Kapitel 1 - Böses Erwachen


Eine Hand faßte ihn unsanft an der Schulter und rüttelte ihn. Mühsam suchte Estel einen Weg aus der Dunkelheit und öffnete langsam die Augen. Es war immer noch dunkel und kalt, doch die Kälte schien tief in ihm zu stecken, denn die Luft, die ihn umgab, war warm und roch nach Salzwasser. Die absolute Dunkelheit, in der er kurz zuvor noch gestanden hatte, war einem grauen Zwielicht gewichen und er sah die vagen Schatten von vielen anderen Menschen.

Langsam und stöhnend setzte Estel sich auf und spürte dabei jeden Muskel in seinem geschundenen Körper. Ein Kopf mit zottigem Haar schob sich in sein Blickfeld und braune Augen sahen ihn forschend an.

„ Endlich bist du wach, Mann. Du hast einen mächtigen Schlag auf den Kopf bekommen, als sie dich aus deinem Haus zerrten. Wie fühlst du dich? Ist dir schlecht? Das kann manchmal passieren."

Automatisch griff Estel nach seinem Kopf und fühlte eine dicke Schwellung und blutverkrustetes Haar.

„ Wo bin ich?"

„ In einer Sklavenhütte, das ist doch wohl nicht schwer zu erkennen." Sagte eine andere Stimme und Estel blickte auf und betrachtete den Mann, der gerade gesprochen hatte. Er war groß und kräftig, seine breiten Handgelenke steckten in eisernen Handfesseln und unter dem zerfetzten Saum seiner schmutzigen Hose konnte Estel auch Fußfesseln erkennen. Langes zottiges Haar hing ihm ins Gesicht und er grinste Estel böse an.

„ Bist wohl keiner von der schnellen Sorte, was?"

„ Laß ihn in Ruhe, Drago. Ich erinnere mich noch gut, als sie dich frisch hier her brachten. Du hast gejammert und geheult."

Drago knurrte wütend und spuckte Estel vor die Füße, dann wand er sich ab und verschwand in der Dunkelheit, ein kaum erkennbarer Leib unter vielen anderen.

„ Gib nichts darum, was Drago sagt. Er ist immer besonders schlechter Laune, wenn wir in der Nähe seiner Heimat waren und er nicht fliehen konnte. Aber er hat Recht, wir sind in einer Sklavenhütte an der Küste von Umbar. Und du bist jetzt einer von uns, ein Galeerensklave." Der erste Mann, der genau wie Estel selbst nur mit einer zerlumpten Hose und Hand- und Fußfesseln bekleidet war, sah ihn mitleidig an.

Estel schluckte und versuchte, das eben Gehörte zu verarbeiten. Er wußte, daß er den Namen Umbar schon einmal gehört hatte. Er wußte, daß es dort Piraten gab, die an den Küsten Mittelerdes auf Raubzüge gingen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, woher er das wußte. Eigentlich, wenn er es genau bedachte, wußte er gar nichts. Nicht, wer er war, wo er her kam oder was sein Beruf war. Und auch nicht seinen Namen. Oder doch. Die Erinnerung an den Traum, den er direkt vor seinem Erwachen hier gehabt hatte, kam wieder zu ihm und er wußte, daß er Estel hieß.

Der Mann legte ihm den Arm auf die Schulter und rüttelte ihn sanft. „ Kein Grund, darüber zu verzweifeln, hörst du? Wenn du alt wärest, dann hätten sie dich sofort getötet. Als Frau oder Mädchen wärst du im Bordell gelandet und als hübscher Knabe auch. Du siehst, es gibt schlimmeres, als Galeerensklave zu werden. Wenn man stark und schlau ist, dann läßt es sich überleben. Stark scheinst du jedenfalls zu sein, ob du auch schlau bist, das wird sich noch rausstellen."

Der Mann lachte und reichte Estel dann die Hand. „ Ich bin Ibrahim, aus Harad. Hast du auch einen Namen?"

