Kapitel 2 – Am Ruder
Elessar erwachte, als die Tür zu der Sklavenhütte krachen aufgestoßen wurde und ein dicker Mann polternd herein kam. Bedrohlich ließ er die Peitsche knallen und brüllte die noch schlaftrunkenen Männer an: „ Auf die Beine ihr nichtsnutzigen Faulpelze oder muß ich euch erst das Fell gerben? Euer Herr wünscht heute Abend in der Stadt zu sein, also werdet ihr euch ordentlich in die Riemen legen müssen. Nehmt Stellung an, daß ich euch ansehen kann!"
Mühsam rappelte Estel sich hoch und betrachtete mit leichtem Grauen den kleinen, dicken Mann, der nun an der Reihe der Männer entlang ging und jeden genau betrachtete. Ein kranker Mann war an den Rudern nicht zu gebrauchen. Ein paar Tage Ruhe wurden einem Kranken gegönnt um wieder zu Kräften zu kommen. Blieb er jedoch schwach, so wurde er danach zur Arbeit auf die Felder oder in die Mienen geschickt. Die Galeerensklaven hörten nie wieder von ihren kranken Kameraden.
Estels Blick folgte dem Mann unaufhörlich, ja, er starrte ihn geradezu an. Erst, als Ibrahims Ellbogen hart in seine Rippen gestoßen wurde, wandte er seinen Blick ab.
„ Das ist der Aufseher Bazhir. Du redest ihn mit Herr an, aber nur, wenn er dich zuerst anspricht. Und auf gar keinen Fall starrst du ihn an. Sieh seine Stiefel an und verbeuge dich."
Estel nickte und senkte seinen Blick zu Boden. Schwarz glänzende Stiefel traten in sein Blickfeld und der Aufseher fragte ungehalten: „ Was gab es da zu flüstern ihr zwei?"
Ibrahim trat einen Schritt vor und verbeugte sich tief. „ Ich habe dem neuen Sklaven erklärt, welchen Respekt er Euch zu bezeigen hat, mein Herr."
Bazhir überlegte einen Moment und ließ die zusammengerollte Peitsche in seine Hand klatschen. „ Gut, du wirst ihm zeigen, was er wissen muß. Und du wirst für ihn verantwortlich sein. Für jedes fehlverhalten von ihm werdet ihr beide bestraft werden. Verstanden?"
Ibrahim verbeugte sich erneut, murmelte: „ Ja, Herr. Ich habe verstanden." und trat zurück in die Reihe.
Schockiert wollte Estel nach Ibrahim greifen, doch dieser schüttelte nur leicht den Kopf. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie zwei kräftige Helfer lange Ketten anschleppten und die Sklaven an ihren Hand- und Fußfesseln in eine lange Reihe fesselten.
Immer im Gleichschritt wurden die Männer aus der dämmrigen Hütte ins gleißende Tageslicht geführt. Weiß sengende Sonnenstrahlen wurden tausendfach verstärkt von der Meeresoberfläche reflektiert und schmerzten Estels Augen höllisch. Instinktiv riß er dir Arme nach oben um sich zu schützen und zerrte dabei an den Fesseln seines Vorder- und Hintermannes.
„ Ruhig, Estel. Nimm die Arme wieder runter, du tust uns weh. Schließ einfach für einen Moment die Augen, es dauert nicht lange und du hast dich an die Helligkeit gewöhnt." Sagte Ibrahim leise hinter ihm und sofort gehorchte Estel, denn er wollte Ibrahim keine Schmerzen zufügen. Als der Schmerz in seinen Augen nachließ, blinzelte Estel und stellte fest, daß sich das grelle Licht schon viel besser ertragen ließ. Das war gut so, denn er wollte sehen, wohin er ging und nicht blind in eine unbekannte Gefahr laufen.
