Kapitel 9: Trennungsschmerz
'Sesshoumaru... Wo bist du nur? Warum hast du mich verlassen? Hörst du denn nicht, wie mein Herz nach dir ruft?' Amaya ging mit gesenktem Kopf hinter Sango. Schon drei Tage... Ganze drei Tage hatte sie ohne Sesshoumaru verbracht. Es war nicht viel, doch ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Die schlaflosen Nächte standen ihr ins Gesicht geschrieben. Hatte es überhaupt noch einen Sinn zu hoffen, er würde sie wieder abholen?
"Hörst du, Amaya?", hörte sie Inuyasha sprechen. "Wir haben bald ein Dorf erreicht."
"Aha", machte Amaya und sah zum Himmel, als ob sie hoffte, dort eine weiße Gestalt zu erkennen. Doch stattdessen bemerkte sie heraufziehende Gewitterwolken. Ihr war es nur recht. Das Wetter war bis jetzt wie zum Hohn wunderschön gewesen. Endlich würde ihre Umgebung wenigstens ein klein wenig wie ihr Inneres aussehen.
Sie sah nach vorne und erkannte in einem grünen Tal vor ihnen einige Häuser. Auf den Feldern um das Dorf herum wuselten Menschen, klein wie Ameisen. Dort würde sie Sesshoumaru ganz bestimmt nicht begegnen. Normalerweise mied er die "niederen Wesen".
Von ihrer Liebe zu Inuyashas großem Bruder wollte sie ihren Freunden nichts erzählen. Sie war sich sicher, dass Inuyasha nicht gerade begeistert davon sein würde und das würde nur Stress machen. Was verstand der Halbdämon überhaupt von Liebe? - Nichts. Er wollte nicht einmal Kagome seine Gefühle gestehen und die beiden lagen sich ständig in den Haaren. Manchmal war es ganz lustig, aber Amaya ging in letzter Zeit die Freude einfach auf die Nerven. Alles, was sie wollte, war doch nur, Sesshoumaru wiederzusehen. War das denn zu viel verlangt?
In ihre düsteren Gedanken vertieft, merkte sie nicht, dass sie das Dorf schon erreicht hatten. Die Bewohner beklagten sich bei den Dämonenjägern, ein riesiger Tausendfüßler überfalle regelmäßig ihre Felder. Kaum hatten sie davon berichtet, schon erzitterte die Erde und aus dem Boden platzte der dämonische Übeltäter. Die Dorfbewohner gerieten in Panik. Inuyasha zog Tessaiga.
"Lass' mich mal", sagte Amaya abwesend und stieß den Halbdämon beiseite.
Sie richtete gelassen ihre Hand gegen den Tausendfüßler und auf ihren Fingerspitzen schossen Hotarus "Blitze des Todes". Der Dämon, der alles Andere als das erwartet hatte, begann heftig zu zittern und brach darauf leblos zusammen. Ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, sah sie den toten Dämon ganz auf die Sesshoumaru-Art kaltblütig an und wandte sich gelassen ab, als würde sie täglich Dämonen grillen.
Die Dorfbewohner dankten der Gruppe und luden sie ein, bei ihnen zu speisen und zu übernachten. Nach einem bemerkenswerten Abendessen ging Amaya hinaus, um frische Luft zu schnappen, und betrachtete den Mond. Unwillkürlich dachte sie daran, dass er von der Form her genauso aussah, wie die Sichel auf Sesshoumarus Stirn.
"Du wirkst so leblos", sagte eine Stimme und Amaya erkannte die alte Miko des Dorfes. Zur Antwort sah das Mädchen die Priesterin nur an.
"Du bist wo anders, richtig?", fuhr die Miko mit einem freundlichen Lächeln fort.
"Jaah... Bei - bei Sesshoumaru."
"Er muss ein wirklich sehr edler Mensch sein, wenn du ihm dein Herz geschenkt hast", meinte die Miko, als ob sie Amaya schon jahrelang kennen würde.
