacht hätte, aber er konnte einfach nicht anders, als ständig daran zu denken, dass er seine Nase ganz umsonst tagelang auf die Erde gedrückt hatte. Ansonsten wurde das Mädchen freudig aufgenommen und alle versuchten ständig sie dazu zu überreden, zu erzählen, was mit ihr passiert sei. Doch Amaya antwordete nie und machte immer einen abwesenden Eindruck.
"Redest du nicht mehr mit uns?", fragte Kagome während ihres ersten gemeinsamen Marsches seit dem Wiedersehen.
"Doch", erwiderte Amaya tonlos.
"Und warum willst uns dann nichts erzählen?", schnaubte Inuyasha. "Wir sind deine Freunde. - Schon vergessen?"
"Nein, aber..."
"Aber was?"
"Nichts."
"Ach?"
"Es ist nur so, dass... ihr werdet es nicht verstehen."
"Und warum nicht?"
"Darum."
"Amaya, wenn du ein Problem hast, kannst du es uns sagen", sagte Miroku fürsorglich.
"Ich habe kein Problem."
"Sollen wir dich in Ruhe lassen?", schlug Sango vor.
"Ja, bitte."
-
"Wo ist Amaya jetzt, Meister Sesshoumaru?", rief Rin und lief zu Sesshoumaru hin.
"Ich weiß es nicht."
"Und warum hast du sie weggeschickt?"
'Sie stellt einfach zu viele Fragen', dachte Sesshoumaru. Er wusste nicht, wie er es der Kleinen erklären sollte, also beschloss er, nicht zu antworten. 'Bis morgen hat sie die Frage vergessen.' Das hoffte er zumindest.
Plötzlich... 'Was ist das? - Chiyo!'
"Was willst du schon wieder?", rief er barsch in die Dunkelheit.
Sich auf ihren Stab stützend, kam die alte Hundedämonin angehumpelt. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich selbst.
"Vergiss sie", krächzte Chiyo. "Seit wann gibst du einem Menschen Platz in deinem Herzen?"
"Das ist meine Sache", knurrte Sesshoumaru. Ihr zufriedenes Grinsen gefiel ihm nicht besonders.
"Schwäche, wie du es bezeichnest", spottete Chiyo.
"Diese Schwäche hast du im Kristall gesehen?"
"Ich weiß es genauso wenig wie du. Du hast sicherlich deine Vermutung und ich habe meine. Höre auf meinen Rat: Töte das Mädchen. Liebe ist deine Schwäche. Vernichte sie!"
"Warum soll ich deinem Rat folgen?", zischte Sesshoumaru. Für ihren Vorschlag könnte er Chiyo umbringen.
"Was denkst du denn, welchen Nutzen sie für dich hat?"
"Mir sind ihre Kräfte aufgefallen."
Chiyo hob nur eine Augenbraue.
"Ziemlich oberflächlich", meinte sie. "Ich hätte mehr von dir erwartet. Was Macht angeht, bist du vollkommen."
"Deinen Worten zufolge soll sich alles von selbst regeln, wenn sie nur in meiner Nähe ist", widersprach Sesshoumaru.
"Dass du dich verguckt hast, hat sich wohl von selbst geregelt. Ich denke, man kann nun eingreifen."
"Nein."
"Aaaah, verstehe!", feixte Chiyo. "Du willst deiner lieben, kleinen Göre nichts antun. Ja, wie niedlich. Eine Schande bist du wie dein Bruder und dein Vater!"
Sesshoumarus Augen leuchteten rot auf und er fletschte die Zähne.
"Wie kannst du es wagen!"
"Ich kann es", sagte Chiyo mit einem schiefen Lächeln. "Genauso, wie ich es gewagt hatte, zu versuchen, sie selbst zu töten."
"Die Dämonen!", erinnerte sich Sesshoumaru. "Das warst du!"
"Oh, ja!", erwiderte Chiyo genüsslich.
"STIRB!" Sesshoumaru sprang mit erhobener Klaue zu ihr. Doch anstatt sich zu fürchten, begann Chiyo zu lachen.
"Willst du durch einen Mord an einer sehr alten und wehrlosen Verwandten noch mehr Schande über die Familie bringen?"
Sesshoumaru hielt inne.
"So ist's gut", höhnte Chiyo. "Aber ich gebe nicht auf, musst du wissen. Du hast Schande über die Familie gebracht und ich werde mich rächen und dich von der Liebe reinigen! Du wirst sehen, dass es das Beste für dich ist." Und mit diesen Worten verschwand sie.