Die Sklaven wurden von der Hütte aus über den Strand zu einem Landungssteg getrieben, an dem ein mittelgroßes Schiff mit einem Mast und jetzt noch zusammen gerollten, roten Segeln vor Anker lag. Kettenrasselnd marschierten die Sklaven auf den Steg und blieben dann abrupt stehen. Beinahe wäre Estel in seinen Vordermann gelaufen, doch er konnte sich so gerade eben noch fangen. Die zwei Helfer entfernten die Ketten wieder und die Sklaven gingen zu den Ruderbänken und bemannten sie. Estel saß neben Ibrahim an einem der langen Ruder mittschiffs und beobachtete, wie die Helfer nun die Sklaven an die Ruderbänke fesselten. Panik kam in ihm auf und er fragte Ibrahim: „ Was ist, wenn das Schiff untergeht?"
Der Helfer, der gerade dabei war, eine kurze Kette durch Ibrahims und Estels Fußfesseln zu führen und an der Ruderbank zu verankern, lachte böse und sagte: „ Dann werdet ihr versaufen. Also rudere gut, damit das nicht geschieht."
Estel erbleichte bei dem Gedanken, von den kalten Armen der stürmischen See tief hinab gezogen zu werden in ein nasses Grab und er fühlte, wie ihm schwindelig wurde.
Ibrahims leise Stimme holte ihn zurück aus einer schrecklichen Vision: „ Heute rudern wir nur für eine Weile an der Küste entlang und dann in die Bucht, die der natürliche Hafen der Piratenstadt ist. Mach dir keine Sorgen, Estel, heute werden wir bestimmt nicht ertrinken. Laß uns von etwas anderem reden. Ich habe nachgedacht gestern Nacht und ich habe eine Idee, wie ich vielleicht deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen kann."
Aufgeregt sah Estel Ibrahim an. „ Wie denn, Ibrahim, sag schnell!"
„ Nun, ich weiß zum Beispiel, wo du eingefangen wurdest. Das Schiff, das dich zurück brachte, war auf Raubzug an den Küsten von Dol Amroth gewesen. Es ist natürlich nicht sicher, daß dort deine Heimat war, aber doch sehr wahrscheinlich. Sagt dir der Name etwas?"
„ Dol Amroth---ich habe den Namen schon gehört, da bin ich mir sicher. Imrahil von Dol Amroth regiert dort."
Ibrahim nickte. „ Das tat er zumindest, als ich noch ein freier Mann war. Ich möchte noch etwas anderes versuchen, Estel. Zeig mir deine Hände."
„ Meine Hände?" fragte Estel verwundert und reichte sie seinem Freund zögerlich, die Handflächen nach oben gerichtet.
Ibrahim nahm Estels Hände in seine eigenen, betrachtete die Handflächen genau und strich mit seinen Daumen über sie. Dann lachte er leise. „ Nun, eines ist sicher, ein edler Herr oder ein Gelehrter warst du nicht, dazu hast du zu viele Schwielen an den Händen. Aber man sieht, daß du Waffen getragen hast. Das sagen auch die Narben auf deinem Oberkörper. Vielleicht hast du im Ringkrieg gekämpft, wer weiß? Aber deine Hände zeigen, daß du gewohnt bist, mit ihnen zu arbeiten, einen Pflug zu führen vielleicht. Du könntest ein Bauer sein oder ein Holzfäller. Kommen dir irgend welche Erinnerungen, wenn du an ein frisch gepflügtes Feld denkst oder an den Wald?"
Verzweifelt versuchte Estel, irgendwelche Erinnerungen in sich wach zu rufen. Er stellte sich vor, wie er über ein halb gepflügtes Feld ging, den Pflug hinter einem Gespann führend, doch kein Funken der Erinnerung wollte in ihm erwachen. Dann stellte er sich vor, er stünde in einem Wald, mit einer Axt in der Hand einen Baum fällend. Er konnte den Duft der Nadelbäume riechen und hörte die Vögel des Waldes singen. Er spürte die Erschütterung in seinem Arm, als die Axt den Baum traf. Er war sich sicher, daß er das schon einmal getan hatte. Mit großen Augen sah er Ibrahim an und sagte aufgeregt: „ Der Wald scheint mir vertraut und ich glaube mich zu erinnern, wie es ist, Holz zu fällen."
„ Hah! Siehst du, vielleicht warst du tatsächlich...Au!" Ibrahim unterbrach seinen Satz mit einem Schmerzensschrei, als die Peitsche des Aufsehers überraschend auf seinen Rücken klatschte. Auch Estel bekam einen Schlag ab und biß die Zähne zusammen. Er wollte dem Mann nicht die Genugtuung geben, ihn schreien zu hören.