Amaya musste bei der Vorstellung, wie Meister Sesshoumaru reagiert hätte, wenn er gehört hätte, dass er gerade "Mensch" genannt wurde, lächeln. "Er - er ist ein Dämon."
Die Alte sah sie überrascht und interessiert an. "Und wo ist er jetzt?"
"Ich wünschte, ich wüsste es. Er hat mich entführt und vor einigen Tagen wieder freigelassen. Er meinte, er könnte mich zerstören, wenn ich noch länger bei ihm bleibe."
"Hmm... Dämon-Mensch-Beziehungen gehen oft daneben. Solche Paare werden oft verachtet. Es gehört eine Menge Mut dazu, sich selbst eine solche Liebe zu gestehen."
"Du sprichst so, als würdest du dich da auskennen."
"Meine Liebe!", rief die Miko lachend. "Ich war selbst einmal in einen Dämon verliebt. Als seine Brüder von dieser 'Schande', wie sie es nannten, erfuhren, brachten sie ihn um. Und ich wurde aus meinem Dorf verstoßen. In diesem Dorf wurde ich freundlich aufgenommen und lebe seit dem hier."
"Aber trauerst du nicht um ihn?"
"Zuerst habe ich viel geweint, aber dann ist mit klar geworden, dass ich ihn so nicht zurückholen kann. Ich freue mich einfach, dass ich ihn überhaupt kennengelernt habe. Und das ist doch das Wichtigste, oder? Mit dem Tod erlischt die Liebe nicht."
"Weißt du, Sesshoumaru und ich sind vor kurzem fast umgekommen." Und Amaya erzählte der Miko von der Schlacht gegen das riesige Dämonenheer und von dem ungewöhnlichen Vorfall, der sie gerettet hatte.
"Was glaubst du, was das Licht war?", fragte die alte Frau.
"Es... war wie Magie..." Anders konnte Amaya es nicht beschreiben.
"Ist Liebe denn keine Magie?"
"Wie meinst du das?"
"Ich denke, dass durch deine Entschlossenheit und eure Liebe eure ganze Kraft sich gebündelt hatte. Ihr habt euch gegenseitig beschützt und gerettet."
"Aber er meinte, ich hätte uns gerettet."
"Vielleicht hast du in ihm den Willen, dich zu beschützen, entflammen lassen?", schlug die Miko vor.
"Ähm... Wäre denkbar", stimmte Amaya zu.
Plötzlich spürte sie, wie etwas Glitschiges sich um sie wickelte und sie hochhob. Die Miko schrie erschrocken auf und als Amaya den langen Greifarm, der sie festhielt, entlang sah, trafen sich ihre Augen mit denen eines gigantischen Dämons, der sie anscheind verschlingen wollte. Bevor sie auch nur irgendwie reagieren konnte, wurde der Greifarm von Tessaiga durchtrennt und sie stürzte zu Boden, wo sie glücklicherweise von Inuyasha aufgefangen wurde. Der Dämon wurde unterdessen von der Miko erschossen, doch...
"Was zum -" Inuyasha starrte entsetzt an Amaya vorbei und als sie sich umwandte, wusste sie auch warum: Es war wie damals. Plötzlich tauchten aus dem Nichts Tausende von Dämonen auf und griffen sie an. Doch diesmal würde kein Sesshoumaru kommen. Er würde nicht einmal wissen, dass sie in Gefahr war. Aber sie hatte ihre Freunde und das gab ihr Hoffnung. Sie attackierte die Angreifer mit Hotarus Blitzen. Inuyasha musste bald feststellen, dass Tessaiga da nicht viel ausrichten konnte, denn die Dämonenflut wollte einfach nie ein Ende nehmen. Schon bald wurde ihm das Schwert aus der Hand gerissen und verschwand in der Dunkelheit. Kagome und der alten Miko reichten allmählich die Pfeile nicht mehr, obwohl einige Dorfbewohner für Nachschub sorgten. Miroku musste auf sein Windloch verzichten, da es sich bei dieser Anzahl von Dämonen gefährlich vergrößern konnte. Allein Sango konnte noch ihren Bumerang benutzen, doch dessen Enden wurden langsam stumpf.
