Kapitel 10: Wieder zusammen
Jaken war nicht zornig, er war enttäuscht. Enttäuscht von seinem geliebten Meister, der Schwäche gezeigt und sich in eine Menschenfrau verliebt hatte. Was war er jetzt mehr wert als Inuyasha? 'Sie ist an allem schuld', dachte er oft bei sich mit einem finsteren Blick zu Amaya. Obwohl er es nicht laut aussprach, war er mit Chiyo einer Meinung: Sesshoumarus Schwäche war seine Liebe zu Amaya und er sollte sie deshalb töten. Er wusste noch, wie kühl und stolz der Dämonenlord gewesen war, als er ihm begegnete. Jaken hatte Sesshoumaru gleich vom ersten Augenblick an vergöttert. Sesshoumaru war sein alles, sein Herr, sein Meister, sein Gebieter, sein Gott. Und plötzlich tauchte da so eine Menschengöre auf, die das Herz eines so starken Dämons zum Schmelzen gebracht hatte. Jaken fühlte sich einfach respektlos zur Seite geschoben. Kurz gesagt war er eifersüchtig. Mit einem Blick zu Rin verstand er, dass sie nun das Wesen war, das ihm am nächsten stand. Und sie... war fast genauso schlimm wie Amaya.
"Jaken", sagte die strenge Stimme des Meisters. "Bleib' nicht zurück."
'Bleib' nicht zurück', äffte Jaken Sesshoumaru in Gedanken nach, 'damit Ah-Uhn für die beiden Gören immer zum Reiten da ist, falls sie müde werden.'
Plötzlich stieg ihm ein bekannter Geruch in die Nase. Sesshoumaru hatte es auch bemerkt und Amaya und Rin zu Jaken und Ah-Uhn geschickt. Er selbst wirkte merkwürdig angespannt. Jaken wusste, wieso. Er bereitete sich auf das Zusammentreffen vor.
"Ah, sie lebt noch, wie ich sehe", schnarrte Chiyo.
"Ich habe deine Dämonenkristallattacke diesmal erkannt", knurrte Sesshoumaru und fuhr seine Krallen aus.
Die alte Dämonin schüttelte den Kopf.
"Willst du diese Schwäche denn nicht endlich loswerden?", fragte sie. "Wenn du es nicht selbst schaffst, kann auch ich das erledigen." Sie warf Amaya einen Raubtierblick zu. "Ich habe dir deine Schande verziehen und kann dir nun helfen."
Sesshoumaru antwortete nicht, sondern musterte Chiyo verächtlich. Und mit einem Mal sprang er zu ihr und seine scharfen Klauen fuhren flink über ihren Hals. Ihr Körper sank leblos zu Boden.
"Jetzt nicht mehr", kommentierte er kühl und wandte sich von der Leiche ab.
"Du - du hast sie umgebracht!", stammelte Amaya erschrocken.
"Sie hatte dich und mich fast umgebracht."
Amaya riss die Augen weit auf. "Die Dämonen! - Das war sie? Sie konnte Dämonen erschaffen?"
"Nein, es waren nur Marionetten. Sie hatten keinen eigenen Willen, sondern gehorchten ausschließlich ihr."
"Aber sie hat zu deiner Familie gehört und du hast sie einfach getötet..."
"Wenn du nur wüsstest, wie sie mich behandelt hat", sagte Sesshoumaru bitter. "Sie hat es gewagt, sich in meine Angelegenheiten einzumischen."
"Aber was, wenn sie recht hatte, Meister?", fragte Jaken.
Als er aus seiner plötzlichen Ohnmacht erwachte, verursacht durch einen kräftigen Schlag von Sesshoumaru, hatten die anderen bereits einen großen Vorsprung.
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'Wofür liebe ich sie eigentlich?', fragte sich Sesshoumaru oft. Und jedes Mal war die Antwort: 'Weil sie Amaya ist.' 'Aber du hast durch sie deinen Stolz verloren', schaltete sich eine fast vergessene Seite in seinem Kopf ein. Er wusste zwar nicht, welchen Nutzen Amaya für ihn hatte, aber er überlegte, ob er nicht doch seinen Plan ausführen sollte. Er würde ihr damit eigentlich sogar einen Gefallen tun. Und wenn sie es als Zeichen betrachten würde, er würde sie nur benutzen, könnte er es ihr auch erklären. Sie war auch nicht schwach, also würde sie es überstehen. Doch würde es nicht andere Folgen haben? Würde er sich selbst dadurch nicht ein unnötiges Gewicht aufhalsen? 'Vielleicht, aber man erreicht nichts, wenn man nicht versucht.'