Der Hundedämon ließ seine Hand sinken. Konnte Chiyo nicht Recht haben? Sollte er Amaya wirklich töten? Das konnte er nicht... 'Aber Chiyo kann das und sie wird nicht aufgeben.'
"Meister Sesshoumaru?" Rins Stimme klang verängstigt.
Der Angesprochene wand ein wenig den Kopf und signalisierte ihr damit, dass er zuhörte.
"Heißt das, dass Amaya in Gefahr ist?"
"Ja."
"Du musst sie beschützen! Bitte!", flehte Rin, den Tränen nahe, und zog an seinem Ärmel. Sie wollte nicht noch jemanden verlieren.
Sie zurückholen? Das klang gut. Nur... Bei ihm war sie auch in Gefahr. Inuyasha und seine Freunde würden Amaya schon beschützen können. Doch konnte er da einfach tatenlos dasitzen? Amaya, die eine, die er liebte, war in Gefahr!
"Du vermisst sie doch, oder, Meister Sesshoumaru?", hörte er Rin sprechen.
Er schwieg. Das stimmte, aber was, wenn er es sich doch überlegen und seinen Plan verwirklichen würde? Und was, wenn das, was Chiyo sagte, stimmte? 'Dann würde ich darauf verzichten.' Sollte er sie wenigstens warnen?
"Diese alte Hexe!", schimpfte Jaken neben ihm. "Was bildet die sich ein, wie sie mit Meister Sesshoumaru zu reden hat! Diese Unfrau!"
Unfrau... Das stimmte, wenn man Sesshoumaru fragte. Wie konnte sie es wagen, mit ihm in einem solchen Ton zu sprechen, ihn zu verspotten und Amaya anzugreifen? Wegen ihr waren Amaya und er fast umgekommen; wegen ihr war das Ganze passiert. Wegen ihr war er überhaupt auf die Suche nach Amaya gegangen; wegen ihr hatte er sie entführt; wegen ihr hatte er sich von Amaya ärgern lassen; wegen ihr hatte er sich verliebt; alles nur wegen ihr. Sesshoumaru begann Chiyo von ganzem Herzen zu hassen. Tatsächlich war ihm nun sogar Inuyasha lieber.
-
Chiyo beobachtete den Sohn ihrer Urgroßnichte des fünften Grades durch ihren Kristall. Sie kannte ihn schon seit seiner Geburt an und liebte ihn fast wie einen Sohn. Und heimlich hatte sie ihn sein ganzes Leben lang beobachtet. Sie war immer stolz auf ihn gewesen. Doch nach dem, was sich gerade ereignet hatte, schäumte sie vor Wut. Sie wollte doch immer nur das Beste für ihn - und was war der Dank dafür? - Er hatte sie beinahe umgebracht! Wobei sie sich doch so oft um ihn gekümmert hatte. 'Und dann verliebt er sich noch in einen Menschen! Was hat er sich nur dabei gedacht!' Sie erinnerte sich, wie er sie schon immer wie eine Dienerin behandelt hatte. Warum mochte er dieses dreckblütige Wesen von einem Menschen mehr als sie?
-
Chiyo kam den kleinen Sesshoumaru und seine Mutter besuchen. Für ihren Liebling hatte sie eine Menge Geschenke dabei: die besten Leckereien, die interessantesten Spielsachen und viele Dinge, die er später brauchen würde.
Die Mutter kam ihr mit einem künstlichen Lächeln entgegen und zerrte ihren Sohn mit sich. Dieser hatte eine mürrische Miene aufgesetzt. Wie sehr er "Tante Chiyos" Besuche hasste! Sie behandelte ihn immer wie ein kleines Kind. Und leider gehörte sie zur Familie.
"Tante Chiyo" stürzte mit einem Freudenschrei zu ihm, umarmte ihn so fest, dass er fürchtete, er müsse ersticken, und übersäte seine Wangen mit Küssen. Sesshoumaru hatte das Gefühl, er müsste sich übergeben, als sie noch sagte: "Ach, was für ein süßer, lieber, kleiner Fratz!" Dabei kniff sie ihm in die Wange. Der Dämon versuchte seinen auflodernden Zorn zu beherrschen und blickte hilfesuchend zu seiner Mutter. Sie aber machte eine Tut-mir-leid-das-musst-du-überstehen-Miene und zuckte mit den Schultern. Chiyo schien das nicht zu bemerken und ließ auf Sesshoumaru einen Schauer von Süßigkeiten regnen.
-
'Und was habe ich bitte schön falsch gemacht?', brummte die alte Dämonin.