"Die Dämonen zu bekämpfen nützt nichts!", rief Amaya.
"Ja, es sieht ganz so aus, als würde jemand sie am Laufband produzieren", nickte Inuyasha.
"Aber die Dämonen müssen doch einen Ursprung haben", meinte der Mönch. "Wir müssen ihn nur finden und zerstören."
"Da, ich sehe ihn!", schrie Kagome und zielte mit dem Pfeil auf etwas, das zwischen den Dämonen immer wieder rosa aufblitzte.
Zu aller Enttäuschung wurde der Pfeil zurückgeschleudert.
"Ein Bannkreis!", stellte Sango fest.
"Ob Naraku dahintersteckt?", schlug Inuyasha vor, während er einen besonders hässlichen Dämon aufschlitzte.
"Wohl eher nicht", sagte Amaya beschämt. "Die sind hinter mir her. Sie haben mich schon vorher überfallen. Als ich noch bei Sesshoumaru war."
Ihr Herz schien sich zu verkrampfen, als sie seinen Namen aussprach. In Gedanken rief sie immer wieder nach ihm.
Dass sie ihre Gedanken ganz kurz Sesshoumaru gewidmet hatte, musste sie teuer bezahlen. Sie hatte nicht aufgepasst und wurde durch die Luft gewirbelt. Sie landete sehr schmerzhaft auf der Erde. Was ihr als erstes auffiel, war eiskalter Schmerz im rechten Arm. 'Vielleicht nur eine Prellung', dachte sie, doch als sie sich aufrichten wollte schmerzte der Arm nur noch mehr. Sie befühlte ihn und stellte fest, dass da etwas nicht stimmte. Sie konnte den Arm zwar noch bewegen, aber er sah sehr unnatürlich aus.
"Er ist gebrochen", sagte Kagome, die zu ihr als erste geeilt war.
"Was? Aber -" Amaya war erschüttert. 'Nicht jetzt! Nicht mittem im Kampf!'
Immerhin hatte sie noch ihren linken. Mit ihm konnte sie gerade noch einen Dämon abwehren, als sie unerwartet wieder angegriffen wurde.
Kurz nachdem ihr Blitz erloschen war, leuchteten viele weitere auf. In leuchtend gelben Bahnen rasten sie auf die Angreifer zu. Es war die Windbarbe! Tessaiga, von einer Gestalt mit langen weißen Haaren getragen, begann rot zu leuchten und mit einer weiteren Windnarbe zerschmetterte das Schwert den Bannkreis und das rosa Leuchten, das sich als ein würfelförmiger Kristall herausstellte. Die Dämonen verschwanden.
Stille. Dann -
"Nimm das zurück", sagte Sesshoumaru und schmiss Tessaiga Inuyasha vor die Füße. Die Freunde erkannten, dass seine einzige Hand versengt war. Er tat jedoch so, als würde er den Schmerz nicht spüren.
"Was willst du denn hier?", knurrte Inuyasha und hob angriffslustig sein Schwert auf.
"Amaya fragen, ob sie nicht zurück möchte", antwortete der Dämon.
Amaya konnte ihr Gück kaum fassen. Ihre Gebete wurden erhört! Sie könnte platzen vor Freude.
"Sesshoumaruuuuu!", kreischte sie und warf sich ihrem Lieblingsdämon um den Hals. Den Schmerz in ihrem rechten Arm spürte sie vor Freuede kaum.
Inuyasha, Kagome, Shippo, Miroku und Sango rissen alle die Münder auf. Erst als Amaya die verständnislosen Mienen ihrer Freunde sah, bemerkte sie, dass sie sich verraten hatte. Also musste sie es jetzt wohl erklären.