Kaum hatten sich die beiden Seiten in ihm geeinigt, schon stritten sie sich auch wieder. Es ging nun darum, ob er nicht mit Amaya Schluss machen sollte. Er war ein sehr mächtiger Dämon. Und er hatte Feinde. Jemand, der weiß, wer ihm teuer ist, würde es auf Amaya und Rin absehen. Er, Sesshoumaru, konnte doch nicht für zwei Menschen den Bodyguard spielen! Rin, das war klar, brauchte ihn. Aber Amaya konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen. Und bei ihren Freunden wäre sie in Sicherheit. Aber freiwillig würde sie ihn nicht wieder verlassen. Und er würde es nicht wieder schaffen, sie zu zwingen, sich von ihm zu trennen. Und sie beide würden dann einander schrecklich vermissen, was für ihn noch unerträglicher als die Verletzung seines Stolzes war. Er wusste nun, was zu tun war. Sein Plan war nun vollkommener als zuvor. Er brauchte nur noch den richtigen Augenblick...
"Ist das ein schönes Tal!", rief Amaya und zeigte nach vorne.
Sesshoumaru blickte auf und sah es nun auch: Ein wunderschönes, grünes Tal, wo die Kirschblüten blühten und durch das sich ein silber-blauer Fluss schlängelte, alles erleuchtet von den goldenen, lebensspendenden Strahlen der Sonne.
"Jaah... bezaubernd...", murmelte er abwesend. Er hatte gerade die Vorstellung, wie schön es doch wäre, mit Amaya... Stopp! Wenn er seinen Plan ausführen wollte, musste er sich die Romantik aus dem Kopf schlagen. Obwohl... Die erforderlichen günstigen Bedingungen...
"Meister Sesshoumaru?" Rin zupfte an seinem Ärmel. "Dürfen Amaya und ich zu dem Fluss?"
Sesshoumaru nickte kurz. Rin sprang fröhlich auf Ah-Uhn, gefolgt von Amaya.
"Willst du nicht mitkommen?", bat Amaya.
"Ich komme später", erwiderte der Dämon. Er musste sich von Amaya "abgewöhnen", wenn er seinen Plan erfolgreich ausführen wollte. "Jaken wird euch für alle Fälle begleiten."
Der Krötendämon brummte etwas Unverständliches und befolgte darauf den Befehl seines Herrn.
"Bis bald, dann", riefen Rin und Amaya Sesshoumaru zu und winkten, während Ah-Uhn abhob.
Sesshoumaru beobachte den Drachen, wie er auf das Tal zuflog. Er selbst wollte den Fluss im Spaziertempo erreichen. Bis dahin musste er sich hundertprozenzig von dem Plan überzeugen, denn ein Teil von ihm sträubte sich immer noch, Amaya das Herz zu brechen, nur um die Trennung zu erleichtern.
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Amaya und Rin hatten es sich am Flussufer gemütlich gemacht, während Jaken sich mit dem Fischen versuchte. Nach einer Weile wateten die beiden Mädchen durch das kühle Wasser. Der streichelnde Wasserstrom und die kleinen Steine, die ihre Füße massierten, taten ihnen gut. Nach dem kleinen Fußbad begann Rin auf dem Ufer herumzutänzeln und für Sesshoumaru Blumen zu pflücken. Amaya nutzte sie Zeit, um ein wenig das Blitzeerzeugen zu trainieren, wobei Jaken versehentlich fünf mal erwischt wurde.
"Pass' doch gefälligst auf!", rief der Krötendämon verärgert und tauchte eine Brandwunde ins kühle Wasser.
"Tut mir wirklich sehr leid, Jaken", entschuldigte sich Amaya bedauernd. "Ich wollte nicht, dass du erwischt wirst."
Jaken reichte das nicht. Nicht nach all dem, was Amaya seinem Meister angetan hatte...
Gerade wollte er seinen Mund öffnen, um ihr zu antworten, als Rin rief: "Pass' auf, Meister Jaken! Hinter dir!"
"Was ist hinter mir?", fragte Jaken und wandte sich gelassen um. Ihm gefror das Blut in den Adern: Ein Wasserdämon hatte sich hinter ihm aufgebaut. Er beugte sich über Jaken und verschlang ihn. Amaya richtete ihre tödlichen Finger gegen das Monster und verpasste ihm einen starken elektrischen Schlag. Der Dämon kippte tot ins Wasser, wo er von Ah-Uhn aufgeschlitzt wurde, damit Jaken herauskommen konnte. Die Kröte wies viele Wunden auf, die anscheinend von der Magensäure des Dämons kamen. Amaya schickte Rin los, um Heilkräuter zu sammeln, während sie Jaken behutsam aus dem Fluss, dessen Wasser sich vom Blut des toten Monsters nun rot färbte, fischte und seine Wunden untersuchte. Jaken stöhnte und jammerte.
"Was ist hier los?", fragte die eiskalte Stimme des Hundedämons.
"Wir wurden gerade von einem Wasserdämon angegriffen", berichtete Amaya, erfreut über Sesshoumarus Ankunft. "Jaken ist verletzt, sonst ist alles gut."