„ Hört auf zu gackern wie die Weiber, ihr faulen Hunde! Der Herr ist an Bord gekommen und wir legen ab. Legt euch in die Riemen, ihr räudigen Kanalratten!" Mit harschen Worten und wohlgezielten Peitschenhieben trieb Bazhir die Männer an.
Die Sklaven packten die langen Ruder und im Rhythmus des Trommlers begannen sie die schwere Arbeit, das Schiff durch ihre Körperkraft voran zu treiben. Estel, dem dies alles ungewohnt war, hielt sich an Ibrahims Beispiel und dessen leise geflüsterte Anweisungen. Mit aller Kraft stemmte er seinen Oberkörper gegen das Ruder und drückte es so nach vorne und hinunter. Dann zog er das Ruder wieder zu sich heran indem er sich weit auf der Ruderbank zurück lehnte.
Immer und immer wieder tat er dies, im ewig gleichen Rhythmus. Estels Muskeln schmerzten und es schien ihm, als würde sein Rücken durchbrechen wollen. Die Sonne brannte heiß auf ihn hernieder und der Schweiß lief in Strömen an ihm herab. Am liebsten hätte er aufgegeben, die Peitsche des Aufsehers konnte ihm auch nicht mehr Schmerzen bereiten, als er jetzt schon verspürte. Doch er wußte, daß er nicht aufgeben konnte, denn nicht nur er selbst würde bestraft werden, sondern auch Ibrahim. Er trug Verantwortung für das Wohlergehen des Mannes, der ihm bisher nichts als Freundlichkeit erwiesen hatte. Niemand sollte wegen ihm leiden müssen und schon gar nicht Ibrahim! Dieser Gedanken setzte neue Energien in ihm frei und mit zusammengebissenen Zähnen ruderte er weiter.
Die Stunden vergingen und Bazhirs Peitschenhiebe schmerzten Estel immer mehr, da die heiße Sonne seinen Rücken verbrannt hatte. Wie lange würde er noch aushalten können, bis er besinnungslos über seinem Ruder zusammen brach?
Ibrahim mußte seinen Verzweiflung bemerkt haben, denn zwischen angestrengten Atemzügen flüsterte er: „ Nicht mehr lange, Estel. Wir sind bald da, da vorne ist schon die Bucht."
Wie in Trance ruderte Estel weiter. Alleine der Gedanke, bald ausruhen zu können gab ihm Hoffnung. Vom Anlegemanöver bekam er nicht viel mit und ließ sich später willenlos ab und wieder anketten. Auf dem Weg zu den Sklavenquartieren stolperte er mehr als er ging und hätte Ibrahim ihn nicht gezwungen, sich Essen zu besorgen und dann auch tatsächlich zu essen, so wäre einfach zu Boden gefallen und hätte geschlafen.
Doch Ibrahim hatte Recht, denn die Nahrung tat seinem Körper so gut, daß er bald wieder aufmerksamer wurde. Das bedeutete allerdings auch, daß er die höllischen Schmerzen in seinem Rücken wieder bemerkte. Ibrahim besah sich den Schaden und schüttelte besorgt den Kopf. „ Du bist ganz ordentlich verbrannt, mein Freund. Heute Nacht werde ich dir feuchte Tücher auflegen, das hilft etwas. Morgen werde ich deinen Rücken mit einer Paste einreiben, die dafür sorgt, daß sich die Haut auf deinem Rücken verhärtet und nicht mehr so leicht verbrennt. Im Übrigen schmerzen dann auch die Peitschenschläge nicht mehr so sehr."
Estel lächelte Ibrahim schwach an und legte sich dann so bequem, wie es eben ging, bäuchlings auf das Strohlager. Erschöpft wie er war, schlief er sofort ein.
Wie versprochen brachte Ibrahim die kühlenden Tücher und legte sie vorsichtig auf den geschundenen Rücken Estels. Als dieser im Schlaf leise aufseufzte, strich Ibrahim ihm leicht eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte leise: „ Du hast dich gut geschlagen, mein Freund. Ich glaube, in dir steckt mehr, als es den Anschein hat."