"Ich liebe ihn", verkündete sie leidenschaftlich.
Die Unterkiefer der anderen reichten fast bis zum Boden. Inuyasha zuckte mit seinem linken Ohr, als würde er prüfen, ob er sich nicht verhört hatte. An Kagomes Miene konnte man nicht gerau sagen, was sie ausdrückte. Vor ihrem geistigen Auge spielte sich eine extrem absurde Szene ab: In einer Kathedrale standen Sesshoumaru und Amaya in einer Umarmung und küssten sich. Amaya trug ein schneeweißes Kleid und Sesshoumaru, das lange Haar hinten elegant zusammengebunden, einen Bräutigamanzug und auf der Schulter, wie gewöhnlich, sein unidentifizierbares Fell.
"Ähm." Amaya wollte einfach nur die Stille unterbrechen.
"Chrm... Ähm... Öööh... Du - liebst - ihn?", stotterte Kagome hervor.
"Ja."
"Das - das ist - ähm - gut."
"Aber das meinst du doch nicht im Ernst, oder?", murmelte Inuyasha und blickte von Amaya zu Sesshoumaru und dann wieder zu Amaya.
"Doch", sagte Amaya.
"Also deshalb warst du die ganze Zeit so niedergeschlagen?", fragte Miroku.
"Jaah."
"Dann - ääähh", stammelte Sango, brachte ihren Satz aber nicht zu Ende.
"Ähm... Sesshoumaru?", wandte sich Kagome an den Dämonenlord.
Sesshoumaru blickte wortlos in ihre Richtung, als Zeichen dafür, dass er ihr zuhörte.
"Hast du uns gerettet... wegen Amaya?"
"Wohl nicht, um meinem 'Brüderchen' zu helfen, oder?", sagte er kühl.
"Noch eine Frage...", meldete sich Miroku. "Woher wusstest du, wie du die Dämonen besiegen kannst?"
"Ich kann mich nicht erinnern, euch erlaubt zu haben, mich mit Fragen zu löchern", erwiderte Sesshoumaru noch viel kälter. "Kommst du, Amaya?"
Sie nickte und drehte sich zu ihren Freunden um, um sich zu verabschieden.
"Du glaubst doch nicht wirklich, er würde für dich etwas empfinden?", warnte Inuyasha sie.
"Er hat vor kurzem sein Leben für mich auf's Spiel gesetzt", sagte Amaya, wofür sie einen scharfen Blick von Sesshoumaru kassieren musste. Sie wusste, dass er es nicht gerade mochte, wenn man über seine Gefühle sprach, vor allem, wenn es stimmte, was gesagt wurde. Sie lächelte ihm zu, denn egal wie er war, sie mochte alles an ihm.
"Was haltet ihr von dem Ganzen?", fragte Sango verwirrt, sobald Sesshoumaru und Amaya gegangen waren.
"Nichts", brummte Inuyasha. "Er wird nichts Gutes mit ihr vorhaben."
"Vielleicht ist in Sesshoumaru tatsächlich etwas wie Liebe erwacht", überlegte Kagome.
"Unmöglich!", schnaubte der Halbdämon.
-
"Wie geht's deinem Arm?", fragte Sesshoumaru, wobei seine Stimme alles ausdrückte, was er fühlte: Sie, Amaya, die er so sehr vermisst hatte, war endlich wieder bei ihm. Er kam sich merkwürdig leicht vor und ihm schienen Flügel zu wachsen, die ihn jeden Moment in die Lüfte erheben würden... Bevor Amaya antworten konnte, presste sein juckender Arm sie an seinen Besitzer.
"Sess-Sesshoumaru?" Amaya war einfach glücklich. Sie krallte ihre Hände in seine Schultern, als ob sie fürchtete, wieder von ihm getrennt zu werden. 'Nein, nicht noch ein zweites Mal...'
"Ich habe mich ohne dich wie ein halber Dämon gefühlt", sagte Sesshoumaru liebevoll.