Sesshoumaru konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht verbergen. Er hatte plötzlich den Geruch von Blut wahrgenommen und befürchtet, es sei etwas Schlimmes passiert und Amaya und Rin seien womöglich in Gefahr. Vor allem Amaya würde mit ihrem gebrochenen Arm (den sie mit Rins Hilfe geschient hatte) Schwierigkeiten haben. Mit einem Herzen, das seine Brust beinahe durchgehämmert hatte, war er zu seinen Gefährten geeilt. Doch jetzt breitete sich in ihm eine erleichternde Wärme aus. Es war alles in Ordnung und der Dämon beseitigt. Er hatte das Blut des Ungeheuers gerochen, das aus der Leiche unter dem Wasser strömte.
Bald war Rin wieder da und hatte beide Hände voll mit Heilkräutern. Nachdem Amaya Jakens Wunden versorgt hatte, bat Rin, von diesem Ort schnell wegzugehen. Also setzten sie ihren Weg fort. Rin ritt wie üblich auf Ah-Uhn, der von Jaken, der mit seinen ganzen Bandagen nun mehr einer kleinen Mumie ähnelte, geführt wurde. Amaya ging neben Sesshoumaru und unterhielt sich leise mit ihm. Der Dämon merkte bald, dass seine Zunge allmählich ermüdete. Noch nie hatte er so viel am Stück geredet. Er hatte auch nie jemandem von seinen Erlebnissen erzählt. Der Lord war nun wie ausgewechselt. Es war, als ob in ihm damals, als er Amaya zum ersten Mal begegnete, ein anderer Sesshoumaru erwacht wäre. Oder war der neue Sesshoumaru vielleicht nur eine Seite in ihm, die er sein ganzes Leben lang vor der Welt verborgen hatte?
Als er zu ende erzählt hatte, bemerkte Amaya, dass Jaken im Gegen fast einschlief.
"Sesshoumaru", sagte sie. "Wir sollten vielleicht anhalten. Jaken ist verletzt und müde."
Eigentlich wäre dies nicht einmal für den neuen Sesshoumaru ein Argumunt zum Anhalten, doch er folgte Amayas Bitte. Ihr zuliebe. Und er vergaß auch nicht seinen Plan...
Als Jaken und Rin sich endlich neben Ah-Uhn eingerollt hatten, ließen sich auch Sesshoumaru und Amaya nieder.
"Was ist mit dir eigentlich passiert?", fragte Amaya amüsiert.
"Ich weiß es selber nicht", antwortete Sesshoumaru lächelnd. Ein Lächeln war bei ihm in letzter Zeit keine Seltenheit mehr.
Amaya erwiderte sein Lächeln und schaute zu den Sternen hinauf. "Was, glaubst du, sind Sterne?"
"Licht." Etwas Besseres fiel dem Dämonenlord nicht ein.
"Hm... Aber was für ein Licht?"
"Eins, das nicht so schön ist wie deine Augen."
"Ach, Sesshoumaru... sei doch ehrlich! So schön sind meine Augen doch nicht!"
"Warum denkst du so?"
"Weil ich schon viel schönere gesehen habe."
Sesshoumaru stand auf und lud Amaya mit einer Geste ein, mit ihm einen kleinen Spaziergang zu machen, wovon er schon so lange geträumt hatte... Sie nickte und folgte ihm.
"Und wie soll's weitergehen?", sagte Amaya nachdenklich.
"Was?"
"Werden wir ewig Naraku verfolgen?"
"Bis ich ihn erledigt habe."
"Und dann?"
"Dann..?" Darüber hatte sich Sesshoumaru bisher keine Gedanken gemacht... Da kam ihm etwas durch den Kopf geschossen. Unwillkürlich rutschte es aus ihm heraus: "Dann nehme ich dich zur Frau."
Amaya starrte ihn mit riesigen Telleraugen an. "Meinst... meinst du das... IM ERST! Oh, Sesshoumaruuuuuu!" Ohne lange zu überlegen fiel sie ihm um den Hals.
Der Dämon konnte sich nun überhaupt nicht mehr zurückhalten. Er neigte sich zu ihr und küsste sie zärtlich. Amaya hielt den Atem an. War das denn wirklich ihr Sesshoumaru, der da vor ihr war? 'Ja, er ist es. Der Sesshoumaru, den ich liebe...' Sie spürte eine große Erleichterung. So frei wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt.
Sie lösten sich von einander und lächelten sich gegenseitig an. Und da geschah es: 'Huuuuuuuh? Ein Hundedämon?' Sesshoumaru brach plötzlich zusammen.
"Alles in Ordnung?", stieß Amaya hervor und ließ sich besorgt neben Sesshoumaru nieder.
"Ob alles in Ordnung ist? - Es könnte nicht besser sein, meine Liebe." Sesshoumaru sah auf, doch es war nicht Sesshoumaru, in dessen Augen sie blickte...