Estel zögerte. „ Ja, ich glaube."

„ Was heißt du glaubst? Kennst du deinen Namen nicht?"

„ Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich kann mich an gar nichts erinnern."

Ibrahim schüttelte mitleidig den Kopf. „ Du hast dein Gedächtnis verloren, das ist schlimm. Es ist schon hart genug, die Freiheit verloren zu haben, aber du hast auch noch dich selbst verloren. Verdammt, ich möchte nicht mit dir tauschen. Aber sei's drum, irgendeinen Namen muß ich dir geben. Wie soll ich dich nennen?"

Estel sah Ibrahim in die Augen und sagte sicher: „ Nenn mich Estel."

„ Estel? Ein seltsamer Name."

„ Er bedeutet Hoffnung."

„ Woher weißt du das, wenn du dein Gedächtnis verloren hast?" fragte Ibrahim mißtrauisch.

Estel sah Ibrahim verlegen an und sagte: „ Ich hatte einen Traum bevor ich hier wach wurde. Ich träumte von einer wunderschönen Dame. Sie nannte mich Estel und sagte mir, was es bedeutet."

Ibrahim lachte und blinzelte Estel zu. „ Ja, von wunderschönen Damen träume ich auch manchmal. Estel also, Hoffnung. Nun, die einzige Hoffnung, die du hier noch haben kannst, ist die, daß die anderen dir nicht dein Essen wegfressen und der Aufseher dich nicht allzu oft mit der Peitsche bedenkt."

Obwohl Estel beim Gedanken an eine Auspeitschung schauderte, war es doch das Wort Essen, das seine Aufmerksamkeit fesselte und er bemerkte plötzlich, wie furchtbar hungrig er war. Sofort begann sein Magen laut und anhaltend zu knurren.

Ibrahim stand auf und sah ihn grinsend an. „ Nun, Estel, es ist nicht zu überhören, daß du lebst. Ich werde dir heute ausnahmsweise deine Ration holen, aber ab morgen mußt du selbst gehen. Wer es nicht bis zum Freßnapf schafft, der braucht auch nichts essen, so lauten die Regeln hier."

Ibrahim verschwand im Dunkeln und Estel versuchte, sich auf dem alten, stinkenden Stroh halbwegs bequem hinzusetzen. Sein Kopf schmerzte höllisch und seine Muskeln protestierten bei jeder kleinen Bewegung. Er wünschte, er könnte einen klaren Kopf bekommen, vielleicht fiel ihm dann wieder ein, wer er war. Doch der Nebel in seinem Hirn war undurchdringlich. Einzig das in helles Licht getauchte Gesicht der Dame stand ihm klar vor Augen.

Vorsichtig zwei dampfende Holzschüsseln tragend kam Ibrahim zu ihm zurück. Er reichte Estel eine der Schüsseln und einen hölzernen Löffel und setzte sich dann neben ihn. Ein verführerischer Duft stieg Estel in die Nase und sofort begann er, das Essen in sich hinein zu schlingen. Es war so heiß, daß er sich den Mund verbrannte, doch das war ihm egal, so groß war sein Hunger. Ein würziger Brei aus Getreide, Gemüse und Fleisch befand sich in der Schüssel und es schmeckte Estel so gut, als sei es das köstlichste Ambrosia.

Als er fertig war, seufzte Estel leise auf. „ Ah, das war gut."

„ Wir bekommen von allen Sklaven das beste Essen. Wir müssen bei Kräften bleiben, denn schwache Sklaven können kein Schiff rudern. Du solltest jetzt schlafen, Estel, denn morgen wirst du deinen ersten Tag am Ruder verbringen. Das wird hart werden."

Estel wollte protestieren. Wie konnte er schlafen, wenn er doch darüber nachdenken mußte wer er war. Doch kaum hatte sein Kopf das Stroh berührt, als ihm auch schon die Augen zu fielen und er in einen tiefen Schlaf versank.